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ATOM/1190: Anforderungen an Endlagersicherheit beruhen auf vier Jahrzehnte alten Risikoschätzungen (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 694-695 / 29. Jahrgang, 3. Dezember 2015 - ISSN 0931-4288

Atommüll
Die Anforderungen an die Endlagersicherheit beruhen auf vier Jahrzehnte alten Risikoschätzungen und sollen im Wesentlichen beibehalten werden

Von Thomas Dersee


Die vom Bundesumweltministerium im Jahr 2010 deklarierten Sicherheitsanforderungen für die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle(1) entsprechen heute noch weitgehend dem Stand von Wissenschaft und Technik und sollten nur in Teilen überarbeitet und konkretisiert werden. In dieser Einschätzung waren sich die zu einer öffentlichen Anhörung der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe (Endlagerkommission) am 19. November 2015 geladenen Experten einig, betont die Pressestelle des Deutschen Bundestages in ihren Parlamentsnachrichten.

Im Rahmen eines künftigen Genehmigungsverfahrens für ein Endlager werde die zuständige Behörde prüfen müssen, ob die Schadensvorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik durch den Vorhabenträger getroffen wurde, erklärte Peter Hart, Leiter der Unterabteilung Reaktorsicherheit (RS) III "Nukleare Ver- und Entsorgung" im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Für diese Prüfung sollen die Sicherheitsanforderungen konkretisiert werden, betonte er. Gleichzeitig stellten sie auch die Anforderungen für die periodischen Sicherheitsüberprüfungen dar. Für das Standortauswahlverfahren könnten die Sicherheitsanforderungen jedoch keine Antwort geben, sagte der BMU-Vertreter. Sie seien dennoch für das Verfahren nicht irrelevant, weil die Genehmigungsfähigkeit eines Endlagers an allen infrage kommenden Standorten erwartbar sein müsse.

Barbara Reichert, Vorsitzende des Ausschusses Endlagerung radioaktiver Abfälle (EL) der Entsorgungskommission (ESK) regte an, die in den Sicherheitsanforderungen enthaltene Regelung der vereinfachten radiologischen Langzeitaussage zu ändern. In der jetzigen Form seien in den Sicherheitsanforderungen keine genaueren Vorgaben zur vereinfachten radiologischen Langzeitaussage enthalten. Hier bestehe eindeutig Bedarf für eine Konkretisierung, etwa in Form von Leitlinien, meinte sie. Bei den in den Sicherheitsanforderungen enthaltenen Wahrscheinlichkeitsklassen, die von wahrscheinlichen, weniger wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Entwicklungen des Endlagersystems ausgehen, sei eine solche Einteilung "international üblich".

Es sei "erkenntnistheoretisch sinnvoll, praktikabel und international üblich", zu einem Szenarium jeweils anzugeben, wie wahrscheinlich es ist, betonte auch Klaus-Jürgen Röhlig, Mitglied des Ausschusses Endlagerung radioaktiver Abfälle (EL) der Entsorgungskommission (ESK). Röhlig verwies auf die in den Sicherheitsanforderungen von 2010 aufgeführten Anforderungen an den einschlusswirksamen Gebirgsbereich (ewG), der als tiefliegende Schicht nicht den Veränderungen der oberen Erdschichten oder der Biosphäre unterliegen würde. Dazu gehöre die Einschlusswirksamkeit. Es seien "allenfalls geringfügige Freisetzungen von Schadstoffen" aus dem ewG zugelassen, sagte Röhlig. Entscheidend sei aber die Forderung, "dass diese Einschlusswirksamkeit über eine Million Jahre erhalten wird".

Die Anforderungen an den ewG seien sehr streng, meinte Jörg Mönig, Leiter des Bereichs Endlagersicherheitsforschung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH. Die Indikatorwerte für das Sicherheitsniveau lägen ganz deutlich "auf der ganz strengen Seite der Bandbreite, die international angewendet wird". Die benötigte Überarbeitung der BMU-Sicherheitsanforderungen sollten seiner Ansicht nach erfolgen, "wenn alle noch laufenden Projekte im Bereich Forschung und Entwicklung, bei den die prinzipielle Anwendbarkeit der Sicherheitsanforderungen auf die verschiedenen möglichen geologischen Situationen in Deutschland überprüft wird, abgeschlossen und ausgewertet sind". Zeitdruck, so Mönig, gebe es nicht. "Wir haben die Zeit, um das sorgfältig zu machen."

