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ATOM/259: Wendland - 30 Jahre Anti-Atom-Protest mit Barrikaden und Traktoren (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 151 - August/September 09
Die Berliner Umweltzeitung

Widerstand im Wendland
30 Jahre Anti-Atom-Protest mit Barrikaden und Traktoren

Von Jochen Mühlbauer


Im niedersächsischen Wendland rund um Gorleben ist der Widerstand gegen Atomenergie auch in diesem Sommer allgegenwärtig. An den Häusern hängen Transparente mit Anti-Atom-Parolen und der lachenden Sonne. Viele Leute haben gelbe Latten zu einem X - Symbol der Castor-Proteste - zusammengenagelt und in Vorgärten, an Stalltüren oder einfach am Wegesrand aufgestellt.

Der Anti-Atom-Protest hat hier eine lange Geschichte: Die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg organisierte 1977 eine erste Demonstration mit 20.000 Teilnehmer/-innen. Der Ministerpräsident von Niedersachsen Ernst Albrecht (CDU) hatte Gorleben als Standort für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) benannt. Das Kernstück sollte die geplante Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) sein. Ausschlaggebend für diese Standortwahl waren die Abgelegenheit der Region, ihre dünne Besiedlung und die Nähe zur DDR. Die geologische "Qualität" des Salzstocks wurde als drittklassig eingeschätzt. Oberirdische Zwischenlager, eine Brennelementfabrik sowie ein Atommüll-Endlager im Salzstock Gorleben-Rambow sollten im 12 Quadratkilometer großen NEZ konzentriert werden.


Gorleben-Treck im März 1979

Im März 1979 sollten Flachbohrungen in Gorleben beginnen. Mit ihnen musste der Baugrund für die Betongebäude untersucht werden. Wenn die Atomindustrie den Landkreis Lüchow-Dannenberg besetzt, dann wandern dessen Bewohner/-innen aus. Dieses Bild wollten die Demonstrant/-innen mit dem Anti-Atom-Treck nach Hannover symbolisieren. Bevor aber das Bild einer protestierenden Region entstehen konnte, mussten erst einmal Vorurteile untereinander überwunden werden. Alteingesessene und Neubürger, Bauern und städtisches - auch kleinstädtisches - Bürgertum waren nicht ohne weiteres bereit, miteinander zu streiten. Am Ende wünschte auch der Vorsitzende des Kreislandvolks Adolf Voß dem Treck Erfolg. Gertrud Hempel vom Landfrauenverein forderte zur Teilnahme auf und eine große Schlachterei überließ ihren Mitarbeitern sogar Firmenlaster zur Mitfahrt im Protestzug.

Eine Woche lang, vom 25. bis zum 31. März 1979 brachen hunderte Landwirte aus dem Wendland zum Protest-Treck nach Hannover auf, um der niedersächsischen Landesregierung den Protest der Region gegen das geplante Nukleare Entsorgungszentrum zu zeigen. "Bauern und Bürger" stand auf ihren Transparenten. Der Treck hatte Folgen. Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) gab die Planungen für das NEZ in Gorleben auf.

Die niedersächsische Landesregierung hatte ihren Anteil an der Proteststimmung in Lüchow-Dannenberg. Ihre öffentlich geäußerte Erwartung, es werde auf eine "Schlacht um Gorleben" hinauslaufen, empörte im Wendland auch CDU-freundliche Geister. Der Innenminister hatte vorsorglich im Celler Gefängnis acht Zellen räumen lassen, um sie für Treckteilnehmer/-innen bereitzuhalten. Diese reagierten: "Bringt Blumen mit", lautete die Aufforderung der Bürgerinitiative an alle, die zur großen Demo am 31. März nach Hannover kommen wollten. Der 25. März 1979 war ein nasskalter, grauer Tag. Bei der Auftaktdemo zum Treck wollten die Teilnehmer/-innen aus der Region unter sich sein. Darauf hatte die Bürgerinitiative Umweltschutz bei der Vorbereitung gegenüber anderen Anti-Atom-Gruppen bestanden. Damit später niemand sagen konnte, es seien ja ohnehin alles Auswärtige gewesen. Die Zahl der Demonstrant/-innen übertraf die Erwartungen. Die Häuser des Dorfes Gedelitz verschwanden hinter den Reihen der Traktoren, die sich dort zum Demonstrationszug nach Lüchow trafen. Den 350 Treckern folgten 5.000 Menschen, die trotz ständigem Nieselregen über die Landstraße liefen. Der Protest in Gorleben war damit keine regionale Angelegenheit mehr.

