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TIERVERSUCH/387: Der Mythos der Unverzichtbarkeit (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 144 - Juni/Juli 08
Die Berliner Umweltzeitung

KOLUMNE
Der Mythos der Unverzichtbarkeit

Oliver Nowak


Der Java-Affe, Zeit seines Lebens allein und isoliert in einem sterilen Käfig gehalten, kommt zunächst "nur" für einige Stunden täglich zur "Sonderbehandlung". Dazu wird er in einem so genannten Affenstuhl fixiert, in dem er sich nicht bewegen kann. Man zwingt ihn, bis zu acht Stunden auf einen Punkt eines Bildschirms zu starren - zur Belohnung bekommt die Durst leidende Kreatur ein paar Tropfen Flüssigkeit durch einen Schlauch eingeführt. Nach zwei Jahren "Training" wird dem Affen ein Stahlbolzen in die Schädeldecke gesetzt und mit Dentalzement befestigt. Der Bolzen dient dazu, den Kopf des Tieres unbeweglich festzuschnallen, während er stundenlang auf den Bildschirm starren muss. Im dritten Jahr sägen ihm die Forscher bei lebendigem Leibe zwei Löcher in die Schädeldecke, um sein Gehirn besser beobachten zu können. Ein Einzelfall? Ausgeburt der Phantasie eines Horrorautors? Nein - Routine in den Forschungslabors weltweit.

Katzen mit zugenähten Augen oder Elektrodenplatten in der Schädeldecke, genmanipulierte Ratten und Mäuse, verätzte Kaninchen und vergiftete Hunde - üblicher Alltag in den der Öffentlichkeit weitgehend verborgenen Folterkellen der Weißen Kittel. Dass Tierversuche grausam sind, dafür besteht für die meisten wohl kein Zweifel. Doch Bedenken werden für gewöhnlich mit dem Hinweis auf deren "Unverzichtbarkeit" weggewischt. "Wenn ich eine schwere Krankheit bekomme, brauche ich ja Medikamente" - so oder ähnlich denken wahrscheinlich viele. Und die Protagonisten der Tierversuchs-Industrie tun ihr Bestes, um diesen Mythos zu bekräftigen. Dabei ist dies eine Lüge.

Beim genaueren Hinsehen wird nämlich klar, dass Tierversuche nicht nur uneffektiv und hinderlich für den medizinischen Fortschritt sind. Im Gegenteil: Sie schaden der Gesundheit der menschlichen Patienten - nur dass davon nichts in den Hochglanzmagazinen der Forschungsinstitute steht.

Darum überzeugt das Argument der Tierversuchs-Befürworter nicht, nur die Tierquäler in weißen Kitteln selbst könnten angeblich über die Nützlichkeit der Tierversuche urteilen. Das ist etwa so, als ob George Bushs Militärstab die Deutungshoheit über Sinn und Verhältnismäßigkeit des Krieges im Irak zugesprochen bekäme öder die deutsche Atom-Lobby der Fachmann für die Abschaltungsdebatte über die AKWs wäre. Wir wollen uns darum die fadenscheinige Argumentation der Tierversuchs-Befürworter etwas genauer ansehen.

So wird oft gesagt, dass Tierversuche einfach zur Geschichte und Praxis der Medizin dazugehörten. Dies ist insofern richtig, als dass der antike Arzt Galenus die Methode der Tierversuche zur Säule der medizinischen Forschung erhob. Verbunden mit dem kirchlichen Verbot, menschliche Leichen zu sezieren, wurde diese Behauptung im europäischen Mittelalter zum nicht hinterfragten Leitsatz. Demnach beruhte medizinisches Wissen und Fortschritt auf der Annahme, man könnte die Wirksamkeit von Medikamenten, Substanzen und Behandlungsmethoden erfolgreich an Tieren testen, so dass sie danach unbedenklich auf den menschlichen Patienten angewandt werden konnten. So absurd und naiv dieser Gedanke anmutet - im Prinzip ist er immer noch Leitsatz der Tierversuchsbefürworter.

Doch das ist falsch. Die meisten modernen Operationstechniken und Medikamente wurden nicht im Tierversuch ermittelt, so zum Beispiel Acetylsalicylsäure gegen Fieber, Phenobarbital als Schlaf- oder Epilepsiemittel oder die Wirkung von Vitamin C gegen Skorbut. Die Steigerung der menschlichen Lebenserwartung ist in erster Linie durch den Rückgang der Infektionskrankheiten bedingt. Hierbei sind die Verbesserung sanitärer Einrichtungen und Hygiene oder gesündere Ernährung viel wichtiger. So entdeckte der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis die Bedeutung steriler Operations- und Geburtshilfepraktiken zur Verhinderung des Kindbettfiebers gänzlich ohne Tierversuche. Außerdem sind für die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit in Teilen unseres Planeten zum größten Teil Armut, Unterernährung und soziale Ungleichheit verantwortlich, nicht der Mangel an Medikamenten und Impfungen.