Anne Eckhardt, Geschäftsführerin und Projektleiterin bei der schweizerischen risicare GmbH, sah Änderungsbedarf im Geltungsbereich der Sicherheitsanforderungen, der sich auf die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle beschränke. Die Ansprüche, so Eckhardt, hätten sich jedoch seit 2010 weiterentwickelt. Daher regte sie an, den Geltungsbereich für Themen wie Rückholbarkeit der Abfälle, Monitoring und dauerhafte Markierung zu öffnen.

Gerald Kirchner, ehemaliger Leiter des Fachbereichs "Strahlenschutz und Umwelt" beim Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), bewertete die Indikatorwerte der Sicherheitsanforderungen als "sehr ambitioniert im internationalen Bereich". Sie stellten sicher, dass das radiologische Risiko für künftige Generationen "nach heutigem Wissensstand vernachlässigbar klein bleibt".

Kommentar

Am 30. September 2010 hatte das Bundesumweltministerium mit den Ländern über die "Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle" abschließend beraten. Im Juli 2009 hatte zuvor der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) diese Anforderungen veröffentlicht, kurz vor dem Regierungswechsel und ohne Beteiligung der Länder. Die Autoren blieben anonym. Kriterium für die Langzeitsicherheit sollte 2010 nun weiterhin ein Zeitraum von einer Million Jahre sein und die Behälter müssten über einen Zeitraum von 500 Jahren zurückgeholt werden können, heißt es. Der bisher erarbeitete Stand werde "im Dialog mit den Ländern weiterentwickelt".

In einer nicht öffentlichen Kungelrunde wurden die Sicherheitskriterien für ein Endlager nun genau auf das umstrittene geplante Endlager in Gorleben zugeschnitten, kritisierte Greenpeace damals nach einer Analyse des Papiers. Auf einer Sondersitzung des Länderausschusses für Atomenergie habe man sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf Änderungen der bisherigen Regelungen geeinigt, die die Sicherheitsanforderungen absenken. In diesem Ausschuss saßen nur Vertreter der fünf schwarz-gelben Atom-Bundesländer. Den Vorsitz hatte Gerald Hennenhöfer, ehemaliger E.ON-Manager und ab Dezember 2009 Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit und Cheflobbyist der Atomkonzerne im Bundesumweltministerium.(2)

In der Fassung aus dem Jahre 2009 hatte das Bundesumweltministerium die Forderung deklariert, daß bei dem erwarteten Austreten von Radioaktivität "für wahrscheinliche Entwicklungen das vom Endlager ausgehende zusätzliche Risiko eines Menschen kleiner als 10-4 ist, im Laufe seines Lebens einen schwerwiegenden Gesundheitsschaden (...) zu erleiden". Das heißt, einer von 10.000 (1:10.000) darf an Krebs erkranken. Und für "weniger wahrscheinliche Entwicklungen" sollte ein Risiko bis 10-3 zulässig sein. Das heißt, auch bereits einer von 1.000 (1:1.000) Menschen darf Krebs bekommen, wobei "das gleichzeitige Auftreten mehrerer unabhängiger Fehler nicht zu unterstellen" sei, gaben die Sicherheitsanforderungen des Bundesumweltministeriums vor. Diese Kriterien sollten als erfüllt gelten, hieß es 2009 weiter, wenn "aus den am Rande des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs freigesetzten radioaktiven Stoffmengen für Einzelpersonen der Bevölkerung keine effektive Dosis größer als 0,1 mSv im Kalenderjahr resultieren kann". Über die vorgegebenen 1 Million Jahre hinweg ist das eine Gesamtdosis von 100 Sievert (Sv).(3)

