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FORSCHUNG/163: Leben hinter der Leitplanke (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011
Ruhr-Universität Bochum

Leben hinter der Leitplanke

Botaniker nutzten die Aktion "Still-Leben Ruhrschnellweg" für eine Bestandsaufnahme der Flora an der A40

Von Meike Drießen


Es gibt Menschen, die fahren absichtlich in Staus. Nur so haben sie normalerweise Gelegenheit, die Pflanzenwelt der Autobahn zu erkunden, die sonst nur vorbeirauscht. So sind die Autobahnen auch mehrheitlich weiße Flecken in der Kartierung der Flora der Bundesrepublik Deutschland. Eine einmalige Gelegenheit, diese Lücken zu füllen, bot sich am 18. Juli 2010: Für die Aktion "Still-Leben Ruhrschnellweg" im Kulturhauptstadtjahr wurde die Autobahn 40 von Dortmund bis Duisburg für einen Tag komplett gesperrt. Nur Fußgänger und Radfahrer hatten Zutritt. Unter ihnen die Forscher, die eine Bestandsaufnahme der Pflanzen machten.


Mehr als 70 ehrenamtliche Naturliebhaber der Biologischen Station westliches Ruhrgebiet, des Bochumer Botanischen Vereins, der Ruhr-Universität und der Universität Köln standen an diesem Tag besonders früh auf. Dank einer Sondergenehmigung durften sie noch vor allen anderen auf die über 60 Kilometer hinweg gesperrte A40, die frühmorgens noch menschenleer war. Jede der zehn Gruppen widmete sich einem der zehn zuvor festgelegten Streckenabschnitte und untersuchte, welche Pflanzen sie auf den Mittelstreifen und den Randstreifen bis einen Meter hinter den äußeren Leitplanken fanden. Anstreichlisten halfen effizient zu arbeiten, besondere Funde wurden in Karten eingetragen und fotografiert (s. Abb. 1 und 2).

Die Liste der Funde ist lang: 441 verschiedene Arten konnten die Kartierer entlang der Autobahn nachweisen - das entspricht in etwa der Zahl, die man auch auf großen Industriebrachen wie Zollverein oder dem Landschaftspark Duisburg-Nord findet. "Und vermutlich haben wir nicht einmal alle gefunden, denn Frühblüher sind uns im Hochsommer entgangen, und außerdem waren die Hochbeete teils vor der Aktion Still-Leben gemäht worden", erklärt Peter Gausmann von der Arbeitsgruppe Landschaftsökologie der RUB.

86 Prozent aller gefunden Arten lebten auf dem Mittelstreifen, der häufig aus Sicherheitsgründen als Betonwall mit oder ohne bepflanztes Hochbeet gestaltet ist, und nur noch selten als "klassischer" Grünstreifen zwischen zwei Leitplanken. Etwa zwölf Prozent der gefundenen Pflanzen können als typisch für die A40 gelten, da sie in rund 90 Prozent aller Streckenabschnitte gefunden wurden. Dazu gehören etwa der Götterbaum (Ailanthus altissima, Abb. 3), das aus Südafrika stammende Schmalblättrige Greiskraut (Senecio inaequidens), der Zwergholunder (Sambucus ebulus) und das Kahle Bruchkraut (Herniaria glabra). 43 Prozent der Pflanzenarten - 189 von ihnen - kamen nur in maximal zwei von zehn Abschnitten der Autobahn vor. "Die Autobahn ist also ein sehr heterogener Lebensraum", schließt Corinne Buch, RUB-Absolventin und Mitarbeiterin der Biologischen Station Westliches Ruhrgebiet in Oberhausen sowie Vorsitzende des Bochumer Botanischen Vereins. Ein eindeutiges Ost-West-Gefälle in der Artenverteilung konnten die Kartierer allerdings nicht feststellen, obwohl sich die untersuchten Autobahnabschnitte durch zwei naturräumliche Großlandschaften schlängeln, das Niederrheinische Tiefland im Westen und die Westfälische Bucht im Osten.

Die Auswertung der gewonnen Daten hat gezeigt, dass etwa die Hälfte der gefundenen Arten einheimische sind, weitere 17 Prozent sind Archäophyten, die vor so langer Zeit ins Ruhrgebiet eingewandert sind, dass sie als einheimisch empfunden werden. Zehn Prozent sind vom Menschen eingeschleppte oder eingeführte Neophyten, die eigentlich nicht hier vorkommen und nach 1500 erstmals hier wuchsen. Knapp ein Viertel (22 Prozent) sind sog. Industriophyten, die neuesten Einwanderer, die hier erst seit ca. 1850 vorkommen, als die Industrialisierung begann. Ein Beispiel dafür ist der Klebrige Alant (Dittrichia graveolens, Abb. 4) "Der Anteil von rund einem Drittel an von außerhalb des Ruhrgebiets eingewanderten Arten ist vergleichsweise hoch", erklärt Peter Gausmann. "In natürlichen Landschaften liegt er wesentlich niedriger, mancherorts gibt es sogar ausschließlich einheimische Pflanzen."

