Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2019
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V
Warum werden Entwicklungsneurotoxizitäts-Tests gemacht?
von Dr. Claudia Gerlach und Dr. Christiane Hohensee
Während der Schwangerschaft und auch darüber hinaus kann es zu vielfältigen Schädigungen der Nervenzellentwicklung kommen. Um Schäden am Nervensystem zu vermeiden, sind Tests auf Entwicklungsneurotoxizität (ENT) notwendig. In den Tests werden zahlreiche Ratten eingesetzt. Doch diese sind ungeeignet, um sichere Vorhersagen zu machen.
Chemikalien können Teilung, Differenzierung oder Bewegung der
Nervenzellen (Neuronen) hemmen. Diese Störungen zeigen sich später
häufig in Lernschwächen, Entwicklungsverzögerungen, Störungen aus dem
Autismus-Spektrum sowie Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Als äußere Ursachen werden sowohl
Umweltchemikalien als auch Arzneimittel vermutet.
Aktuell ist eine Zunahme solcher neurologischen Störungen zu verzeichnen. Zwar sind sie auf eine Kombination aus mehreren Ursachen zurückzuführen, darunter erbliche Veranlagung, Umweltstressoren und sozioökonomische Faktoren. Doch sowohl Labor- als auch Humanstudien haben gezeigt, dass der Einfluss schädlicher Chemikalien signifikant zu den Auswirkungen beitragen kann. Ziel der ENT-Tests ist es, Chemikalien zu identifizieren, die das Nervensystem dauerhaft oder reversibel beeinträchtigen, chemisch bedingte Veränderungen im Nervensystem zu charakterisieren und die Dosierungen für regulatorische Anwendungen zu bestimmen.
Derzeit werden hierzu Tierversuche an Ratten durchgeführt. Sie gelten immer noch als Goldstandard, obwohl sie, abgesehen vom ethischen Aspekt, bezüglich des Zeit- und Kostenaufwands unzureichend sind. Hinzu kommt, dass die Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen aufgrund der Artunterschiede nicht oder nur eingeschränkt möglich ist.
Gehirne von Nagetieren und Menschen unterscheiden sich deutlich in Größe und Organisation (siehe Abb. unten), und insbesondere in der strukturellen und funktionellen Anordnung des Kortex (Großhirnrinde). Als ein Grund für die menschliche Intelligenz wird die erhöhte kortikale Größe und komplexe Strukturierung durch Furchen und Windungen angenommen. Nagetieren fehlt diese Strukturierung. Außerdem unterscheidet sich die Zellarchitektur. So fehlt zum Beispiel eine Hirnschicht, die granuläre Schicht IV, die bei Primaten hingegen gut ausgebildet ist. Auch wenn sonst die Anordnung der Hauptzelltypen auf der mikroskopischen Ebene ähnlich ist, ist bei Menschen die funktionale Vielfalt größer.
Kürzlich wurde festgestellt, dass menschliche Neuronen, im Vergleich zu denen der Ratte, elektrische Signale auf andere Weise übertragen, was vermutlich die Leistung einzelner Neuronen und insgesamt die kognitiven Funktionen erhöht.
Auch Speziesunterschiede bei der Hirnreifung machen einen Vergleich schwierig. Bei der Neurogenese, der Bildung von Nervenzellen, stimmen bei Ratten die Tage 18 und 21 nach Befruchtung mit den Wochen 8 bis 9 beziehungsweise 15 bis 16 bei Menschen überein. Das Timing unterscheidet sich jedoch erheblich zwischen den Hirnregionen. Außerdem weist die Signalübertragung bei der neurologischen Entwicklung im Menschen einzigartige Merkmale auf. Darüber hinaus gibt es viele Beispiele für artspezifische Unterschiede in der molekularen Ausstattung von Zellen, die die Wirkung von Substanzen bestimmen können.
