Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → ARTENSCHUTZ

VÖGEL/526: Niedersachsen - das deutsche Wiesenvogelland (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 8/2009

Niedersachsen - das deutsche Wiesenvogelland

Von Heinrich Belting, Jürgen Ludwig und Johannes Melter


Niedersachsen hat für Wiesenvögel eine herausragende Bedeutung. Entwicklungen in diesem Bundesland bestimmen die nationalen Trends bei den Wiesenlimikolen. Das Land spielt damit eine Schlüsselrolle für den Erhalt der Bestände dieser gefährdeten Arten. Die landesweiten Trends sind bei den meisten Arten leider immer noch negativ. Doch es gibt auch die Hoffnung, dass verstärkte Schutzbemühungen und ergänzende Ansätze einen dauerhaften Erhalt der Bestände sichern können.


*


Niedersachsen war und ist mit seinen offenen, weiten Niederungs-, Küsten-, Flussmarschen- und Moorlandschaften sowie den hohen Grünlandanteilen das "Wiesenvogelland" in Deutschland. Besonders für die Wiesenlimikolen herrschten hier bis Anfang des letzten Jahrhunderts nahezu paradiesische Bedingungen. Obwohl konkrete Zahlen aus dieser Zeit nicht vorliegen, müssen die Bestände nach heutigen Maßstäben unvorstellbar groß gewesen sein. Mancher Vogelkundler wird wehmütig, wenn er in alten Aufzeichnungen, zum Beispiel von Otto Leege aus den Zeiten der Jahrhundertwende über den Kampfläufer liest: "In den weiten Meedegebieten (Wiesenland) Ostfrieslands war er mit dem Kiebitz und der Limose der häufigste aller Watvögel".

Mit den großflächigen Landschaftsveränderungen durch Moorkultivierungen, Gewässerregulierungen und Flurbereinigungen haben sich die Lebensraumbedingungen für Wiesenvögel im Laufe des letzten Jahrhunderts drastisch verschlechtert. Aus vielen Landesteilen wurden Bestandsrückgänge berichtet. Ab den 1970er Jahren nahmen die negativen Populationsentwicklungen alarmierende Ausmaße an und zahlreiche Arten mussten in die Rote Liste aufgenommen werden. Dennoch waren Kiebitz und selbst Uferschnepfe noch so häufig, dass exakte Zahlen über den Landesbestand aus dieser Zeit nicht vorliegen.


Bestandsrückgänge und Arealverluste

Obwohl bereits in den 1970er Jahren als Reaktion auf die steigende Gefährdung hauptsächlich der Limikolenarten auch in Niedersachsen erste flächenhafte Schutzprojekte gestartet wurden, konnte der landesweit negative Trend bei den meisten Arten bis heute nicht gestoppt werden. Nach dem Alpenstrandläufer steht nun auch der Kampfläufer kurz vor dem Erlöschen seiner letzten Brutvorkommen in Niedersachsen. Stabil sind nur die Brutbestände des Rotschenkels, vor allem Dank günstiger Bestandsentwicklungen an der Küste und einer extensiven Salzwiesennutzung im Nationalpark Wattenmeer.
(s. FALKE 2008, Heft 10 bzw. im Schattenblick unter UMWELT/ARTENSCHUTZ, Index VÖGEL/442:)

Waren es zuvor die großflächigen Landschaftseingriffe, die den Vogelbeständen zu schaffen machten, ist es in den letzten Jahrzehnten besonders die zunehmende Intensivierung in der Landwirtschaft. Das Grünland nahm nicht nur hinsichtlich der Fläche ab, sondern wurde vielerorts von den artenreichen Wiesen und Weiden in monotone Grasäcker verwandelt.

Neben den absoluten Bestandsverlusten sind für die Wiesenvögel vor allem auch die Arealverluste besorgniserregend. Die Uferschnepfe hat in den letzten 20 Jahren ca. ein Viertel der ehemals besiedelten Fläche aufgegeben. Von der Ausdünnung sind besonders die Randvorkommen im Binnenland betroffen (z. B. an der Elbe in Lüchow-Dannenberg und am Steinhuder Meer) - gleiches gilt für den Rotschenkel. Der einst landesweit verbreitete Kiebitz ist südlich des Mittellandkanales fast ganz als Brutvogel verschwunden.

