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TIERVERSUCH/680: Chancen und Hindernisse neuer Verfahren (tierrechte)


tierrechte 1.16 - Nr. 74, März 2016
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Chancen und Hindernisse neuer Verfahren


Lesen Sie, warum es immer noch so viele Tests an Affen gibt, welche Hindernisse bei der Entwicklung neuer tierversuchsfreier Methoden zu überwinden sind und welche Forschungsinitiativen in eine Zukunft ohne Tierversuche weisen.


Der Hauptgrund, warum so viele Affen in den Tierversuch gehen ist, dass es derzeit noch keine praxisreifen tierversuchsfreien Verfahren gibt, um die gesetzlich vorgeschriebenen Giftigkeitsprüfungen durchzuführen. Gesetzlich anerkannt wurden bislang nur Verfahren zur lokalen Toxizität wie z.B. Haut- und Augenreizungstests. Für den Bereich der systemischen Toxizität, die die Auswirkungen auf den gesamten Organismus untersuchen, fehlen ausgereifte Methoden ohne Tiereinsatz völlig. Die Tierversuche werden jedoch erst dann sicher beendet, wenn tierversuchsfreie Verfahren für den jeweiligen Bereich entwickelt, in die Prüfvorschriften aufgenommen und die bisher vorgeschriebenen Tierversuche in der Prüfvorschrift gestrichen wurden.


Schwer zu simulieren: die Fortpflanzung

Das Kernproblem bei der Entwicklung neuer tierfreier Testmethoden ist die Nachbildung der komplexen Vorgänge und Wechselwirkungen im Körper. Beispiel Fortpflanzung: Die Untersuchung einer möglichen schädlichen Wirkung einer Substanz auf die Reproduktion (Fruchtbarkeit und Nachkommen) besteht aus unzähligen Bausteinen wie Störung der männlichen und weiblichen Fruchtbarkeit, Schädigungen der Organ-Entwicklung der Nachkommen, etc. Diese Versuche werden nicht nur mit Ratten, sondern auch mit Kaninchen und in Sonderfällen mit Rhesus- oder Javaneraffen gemacht. Nach Erfahrungen wie dem Contergan-Skandal schreibt der Gesetzgeber zusätzlich zu den Tests an Nagetieren auch Versuche an weiteren Tierarten vor. Der Grund: Der Contergan-Wirkstoff Thalidomid hatte bei Nagern keine Auswirkungen, beim Menschen jedoch zu gravierenden Missbildungen geführt.


Problem: Kurze Lebensdauer von Zellkulturen

Abgesehen von der Mammutaufgabe, die komplizierten systemischen Auswirkungen auf die Entwicklung der Nachkommen abzubilden, stehen Wissenschaftler bei der Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren auch vor ganz profanen Problemen: In der Langzeittoxizität dauern die Untersuchungen teilweise über ein Jahr und länger. Bislang können Zell- oder Organkulturen jedoch nur rund vier Wochen genutzt werden, um zuverlässige Messergebnisse zu erzielen. Ähnliche Probleme gibt es bei der Entwicklung tierversuchsfreier Verfahren in Bereich der sogenannten Pharmakokinetik. Sie prüft Aufnahme, Verteilung, Um- und Abbau sowie Ausscheidung von Arzneimitteln oder Chemikalien im Organismus. Hier gibt es zwar In-silico-Ansätze, also Computersimulations- bzw. Vorhersageprogramme, doch bislang ist der Tierversuch in den gesetzlichen Vorschriften noch vorgeschrieben. Problematisch bei diesen Programmen ist, dass die Qualität der Daten, die diesen zugrunde liegen, zum Teil fragwürdig sind, weil sie in Teilen auf Tierversuchsdaten und nicht auf humanspezifischen Daten basieren.


Giftigkeitstests am Organchip

Ein kleiner Chip könnte hier zukünftig eine große Wirkung erzielen: Die sogenannte Human-on-a-Chip-Technologie. Sie ermöglicht die Giftigkeitsprüfungen in der systemischen Toxizität ohne Tiere. Ihr Ziel ist es, zukünftig alle Giftigkeitstests ohne Tierversuche durchführen zu können. So kann schon jetzt die Zahl der Tierversuche in diesem Bereich deutlich reduziert werden. Bei dieser neuen Technologie werden die wichtigsten menschlichen Organe im Miniaturformat auf einem bankkartengroßen Chip abgebildet. So können die Organreaktionen des menschlichen Organismus in mehrwöchigen Giftigkeitstests simuliert werden. Bis 2018 will das Unternehmen TissUse die zehn wichtigsten menschlichen Organe oder mehr auf einem bankkartengroßen Chip abbilden können. Die ersten Validierungsstudien sollen 2018 beginnen, wenn zehn oder mehr Organe auf dem Chip vereint sind. Die Industrie hat ein großes Interesse an dieser neuen Technologie, weil sie damit tausende Proben in kürzester Zeit testen kann. Wenn die Technologie ausgereift ist, haben die Organsysteme das Potenzial, auch viele Tierversuche im Bereich der Grundlagenforschung zu beenden - ein Quantensprung für die Entwicklung der tierversuchsfreien Forschung.


