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POLITIK/663: Keine EU-Strategie für echten Tierschutz und gegen industrielle Massentierhaltung (PROVIEH)


PROVIEH Ausgabe 01/2012
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Keine EU-Strategie für echten Tierschutz und gegen industrielle Massentierhaltung

von Sabine Ohm, Europareferentin



Am 19. Januar 2012 stellte Kommissar John Dalli die neue EU-Tierschutzstrategie vor. Sie folgt auf den Tierschutzaktionsplan 2006 bis 2010 und lässt bestenfalls eine mutlose Tierschutzpolitik der Europäischen Union bis 2015 befürchten.

Hohe Tierschutzstandards fördern die Gesundheit der Tiere und sind gut für die Landwirte und die Verbraucher, für die Lebensmittelsicherheit und die Umwelt. Das alles wird in der Strategie nicht erwähnt. Dadurch bleibt der Tierschutz als "lästiger, kostenintensiver Störfaktor" in der Landwirtschaft stigmatisiert.


Ökonomie vor Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz

Brisante Themen wie Klone und gentechnisch manipulierte Tiere werden in der Strategie nicht berücksichtigt. Und anstelle der überfälligen Überarbeitung der Transportverordnung 1/2005 wird es in den kommenden Jahren nur neue "Transportleitlinien" geben. Die höchst problematischen Konditionen bei Lebendtierexporten in Drittländer finden ebenfalls keinerlei Beachtung. Konkrete Pläne wie die Förderung höherer Tierschutzstandards durch eine Berücksichtigung bei öffentlichen Aufträgen (zum Beispiel beim Einkauf für Kantinen der öffentlichen Hand) fehlen, genau wie die Anerkennung der Notwendigkeit endlich in Haltungsformen zu investieren, in denen Tiergesundheit ohne den permanenten Einsatz von Antibiotika erreicht werden kann. Statt beherzt und ambitioniert den erklärten Willen fast aller EU-Bürger zu erfüllen und die Umstellung auf artgemäße, nachhaltige Tierhaltung voranzutreiben, werden in der Strategie vor allem Aspekte der Wirtschaftlichkeit und der Wettbewerbsfähigkeit betont. Angebracht wären dagegen eindeutige, strenge Gesetzestexte und saftige Sanktionen bei deren Nichteinhaltung.


Windelweiche Paragrafen anstelle von hartem Durchgreifen

Kommissar Dalli hatte in der Präsentation seiner Strategie angemerkt, dass "der Markt keine ausreichenden wirtschaftlichen Anreize zur Einhaltung der Vorschriften bietet." Dabei unternimmt die EU selbst zu wenig, um die Umsetzung der Gesetze zu kontrollieren und Verstöße spürbar zu sanktionieren. Die bestehenden Sanktionsmechanismen schöpft die Kommission gar nicht aus: Trotz überwältigender Beweislage zögert sie die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens weiter hinaus und bestraft die Verstöße immer noch nicht mit Kürzungen der Agrarsubventionen, obwohl PROVIEH seit 2009 ein Beschwerdeverfahren gegen die Nichteinhaltung der Schweinehaltungsrichtlinie in Deutschland führt.

In der neuen Strategie wird zwar festgestellt, dass Regelungen für die Haltung einiger Tierarten komplett fehlen, zum Beispiel für Milchkühe, Fleischrinder und Kaninchen. Abhilfe soll aber nicht geschaffen werden. Stattdessen ist bis 2014 "zur Vereinfachung" der Gesetzgebung ein allgemeines Tierschutzgesetz in Form einer Rahmenvorschrift geplant. Doch Vorsicht, eine solche Vereinfachung birgt die Gefahr der Verwässerung geltender Gesetze. Aus leidvoller Erfahrung wissen wir, dass bisher weder die allgemeine Anerkennung der Tiere als fühlende Lebewesen in den EU-Verträgen noch die Verankerung des Tierschutzes im deutschen Grundgesetz mehr Tierwohl gebracht haben.


Kein EU-Tierschutzlabel in Sicht

Begrüßenswert sind die in der Tierschutzstrategie vorgesehenen "weichen" Maßnahmen wie Tierschutzschulungen oder die "Kommunikation gegenüber den Verbrauchern". Aber eine EU-weit einheitliche Tierschutzetikettierung stieß auf Nachfrage von PROVIEH auch auf der Konferenz "Alle tragen Verantwortung" der EU-Kommission in Brüssel Ende Februar 2012 wieder auf Ablehnung. Das ist unverständlich angesichts der großen Erfolge der EU-Eierkennzeichnung und der EU- Bioetikettierung. Es gibt in den 27 Mitgliedsstaaten inzwischen über 250 verschiedene Qualitätslabel, die ganz oder teilweise auf Tierschutzaspekte abzielen. Wie sollen Verbraucher da noch verantwortungsvolle Entscheidungen treffen? Jedes Label hat eigene Standards. Es herrscht Verwirrung, die auch den Handel im Binnenmarkt stört. Eine einheitliche EU-Kennzeichnung, neben der private Label wie bei der Bioetikettierung durchaus weiterbestehen könnten, wäre dabei denkbar und wünschenswert. Sie wird aber von der Agrarindustrie abgelehnt und daher von der Kommission nicht befördert.


PROVIEH fordert: Bessere Kontrollen und mehr Agrarinvestitionsförderung für Tierschutz

Notwendig ist auch die angestrebte "Verbesserung der Instrumente zur Förderung der Einhaltung der rechtlichen Anforderungen seitens der Mitgliedstaaten". Doch deren Selbstkontrolle hat bisher offensichtlich versagt.

Während die EU und die Mitgliedsstaaten noch über Wettbewerbsverzerrungen durch ungleiche Auslegungen der EU-Paragrafen streiten und sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Kontrollen der Umsetzung von Tierschutzbestimmungen haben, breitet sich die industrielle Nutztierhaltung mit ihren qualvollen Haltungsbedingungen immer weiter aus. Ein beispielloser Boom von Massentierhaltungsanlagen überzieht ganz Europa, finanziell unterstützt mit Steuergeldern: Laut einer Studie des BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland aus 2011 ist der Bau großer Mastanlagen in Deutschland 2008 und 2009 mit je ca. 80 Millionen Euro bezuschusst worden. Statt in Tierschutzmaßnahmen werden Gelder weiterhin in Intensivtierhaltungsanlagen gepumpt, in denen geltendes EU-Recht nach anerkanntem Stand der Wissenschaft nicht eingehalten werden kann.

So darf es nicht weitergehen. Deshalb machte PROVIEH Anfang Januar 2012 die Agrarminister aller Bundesländer schriftlich auf die Missstände aufmerksam und forderte sie auf, endlich die bereitstehenden EU-Fördermittel in Milliardenhöhe zur Kofinanzierung von Tierschutzmaßnahmen abzurufen. Einige Landesministerien haben jetzt tatsächlich eine Neuausrichtung ihrer Agrarinvestitionsförderprogramme vor allem auf Tierschutzaspekte hin angekündigt. Besser spät als nie, denn die Fördergelder müssen bis spätestens zum Ende des laufenden EU-Finanzrahmens (2007-2013) in Anspruch genommen werden. Auch auf verbesserte Synergien zwischen der europäischen Tierschutzpolitik und der Agrarpolitik werden wir im Zuge der laufenden Verhandlungen über die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU weiter drängen.

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Quelle:
PROVIEH Ausgabe 01/2012, Seite 16-18
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
Tel.: 0431/248 28-0, Fax: 0431/248 28-29
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2012