Am nächsten Tag wurde die Kreisgrenze passiert. Zum ersten Mal änderte der Landkreis Lüchow-Dannenberg seinen Namen: "Republik Freies Wendland" lautete die Aufschrift auf Pappschildern, mit denen das Kreisschild verdeckt wurde. Es sei genau in diesem Augenblick gewesen, erinnern sich Teilnehmer, dass die Meldung vom Unfall im Atomkraftwerk Three Miles Island in Harrisburg/USA verbreitetet wurde. Ein großer Atomunfall, der vorher nur möglich erschien, war jetzt eine realistische Vorstellung.

In den folgenden Tagen änderte sich zwar die Zahl derer, die unterwegs waren. Nicht jedoch das Wetter. Es blieb nass und kalt. Das Motto des Trecks wurde ergänzt: "Albrecht, wir kommen - wenn es sein muss, auch geschwommen". Zeitweilig schmolz der Treck zusammen auf ein kleines Häuflein, das sich frierend über die Landstraßen schleppte. Unterkunft gab es bei befreundeten Bürgerinitiativen.

Am letzten Morgen, dem 31. März 1979, regnete es in Strömen. In der Nacht waren die Trecker aus Lüchow-Dannenberg nachgekommen. Jetzt sollte es von Burgdorf in die Innenstadt von Hannover gehen. Die Stimmung war am Tiefpunkt. Das Wetter würde keine große Beteiligung zulassen, so schien es. Trotzig sollte das Begonnene nur noch zu Ende gebracht werden. Doch dann füllten sich die Fahrspuren neben den Traktoren mit Bussen aus Hamburg und Berlin. Aus Wyhl und Lichtenmoor kamen Fahrzeugkolonnen, bis alles dicht war. Mit rund 100.000 Demonstranten war die Abschlusskundgebung des Gorleben-Trecks 1979 in Hannover die größte Protestdemonstration, die bis diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik stattgefunden hatte.

Sechs Wochen später kam die Reaktion der Landesregierung auf einem Treffen zwischen Bauern und dem Ministerpräsidenten. Albrecht erklärte, die Wiederaufarbeitungsanlage sei in Gorleben zwar technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar. Wenn man das Wichtigste am geplanten Nuklearen Entsorgungszentrum retten wolle, nämlich das Endlager, dann müsse man auf die WAA verzichten, schrieb er später an den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD).


Hartnäckiger und lebendiger Protest

Tausende Atomgegner/-innen besetzten im Mai 1980 eine Bohrstelle im Gorlebener Wald und riefen erneut die "Freie Republik Wendland" aus. Auch als im Bundesgebiet der Schwung der Anti-Atom-Bewegung erlahmte, blieb der Widerstand in Gorleben lebendig. 1984 brachten Tieflader Fässer mit radioaktivem Atommüll ins Wendland, Tausende Bürger/-innen verbarrikadierten mit Baumstämmen, Autos und ihren Körpern sämtliche Zufahrtsstraßen. Die Castor-Transporte und der langjährige Protest dagegen hatten begonnen.

Längst sind Bürgerinitiative und Bauern in ihrem Widerstand nicht mehr allein. Unterstützung kommt zum Beispiel von den Gorleben-Frauen, der Senioren-Initiative "Graue Zellen", den Schülergruppen und Castor- Komitees. Weil ihr Protest so hartnäckig ist, gerieten viele Einheimische ins Visier der Staatsmacht. Polizeibeamte verfolgten Bauern auf dem Weg zu Kegelabenden, schnitten Telefongespräche mit und leuchteten nachts die Fenster und Fassaden von Höfen und Kneipen aus. Aber davon lassen sich die widerständigen Bauern nicht abschrecken. Am 29. August starten sie mit 200 Traktoren den Anti-Atom Treck aus dem Wendland nach Berlin zur bundesweiten Großdemonstration "Mal richtig Abschalten! - Atomkraft Nein Danke!" am 5. September.

www.bi-luechow-dannenberg.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Der Anti-Atom-Traktor
Das neue Ortsschild von Gorleben


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Quelle:
DER RABE RALF - 20. Jahrgang, Nr. 151, August/September 09, S. 3
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
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Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: 10 Euro/halbes Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2009