So wurden bedeutende Artunterschiede bei der Entwicklungsneurotoxizität zwischen Nagetier und Mensch mit in-vitro-Testsystemen gefunden. Das Forscherteam von Prof. Ellen Fritsche vom Institut für umweltmedizinische Forschung in Düsseldorf untersuchte mit sogenannten Neurosphären von Mensch und Maus den Einfluss von pharmakologisch wirksamen Stoffen, darunter Umweltchemikalien, auf die Frühentwicklung des Gehirns. Die Vorläuferzellen zeigten zum Beispiel unterschiedliche Reaktionen auf das Schilddrüsenhormon T3. Bei der Maus - nicht aber beim Menschen - fördert es die Differenzierung von Gliazellen. Als Gliazellen werden alle Zellen des Nervensystems bezeichnet, die Nervenzellen unterstützen, selbst aber keine Nervenzellen sind.
Das Flammschutzmittel Pentabromdiphenylether (BDE-99) reduzierte beispielsweise je nach Konzentration die Bildung von Gliazellen bei Mensch und Maus, wobei die menschlichen Zellen siebenmal empfindlicher waren. Ascorbinsäure wirkte diesem Verlust nur in menschlichen, nicht aber in den Mauszellen entgegen, was auf unterschiedliche Wirkmechanismen von BDE-99 in den Spezies hinweist. Diese Beispiele verdeutlichen die eingeschränkte Vorhersagekraft von Nagetierversuchen für die ENT bei Menschen.
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Die Gehirnentwicklung im Überblick
Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist ein äußerst komplexer und
sensibler Vorgang. Wird der Embryo beziehungsweise der Fötus oder das
Kind in den entscheidenden Phasen einer schädlichen Substanz
ausgesetzt, kann es leicht zu Störungen kommen. Die Entwicklung des
Gehirns beginnt etwa ab der dritten Woche nach der Empfängnis. Die
sogenannte Keimscheibe gliedert sich zunächst in zwei embryonale
Keimblätter: Ektoderm und Entoderm. Das dritte Keimblatt, das
Mesoderm, entsteht um den 15. Tag durch Einwanderung von
Ektodermzellen in die Mitte der Keimscheibe und der dadurch gebildeten
Primitivrinne. Von der Primitivrinne ausgehend wird auch die Anlage
des Nervensystems, das sogenannte Neuralrohr angeregt. Das hintere
Ende des Neuralrohrs wird später zum Rückenmark. Am vorderen Ende
lösen sich Zellgruppen ab und bilden die Neuralleisten des Kopfes. Das
rohrähnliche System verändert sich nun durch eine Welle migrierender
Neuroblasten, die Vorläufer-Nervenzellen. Das Neuralrohr krümmt sich
am Kopf-Ansatz und bläht sich zunächst in drei, dann in fünf
Hirnbläschen auf: Das Telencephalon (Endhirn, später Großhirn),
Diencephalon (Zwischenhirn), Mesencephalon (Mittelhirn), Metencephalon
(Hinterhirn, später Pons, Kleinhirn) und Myelenencephalon (Nachhirn,
später Markhirn).
90 Milliarden Neuronen
Jeder dieser Bereiche besitzt Zonen, in denen Neuronen und Gliazellen
erzeugt werden. Die Zellen wandern anschließend zu ihren endgültigen
Positionen. Die Kortikalplatte, Vorläufer der Hirnrinde (Kortex),
wächst von etwa einer Milliarde Zellen in der 13.
Schwangerschaftswoche auf ungefähr sechs Milliarden in der 20. Woche
an. Sobald sich die Neuronen positioniert haben, sprießen ihre Axone,
die Fortsätze der Nervenzellen, die elektrische Nervenimpulse vom
Zellkörper weg leiten. Die Axone navigieren durch das Gehirn, wobei
sie sich verzweigen und Synapsen bilden. Neuronen und Synapsen werden
in vielen Regionen übermäßig produziert, später werden die nicht
benötigten abgebaut.
Hirnentwicklung bis zum 20. Lebensjahr
Mit der Geburt ist die Entwicklung des Gehirns nicht abgeschlossen. Zu
diesem Zeitpunkt ist zwar die große Mehrheit der Neuronen vorhanden,
die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns hält aber bis um das 20.
Lebensjahr an und beruht unter anderem auf der enormen Zunahme der
Nervenzellverbindungen. Wissenschaftler gehen heute von etwa 86
Milliarden Neuronen im ausgewachsenen Gehirn aus. Die komplexen
Vorgänge von Teilung, Differenzierung, Migration und Verbindung von
Neuronen sind sehr anfällig gegenüber äußeren Einflüssen.
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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2019, S. 5-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2019
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