Seit 2010 heißt es stattdessen nun in den Sicherheitsanforderungen: "Für die Nachverschlussphase ist nachzuweisen, dass für wahrscheinliche Entwicklungen durch Freisetzung von Radionukliden, die aus den eingelagerten radioaktiven Abfällen stammen, für Einzelpersonen der Bevölkerung nur eine zusätzliche effektive Dosis im Bereich von 10 Mikrosievert im Jahr auftreten kann." Das bezeichnen die Autoren der Sicherheitsanforderungen in Anlehnung an eine Publikation der Internationalen Strahlenschutzkommission von 2007 (ICRP-Publication 104) als "triviale Dosis". Und weiter heißt es: "Für weniger wahrscheinliche Entwicklungen in der Nachverschlussphase ist nachzuweisen, dass die durch Freisetzung von Radionukliden, die aus den eingelagerten radioaktiven Abfällen stammen, verursachte zusätzliche effektive Dosis für die dadurch betroffenen Menschen 0,1 Millisievert pro Jahr nicht überschreitet." Dafür geben die Autoren der Sicherheitsanforderungen in Anlehnung an die ICRP-Publication 81 aus dem Jahre 1998 ein Risiko kleiner als 10-5 pro Jahr an. Das heißt, eine Person von 100.000 soll dadurch jährlich an Krebs sterben können.

Verteidigt werden diese Vorgaben des Bundesumweltministeriums mit der Erklärung, diese Indikatorwerte für die Nachbetriebsphase lägen erheblich niedriger als die in der Strahlenschutzverordnung für Expositionen der Bevölkerung durch den Betrieb kerntechnischer Anlagen festgelegten Grenzwerte. Und sowohl die Anforderung eines Nachweiszeitraums von 1 Million Jahre als auch die für die Langzeitaussagen festgelegten radiologischen Indikatordosen stellten im internationalen Vergleich hohe Anforderungen dar.

Tatsächlich hatte bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) ein Todes- oder Schadensrisiko von 1:100.000 (gleich 10-5) pro Jahr für die allgemeine Bevölkerung als noch tolerierbar angesehen.(4) 1990 erhöhte die ICRP ihre Risikoschätzung auf das 4- bis 5-fache und 2007 auf das 5,5-fache. Sie setzte damit Erkenntnisse aus den 1970er Jahren um, korrigierte jedoch ihre Grenzwertempfehlung nicht. Daraus folgte ein laut ICRP tolerierbares zusätzliches Risiko, an Krebs zu sterben, von nun bereits 1:20.000 bis 1:18.180 (= 0,5·10-4 bis 0,55·10-4).(5) Seit Anfang der 1990er Jahre weiß man jedoch bereits, daß das Risiko in Wirklichkeit noch einmal 5- bis 10-fach höher ist.(6,7)

Bei der Entwicklung des sogenannten. 10 Mikrosievert(µSv)-Konzepts im Jahr 1998 wurde dagegen noch von einem Risikofaktor für Krebssterblichkeit von 0,01 pro Sievert (Sv) ausgegangen. Dies entspricht dem Ansatz eines Risikos bei einer Strahlendosis von 10 µSv von circa 1 zu 10 Millionen gemäß der Schätzung der ICRP Publication 26 aus dem Jahre 1977.(8)

Nachdem allerdings die ICRP im Jahr 2007 den Risikofaktor auf das mehr als Fünffache auf 0,055 pro Sievert (Sv) für die Gesamtbevölkerung angehoben hatte (ICRP 103), wurde jedoch das 10 µSv-Konzept nicht dem entsprechend auf ein 2 µSv-Konzept revidiert.

Nach den Schätzung aus den Daten von Hiroshima und Nagasaki kommen nicht unmittelbar tödlich verlaufende Krebserkrankungen in ähnlicher Größenordnung und ein Mehrfaches an Nicht-Krebserkrankungen wie Stoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hinzu.