In jüngster Zeit gerät das Grünland durch den Boom bei der Förderung nachwachsender Rohstoffe erneut unter verschärften Druck. Der Flächenhunger der zahlreich entstehenden Biogasanlagen ist enorm. Allen EU-Vorgaben zum Erhalt des Grünlandes (cross compliance) zum Trotz sinkt der Grünlandanteil dramatisch. Anders als in benachbarten Bundesländern wie beispielsweise Schleswig-Holstein ist in Niedersachsen bislang kein generelles Grünland-Umbruchverbot erlassen worden.


Niedersachsens Verantwortung

Niedersachsen umfasst etwa 13 Prozent der Fläche Deutschlands. Nach wie vor brüten hier überproportional hohe Anteile der deutschen Wiesenlimikolenbestände. So sind in Niedersachsen fast zwei Drittel des nationalen Brutbestandes der Uferschnepfe zu finden, bei Großem Brachvogel und Rotschenkel ist es etwa die Hälfte. Die Populationsentwicklungen in Niedersachsen bestimmen damit maßgeblich die bundesweiten Trends!

Trotz oder gerade wegen der starken Rückgangstendenzen hat das Land für den Erhalt der Wiesenlimikolen eine hohe nationale und internationale Verantwortung. Niedersachsen hat zweifellos eine Schlüsselfunktion für den Wiesenvogelschutz in ganz Deutschland inne und damit möglicherweise auch den Erfolg von aufwendigen Schutzprogrammen in anderen Bundesländern. Zusammen mit den angrenzenden Niederlanden ist Niedersachsen ganz allgemein auch für die Sicherung der biogeographischen Population zuständig.


Prioritätensetzung im Vogelschutz

Dieser hohen Verantwortung sind sich das Land und die entscheidenden Behörden und Institutionen durchaus bewusst. Der Schutz der Wiesenvögel stellt im Landesnaturschutz seit Jahren einen besonderen Schwerpunkt dar.

In einem von der Staatlichen Vogelschutzwarte jüngst im Auftrag der Landesregierung erarbeiteten "Vogelschutz-Prioritätenindex" sind unter den ersten 20 Arten mit Uferschnepfe, Großem Brachvogel, Bekassine, Kiebitz, Rotschenkel und Kampfläufer alle gefährdeten Wiesenlimikolen vertreten; Rebhuhn, Löffel- und Knäkente sowie Sumpfohreule stehen für weitere im Grünland brütende Arten.


Hoffnungsschimmer - intensiv betreute Schutzgebiete

Obwohl der landesweite Bestandstrend der Wiesenvogelarten außer beim Rotschenkel weiterhin rückläufig ist, gibt es durchaus Anlass zur Hoffnung. In einigen Schutzgebieten nehmen die Bestände wieder zu oder sind stabil. Dies ist vor allem in Gebieten mit hohem Anteil an öffentlichen Naturschutzflächen, die wiedervernässt sind und gleichzeitig intensiv betreut werden, der Fall. Dazu zählen die Betreuungsgebiete der drei Naturschutzstationen in Niedersachsen: Unterelbe, Fehntjer Tief und Dümmer. So konnte zum Beispiel in den Kernbereichen des Vogelschutzgebietes Unterelbe der Brutbestand der Uferschnepfe mit 250 bis 300 Brutpaaren auf dem Niveau von Mitte der 1980er Jahre gehalten werden. Am Dümmer hat sich der Uferschnepfenbestand in den letzten zehn Jahren mit derzeit 100 Brutpaaren verdoppelt. In diesen Flächen werden bei vielen Wiesenvogelarten außerdem wieder regelmäßig gute Bruterfolge erzielt.

Bei der Auswahl der EU-Vogelschutzgebiete (VSG) sind in Niedersachsen Anfang diesen Jahrzehntes die Wiesenvögel besonders berücksichtigt worden. Etwa 7 % der niedersächsischen Landesfläche sind als Vogelschutzgebiet gemeldet (ohne Wattenmeer). In den EU-Vogelschutzgebieten kommen jedoch hohe Anteile der Bestände von Uferschnepfe (70 %), Brachvogel (40 %), Bekassine (50 %), Rotschenkel (90 %) und Kiebitz (30 %) vor!

Die zehn wichtigsten Wiesenvogelschutzgebiete liegen hauptsächlich in der Nähe der Nordseeküste sowie in Westniedersachsen und sind als VSG ausgewiesen. Das Ausmaß der Schutzbemühungen ist in den einzelnen Gebieten allerdings sehr unterschiedlich. Während z. B. das Dümmergebiet nahezu vollständig angekauft, wiedervernässt und für Wiesenvögel hergerichtet und dauerhaft gepflegt wird, beginnen die Naturschützer in anderen Gebieten gerade erst mit den ersten, kleinflächig wirksamen Maßnahmen. Hier arbeitet die Naturschutzverwaltung derzeit daran, gezielte Grundlagen für künftige EU-Förderprogramme und Landesmittel für wirksame Wiesenvogel-Schutzmaßnahmen zu bilden.