Die Herkunft der gefundenen Pflanzen an der Autobahn ist unterschiedlich. Die weitaus meisten Samen werden vom Wind herangetragen, viele sind Kulturflüchter: ausgebüxte Nutzpflanzen wie Raps, Hafer, Weizen, Gerste und andere Getreide oder Gartenflüchter wie Stockrose (Alcea rosea), Katzenminze (Nepeta x faassenii), Zwergmispel (Cotoneaster spec.) und Liguster (Ligustrum ovalifolium). Die Kulturflüchter machen insgesamt über ein Viertel der Pflanzen an der Autobahn aus. Was nicht vom Wind herangetragen wird, stammt teils aus Gartenabfällen, die die Böschung hinuntergekippt werden. Zu den Kulturflüchtern zählen auch Spargel sowie Apfel- und Pfirsichbäume. Letztere werden vor allem von Reisenden gesät, die Steine und Strünke während der Fahrt aus dem Fenster entsorgen.

Die zweitgrößte Gruppe ist die der absichtlich angepflanzten Arten, z.B. auf den Hochbeeten des Mittelstreifens oder an ehemaligen Baustellen, wo sie die Bodenerosion verhindern. Hierzu gehören zum Beispiel Kornblumen (Centaurea cyanus) und Echtes Labkraut (Galium verum). Die kleinste Gruppe reist von ferne ein: Samen haften an Autoreifen oder Schuhsohlen, fallen von Lkw.

Etwa 28 Prozent der gefundenen Arten sind an den Menschen gebunden und würden ohne ihn wieder verschwinden, schätzen die Forscher, vor allem weil sie durch konkurrenzstärkere Pflanzen verdrängt würden. Dazu gehört z.B. die Kamille (Matricaria recutita), die sich nur auf menschlich beeinflussten Flächen halten kann.

Besonders interessant waren für die Forscher die Salzpflanzen. "Der Boden ist um die Autobahn herum durch das Streusalz im Winter stark salzhaltig", erklärt Corinne Buch. "Wir hatten deswegen eine besonders hohe Zahl salzverträglicher Arten erwartet." Salzpflanzen gliedern sich in drei Gruppen: Die obligaten Salzpflanzen brauchen das Salz unbedingt zum Gedeihen, die fakultativen Salzpflanzen kommen auch ohne aus, sind aber tolerant gegenüber Salz, was ihnen einen Vorteil in der Konkurrenz mit anderen Pflanzen verschafft, die kein Salz vertragen. Die indifferenten Arten kommen eher auf salzfreien Böden vor, können aber auch mit erhöhtem Salzgehalt leben.

Insgesamt fanden die Kartierer an der Autobahn 63 Salzpflanzenarten, sog. Halophyten (Abb. 2c). Keine von ihnen gehörte der Gruppe der obligaten Salzpflanzen an. "Diese Arten brauchen das Salz über das ganze Jahr hinweg, das Streusalz des Winters wird aber recht schnell wieder aus dem Boden gewaschen", erklärt Peter Gausmann. Sechs Arten zählen zu den fakultativen Salzpflanzen: die Salz-Schuppenmiere (Spergularia salina, s. Abb. 5), der Salzschwaden (Puccinellia distans), der Krähenfuß-Wegerich (Plantago coronopus), das Dänische Löffelkraut (Cochlearia danica), das Bläuliche Wiesen-Rispengras (Poa humilis) und die Verschiedensamige Melde (Atriplex micrantha) - alle übrigen zu den indifferenten Salzpflanzen. Einige Salzpflanzen, die an anderen Autobahnen wie der A42, der A52 und der A43 gefunden wurden, etwa Breitblättrige Kresse (Lepidium latifolium), tauchten auf dem untersuchten Abschnitt der A40 nicht auf - noch nicht, meint Peter Gausmann. "Die Pflanzen breiten sich sukzessive entlang der Autobahnen aus und sind noch nicht so weit gekommen. Linksrheinisch hinter Duisburg findet man sie schon an der A40."

Die Salz-Schuppenmiere wurde an der A40 das erste Mal überhaupt für das Ruhrgebiet nachgewiesen. Sie steht auf der Roten Liste der in NRW gefährdeten Arten, wie auch sechs weitere an der A40 gefundene Arten (s. Abb. 2d). "Wir wollen natürlich nicht behaupten, dass die Autobahn unter Naturschutzgesichtspunkten wertvoll ist, aber als Ersatzlebensraum hat sie durchaus eine Bedeutung", sagt Corinne Buch. "Die Autobahnen haben eine Art Trittsteinfunktion", meint Peter Gausmann. "Bestimmte Arten, die bedroht sind, können sich ansiedeln und von hier aus wieder weiter verbreiten. Ein zweiter positiver Aspekt der Pflanzen an der Autobahn ist natürlich die Erhöhung des Landschaftswerts. Wer die A40 im Herbst entlang fährt, sieht die Ränder in Gelb, weil das Schmalblättrige Greiskraut blüht, im Mai blüht das Dänische Löffelkraut weiß."

Insgesamt zeigte sich die A40 unerwartet artenreich. "Mit 441 Arten konnte an der A40 ein Viertel der gesamten Flora NRWs nachgewiesen werden", sagt Peter Gausmann.


Den gesamten Artikel inkl. allen Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011, S. 58-61
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2011