Der vom BMU jetzt vorgegebene Dosisgrenzwert von 0,1 Millisievert pro Jahr für ein Endlager bei "weniger wahrscheinlichen Entwicklungen" ergibt jetzt gemäß der ICRP-Kalkulation ein zusätzliches zu tolerierendes Krebs-Todesrisiko von jährlich einem Menschen von 181.800.(9) Den aktuelleren Erkenntnissen zufolge wird es dann tatsächlich jährlich eher einer von 43.000 bis einer von 26.000 sein.(10)

Betrachtet man zum Beispiel den niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg mit heute rund 50.000 Einwohnern (für ein Atommülllager Gorleben), dann bedeutet der Dosisgrenzwert des Bundesumweltministeriums von 0,1 Millisievert jährlich, daß der künftige vorzeitige Krebstod von zusätzlich jährlich 1 bis 2 Menschen im Landkreis Lüchow-Dannenberg toleriert werden soll. Für den Zeitraum einer Generation (30 Jahre) wären das dort bereits 35 und über die Zeitspanne eines Menschenlebens von 80 Jahren 93 zusätzliche Krebstote. Über den vorgegebenen Gewährleistungszeitraum von einer Million Jahre hochgerechnet soll schließlich auch ein zusätzlicher Krebstod von 1,2 Millionen Menschen akzeptiert werden.(11)

Die Zahl der Menschenopfer kann sich leicht weiter erhöhen, wenn die betroffenen Regionen größer werden und die Zahl der betroffenen Einwohner zunimmt, was den heutigen negativen Erfahrungen beim praktischen Umgang mit Atommüll im Lager Asse zufolge nicht unwahrscheinlich ist. Eine Dosis von 100 Sievert konzentriert auf einmal verabreicht tötet einen Menschen, 100 Sievert fein dosiert und über lange Zeiträume verteilt lässt Millionen Menschen vorzeitig sterben. Jede Verdünnung vergrößert das Problem. Wieviel davon zulässig sein soll, darf nicht weiterhin in Behördenstuben auf kryptogenetische Art und Weise ausgehandelt werden.


Anmerkungen

(1) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, anonyme Autoren: Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle, Stand 30. September 2010,
http://www.bmub.bund.de/fileadmin/bmu-import/files/pdfs/allgemein/application/pdf/sicherheitsanforderungen_endlagerung_bf.pdf

(2) vergl.: Neue Anforderungen für Atomendlager, in Strahlentelex 574-575 v. 2.12.2010,
www.strahlentelex.de/Stx_10_574_S08-09.pdf

(3) 0,1 mSv/Jahr·106 Jahre = 100 Sv

(4) gem. ICRP Publication 26 (1977): unter der damaligen Annahme, der Risikofaktor betrage 1% pro Sievert (Sv) = 0,01/Sv und es gilt ein Dosisgrenzwert von 1 Millisievert (1 mSv) für die allgemeine Bevölkerung.

(5) Risikofaktor für die allgemeine Bevölkerung, zusätzlich an Krebs zu sterben, 5% pro Sv = 0,05/Sv und Dosisgrenzwert weiterhin 1 mSv, gem. ICRP Publication 60 (1990) bzw. 0,055/Sv (2007).

(6) Lebenszeit-Krebsrisiko 0,23-0,38/Sv gem. R.H. Nußbaum, W. Köhnlein, R.E. Belsey (1991): Die neueste Krebsstatistik der Hiroshima-Nagasaki-Überlebenden: Erhöhtes Strahlenrisiko bei Dosen unterhalb 50 cGy (rad) Konsequenzen für den Strahlenschutz, Med. Klin. 86:99-108.

(7) Lebenszeit-Krebsrisiko 0,17-0,22/Sv gem. D.A. Pierce, Y. Shimizu, D.L. Preston et al. (RERF 1996): Studies of the Mortality of Atomic Bomb Survivors. Report 12, Part I. Cancer: 1950-1990. Radiat. Res. 146:1-27.

(4-7) zitiert nach W. Köhnlein: Die Aktivitäten und Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP); in Ges. f. Strahlenschutz (Hrsg.): Berichte des Otto Hug Strahleninstituts Nr. 21-22, 2000, S.5-25.

(8) 0,01·10·10-6 = 1:10 Mill.

(9) 1:181.000 = 0,55·10-5

(10) 1:43.000 bis 1:26.000 = 0,23-0,38·10-4 gem. Anm. 6.

(11) 50.000:43.000·1 Mill. = 1,2 Mill.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_15_694-695_S01-03.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Dezember 2015, Seite 1 - 3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2016

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