Von den 900000 ha Grünlandflächen in Niedersachsen sind etwa 200000 ha für Wiesenvögel aktuell bedeutsam. Etwa 10000 ha sind als Naturschutzflächen in öffentlicher Hand und speziell für Wiesenvögel hergerichtet.

Darüber hinaus gibt es in Niedersachsen aber auch mehrere wichtige Wiesenvogelgebiete ohne jeden Schutzstatus, etwa das Leda-Jümme Gebiet, die Alte Picardie und großflächige Bereiche in der Wesermarsch.


Weitere Schutzinstrumentarien

Auf etwa 10000 ha für Wiesenvögel relevanter privater Fläche findet in Niedersachsen freiwilliger Vertragsnaturschutz statt, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU-Vogelschutzgebiete. Hier erhalten Landwirte Ausgleichszahlungen für verspätete Mähtermine, verringerte Beweidungsdichten oder für den Verzicht auf Düngung. Dieses Instrument leistet dort einen wirksamen Beitrag für den Schutz lokaler Wiesenvogelbestände, wo ein entsprechend hoher Flächenanteil unter Vertrag steht, zum Beispiel in der Stollhammer Wisch im Landkreis Wesermarsch. Vertragsnaturschutz bietet sich künftig besonders rund um die wiedervernässten Flächen mit hohen Vogeldichten an, die sich in Privatbesitz befinden und nicht erworben werden können. Nennenswerte Wiedervernässungsmaßnahmen lassen sich damit jedoch nicht realisieren.


Gelegeschutzprojekte

Seit mehreren Jahren werden in einigen Regionen Niedersachsens - auch außerhalb von Schutzgebieten - bereits Gelegeschutzprojekte durchgeführt, an denen sich Landwirte auf freiwilliger Basis beteiligen können. Seit dem Jahr 2008 wird ein entsprechendes Programm vom Land Niedersachsen unter Kofinanzierung der EU angeboten. Bei den Projekten handelt es sich um gezielte Artenschutzmaßnahmen zum Schutz der Gelege und Jungvögel. Diese werden von Landwirten meist sehr positiv angenommen und sind durchaus auch erfolgreich. Ein wichtiges Nebenprodukt ist dabei ein verbesserter Informationsfluss durch die Kooperation Naturschutz-Landwirtschaft und eine Sensibilisierung der Flächennutzer für den Wiesenvogelschutz. Allerdings sind solche Maßnahmen nur in den Gebieten sinnvoll, wo noch eine Habitatqualität von Flächen vorliegt, die eine ausreichende Kükenüberlebensrate überhaupt gewährleisten können.


*


Literatur zum Thema:

Hötker, H., H. Jeromin & J. Melter (2007): Entwicklung der Brutbestände der Wiesen-Limikolen in Deutschland - Ergebnisse eines neuen Ansatzes im Monitoring mittelhäufiger Brutvogelarten. Vogelwelt 128: 49-65.

Krüger, T. & B. Oltmanns (2008): Identifizierung von Vogelarten für die Schwerpunktsetzung im Brutvogelschutz in Niedersachsen anhand eines Prioritätenindex. Vogelkdl. Ber. Niedersachs. 40: 67-81.

Krüger, T. & P. Südbeck (2004): Wiesenvogelschutz in Niedersachsen. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachs. 41: 1-123.

Zang, H., G. Großkopf & H. Heckenroth (1995): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen. Austernfischer bis Schnepfen. Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachs. B, H. 2.5.


Heinrich Belting ist Mitarbeiter der Naturschutzstation Dümmer und zudem in der Staatlichen Vogelschutzwarte mit Wiesenvogelthemen beschäftigt.

Jürgen Ludwig arbeitet in der Naturschutzstation Unterelbe und ist in der Staatlichen Vogelschutzwarte Niedersachsen u. a. mit Gastvogelthemen betraut.

Dr. Johannes Melter beschäftigt sich beruflich mit diversen Untersuchungen an Wiesenlimikolen und engagiert sich auch ehrenamtlich für deren Schutz in Niedersachsen.


*


Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 8/2009
56. Jahrgang, August 2009, S. 289-293
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141; Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de
Internet: www.falke-journal.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,80 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 49,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009