ReProTect: Forschungsprogramm kombiniert Einzeltests

Führend bei der Entwicklung von tierversuchsfreien Verfahren im Bereich der Reproduktionstoxikologie war das EU-Projekt ReProTect. Von 2009 bis 2015 arbeiteten 35 Partner aus Forschung, Industrie und Regierungsinstitutionen an der Entwicklung neuer tierfreier Verfahren. Das Ergebnis: Bisher gibt es eine Vielzahl an Einzeltests. Die schädliche Wirkung auf die weibliche und männliche Fruchtbarkeit von Säugetieren kann bisher in 15 tierfreien Verfahren untersucht werden. Die Tests vermögen bisher jedoch noch nicht die komplexen Mechanismen der Reproduktionstoxikologie nachzubilden, sie können bisher nur einzelne Aspekte des Reproduktionszyklus simulieren.


Seurat: Entwicklung von tierversuchsfreien Langzeittests

Das von Tierschutzorganisationen erreichte EU-weite Vermarktungsverbot tierexperimentell getesteter Kosmetik bewirkte einen regelrechten Aufschwung für tierversuchsfreie Testverfahren. 2009 gründete sich die Forschungsinitiative Seurat. Sie erforscht mögliche tierfreie Testverfahren zur Untersuchung der systemischen Toxizität eines Stoffes. Erfolgreiche Teststrategien können auch außerhalb des Kosmetikbereichs genutzt werden und zur Ablösung des Tierversuchs beitragen, wie z. B. in der Pharmaforschung, Nahrungsmittelproduktion und der Sicher heitsbewertung von Chemikalien, Bioziden und Pestiziden.


Computer-Vorhersagemodelle

Es gibt derzeit auch noch kein tierfreies Modell, das die behördlich geforderten Untersuchungen zu Pharmakokinetik und Stoffwechsel sowie die komplexen Interaktionen von Organsystemen ausreichend abbilden oder vorhersagen kann. Es wird aber an entsprechenden Computer-Vorhersagemodellen gearbeitet. Mit Hilfe von Computerprogrammen (z.B. von der Firma PharmaInformatik) lassen sich Tierversuche reduzieren. Nach Angaben des Herstellers sind die Vorhersagen des Expertensystems präziser als präklinische Versuche an Tieren. Das Modell ist derzeit noch nicht offiziell anerkannt, wird aber von einigen Firmen schon hausintern genutzt. Um das Risiko unzuverlässiger Daten bei computerbasierten Vorhersagemodellen auszuschalten, engagieren sich Pharmakonzerne bei dem Projekt eTOX. Dieses soll genauere in silico-Vorhersagemodelle für toxische Reaktionen ermöglichen.


Vielversprechend: EU-Projekt ToxRisk

Die kosmetische Industrie investiert in tierversuchsfreie Verfahren. So hat 'Cosmetics Europe' zur Beteiligung an einer langfristigen Wissenschaftsstrategie (2016-2020) aufgerufen und beteiligt sich an dem neuen Forschungscluster EU-ToxRisk. Dieser internationale Zusammenschluss von Universitäten, Forschungseinrichtungen, Großindustrie, Mittelstand und Regulationsbehörden hat bereits 30 Millionen Euro für die kommenden sechs Jahre eingeworben. EU-ToxRisk schließt an die Ergebnisse von ReproTect und Seurat an und will tierversuchsfreie Methoden zur Untersuchung der Langzeit-, Entwicklungs- und Reproduktionstoxikologie nutzbar machen. Sobald sich die Methoden in sogenannten Machbarkeitsstudien als anwendbar erwiesen haben, können sie auch in anderen Bereichen Tierversuche ablösen, beispielsweise im Arzneimittelbereich.


Forschungserfolge strahlen auf andere Bereiche aus

Die Wissenschaft ist auf dem Weg, es dauert jedoch noch, bis tierversuchsfreie Verfahren für den hochkomplexen Bereich der Toxikologie den Tierversuch komplett ablösen werden. Auch die Industrie arbeitet an humanspezifischen Verfahren und sucht nach tierversuchsfreien Lösungen für die komplizierten systemischen Untersuchungen. Erfreulicherweise schließt das EU-ToxRisk-Projekt ab 2016 nahtlos an die Ergebnisse der Projekte ReproTect und Seurat an, mit dem konkreten Ziel, Machbarkeitsstudien zu erarbeiten. Dieser Schritt kann die Entwicklung tierfreier Verfahren für die hochkomplexen Teilbereiche der systemischen Toxizität entscheidend voranbringen. Denn sind die Verfahren erst einmal entwickelt und haben sich als anwendbar erwiesen, können sie oft auch in Forschungsbereichen jenseits der Toxikologie - wie der Grundlagenforschung und der Nahrungsmittelproduktion etc. - dazu beitragen, Tierversuche zu beenden.

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Quelle:
tierrechte 1.16 - Nr. 74/März 2016, S. 8-9
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
tierrechte erscheint viermal jährlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2016

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