Die Nützlichkeit von Tierversuchen bei der Entdeckung der Wirkung verschiedener Impfstoffe war entgegen weit verbreiteter Annahmen sehr gering. Zwar experimentierten etwa Louis Pasteur und Robert Koch mit Tieren. Doch ihre bahnbrechenden Erkenntnisse wurden durch den Tierversuch oftmals scheinbar widerlegt. So waren etwa Pasteurs erste "geheilte" Tollwut-Patienten gar nicht infiziert, denn nur in einem Prozent aller Fälle erkranken die Gebissenen an Tollwut. Pasteurs Methode half nämlich nur bei Tieren und die Impfung kontaminierter Tierzellen ruft bei Menschen oftmals fatale Folgen hervor. Heutzutage werden die Impf-Viren gegen Tollwut deswegen überwiegend aus menschlichen Zellinien gezüchtet. Auch Tuberkolose nimmt bei Tieren einen ganz anderen Verlauf als bei Menschen - so starben zum Beispiel Meerschweinchen, Mäuse und Affen an den Tuberkulose-Impfungen Robert Kochs. Die wichtigen Erkenntnisse Pasteurs und Kochs wären nach heutigen Maßstäben anhand der misslungenen Tierversuche gar nicht möglich - erst durch klinische Untersuchungen und die behutsame Behandlung der menschlichen Patienten wurden sie in der Medizin etabliert!

Außerdem: Trotz jahrzehntelanger Forschung an Tieren ist es nicht gelungen, moderne Zivilisationskrankheiten und Epidemien wie Krebs und AIDS zu heilen. Doch statt in Aufklärung über Verhütungsmethoden, Ernährungs- und Lebensgewohnheiten zu investieren, werden lieber weiter Millionen Tiere im Labor gequält. Die perverse Logik: Wir fressen, saufen, rauchen und stressen uns zu Tode und hoffen, dass die Weißen Kittel uns rechtzeitig ein Heilmittel herbeifoltern.

Eine weitere Mär ist die angebliche Unverzichtbarkeit von Tierversuchen bei der Risikoabschätzung von Medikamenten und Kosmetika. Es wurden alle Medikamente, deren Schädlichkeit oder tödliche Folgen für den Menschen man im Nachhinein erkannte, zuvor an Tieren getestet. Waren es blindmachende Herzmittel wie Eraldin, blutschädigendes Antibiotika wie Chloramphenicol, das zu Missbildungen bei Kindern führende Schlafmittel Contergan oder alle anderen Medikamentenskandale - immer war vorher deren "Unbedenklichkeit" im Tierversuch "erwiesen" worden! Es ist schlichtweg ein Irrglaube, dass die Stoffkreisläufe von Mäusen, Ratten oder auch Primaten genauso funktionieren wie beim Menschen. So ist etwa Arsen selbst in großen Dosen für Schafe ungefährlich, Aspirin hingegen ruft Geburtsdefekte bei Hunden und Primaten hervor und ist für Katzen tödlich. Penicillin bringt Meerschweinchen um und Strychnin ist für Primaten harmlos.

Auch wenn die Wahrheit unbequem ist: Der Beweis für die Wirksamkeit eines Medikaments kann letztendlich nur durch vorsichtige Anwendung bei einzelnen Patienten erbracht werden. Dafür freilich haben die Arzte und Forscher heutzutage kaum noch Zeit, sitzen ihnen doch profitorientierte Konzerne im Nacken, die möglichst schnell Medikamente lukrativ verkaufen wollen und dafür den "Unbedenklichkeits-Stempel" brauchen. Tierversuche befreien die Medikamenten-und Kosmetikkonzerne von ihrer Haftbarkeit, aber sie garantieren mitnichten die Sicherheit der Mittel. Rücksichtsloses Kommerzdenken war Ursache des Contergan-Skandals, nicht etwa zu wenig Tierversuche!

Doch in Universitäten und Forschungsinstituten wird weiter in alten, blutigen Gleisen gefahren, obwohl die Alternativen seit Jahrzehnten auf der Hand liegen: In-vitro-Verfahren, also Tests im Reagenzglas, sind weitaus zuverlässiger, aussagekräftiger und kostengünstiger. Für den Medikamenten-Test sind Bakterienkulturen oder menschliche Zell- und Gewebestrukturen nutzbar, die aus Operationen zur Verfügung stehen, sowie künstliche Haut- und Blutzellen. Außerdem ist etwa im Falle von Krebserkrankungen die Forschung an den Ursachen wesentlich billiger und Erfolg versprechender als teure und grausame Tierversuche. Deren "Unverzichtbarkeit" für Forschung und Fortschritt in Medizin ist ein Mythos. Tierversuche sind nicht nur grausam, sondern auch unnötig. Darum muss den weißbekittelten Folterknechten nicht nur der barbarisch-intellektuelle Heiligenschein vom Kopf gerissen werden, sondern auch das Skalpell und der Bohrer aus der Hand!

www.aerzte-gegen-tierversuche.de
www.datenbank-tierversuche.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Affe mit eingepflanzter Elektrode (Foto: novivisezione)
Vergiftete Ratte (Foto: PETA)
Zugenähte Augen und eingepflanzter Sonarsender (Foto: PETA)


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Quelle:
DER RABE RALF - 19. Jahrgang, Nr. 144, Juni/Juli 08, S. 14
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
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Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2008