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EUROPA/478: Brexit - Gemischte Bilanz für die Umwelt (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2016
Völlig losgelöst
Lässt sich die EU noch demokratisieren?

BREXIT: Gemischte Bilanz für die Umwelt
Die Auswirkungen des EU-Austritts Großbritanniens auf die europäische Umwelt-, Klima- und Energiepolitik

Von Antje Mensen und Clemens Küpper


Die BritInnen haben sich gegen die Europäische Union (EU) entschieden und läuten damit ein neues Kapitel in der EU ein. Zum ersten Mal wird die EU kleiner. Wie dieses Kapitel aussehen wird, weiß im Moment noch niemand, denn ernsthaft gerechnet hat mit dem Brexit niemand. Dieses Vakuum kann auch als Chance verstanden werden, die europäische Integration zu vertiefen und dabei Nachhaltigkeit und Umwelt zu stärken.


Die europäischen BürgerInnen machen in Umfragen immer wieder deutlich, dass sie sich Umwelt- und Klimaschutz sowie die Energiewende wünschen. Die sozial- und naturverträgliche Dekarbonisierung der Wirtschaft ist eine Jahrhundertaufgabe und das beste Beispiel für Herausforderungen, denen Nationalstaaten alleine nicht begegnen können. Die EU muss nun zeigen, dass sie trotz des Brexits - oder vielleicht gerade wegen des Brexits - die Zukunft ernst nimmt. Wer die Erwärmung des Erdklimas auf weit unter 2 Grad Celsius, bzw. 1,5 Grad Celsius, begrenzen will, kann sich keinen Stillstand leisten.

Eine Herausforderung für die Europäische Klimapolitik...

Die EU verhandelt derzeit das große Klima- und Energiepaket für 2030. Ausgerechnet Großbritannien gehört zu den Zugpferden unter den EU-Mitgliedstaaten, wenn es um den Klimaschutz geht. Ohne die BritInnen werden die Verhandlungen bei den Klimadossiers wahrscheinlich schwieriger, da sie zu den UnterstützerInnen einer ambitionierten Reform des Emissionshandels gehören. Sich selbst haben die BritInnen vergleichsweise ambitionierte nationale Klimaziele gesetzt und haben unmittelbar nach dem Brexit-Referendum ihr fünftes Kohlenstoffbudget verabschiedet. Im Rahmen der sogenannten Green Growth Group im Rat der EU strukturierten sie die Zusammenarbeit von "progressiven" Mitgliedstaaten. Schon in den Monaten vor dem Referendum war spürbar, welch Verlust die britischen Impulse hier darstellen würden. Großbritannien war der einzige große Mitgliedstaat, der 2014 ein höheres EU-Klimaziel für 2030 wollte. Ohne sie hätten wir das "mindestens" vor den 40 Prozent bis 2030 wohl nicht bekommen.

Im Juli 2016 hat die Kommission einen Vorschlag zu verbindlichen Zielvorgaben für Emissionen, die nicht im Europäischen Emissionshandel erfasst sind, präsentiert. In der Entscheidung über die Lastenverteilung (Effort-Sharing) gibt es für jeden Mitgliedstaat individuelle Reduktionsziele, auch für Großbritannien. Gelingt es nicht, die BritInnen über ein Einzelabkommen im Effort-Sharing zu halten, müsste der britische Anteil unter den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten aufgeteilt werden, um das 2030-Klimaziel der EU zu erreichen. Dieser Mehraufwand könnte erhebliche Widerstände hervorrufen und das Effort-Sharing verzögern und/oder schwächen.

Bereits letzten Sommer hat die Kommission Reformvorschläge für ein weiteres Kerninstrument der europäischen Klimapolitik auf den Tisch gelegt: den Europäischen Emissionshandel. Die Sektoren, die über den Emissionshandel reguliert werden, produzieren fast die Hälfte aller Kohlenstoffdioxidemissionen in Europa. Die BritInnen haben sich schon seit Langem für marktbasierte Lösungen eingesetzt und ihr Ausfall könnte nun die Reform des Emissionshandels schwächen. Steigen die BritInnen aus dem Europäischen Emissionshandel aus, würden die britischen Emissionszertifikate möglicherweise den Markt überfluten und den ohnehin schon am Boden liegenden CO2-Preis noch weiter in den Keller treiben.

... aber eine Chance für die europäische Energiewende?

All diese Debatten macht der Brexit nicht einfacher. Dennoch, die Klima- und Energiepolitik wird die BritInnen nicht nur vermissen. Manch eine Verhandlung hätte ohne die BritInnen ein besseres Ende nehmen können. So zum Beispiel bei den erneuerbaren Energien, denen gegenüber die BritInnen eine ähnlich seltsame, irrational anmutende Skepsis innehaben wie gegenüber der Europäischen Union. Ähnliches, wenn auch nicht so fundamental, gilt bei der Energieeffizienz.

In beiden Bereichen gingen die BritInnen oftmals Allianzen mit den euroskeptischen Visegrád-Staaten ein. Diese Allianz bescherte uns das seltsame Erneuerbare-Energien-Ziel für 2030: Das ist auf EU-Ebene verbindlich, soll aber nicht auf nationale Ziele heruntergebrochen werden. Auch das geltende schwache Energieeffizienzziel von "mindestens" 27 Prozent trägt teilweise die Handschrift der britischen Regierung. Generell hat der britische Mythos von der "Brüsseler Regulierungswut" progressive Energiegesetzgebung tendenziell eher verhindert als vorangebracht. Diesen Herbst stehen die Energiethemen auf der EU-Agenda mit Gesetzgebungsvorschlägen für Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Hier gilt es nun, die Kommission nicht in Schockstarre verfallen zu lassen, sondern deutlich zu machen, dass der Moment für ein ambitioniertes Vorantreiben der europäischen Energiewende gekommen ist.

Eine Gefahr für Natur- und Meeresschutz ...

Artenschutz und der Schutz von Habitaten benötigen grenzübergreifende Zusammenarbeit, da Ökosysteme nicht an Staatsgrenzen enden. Gerade hier hat die EU wichtige Arbeit geleistet, Ökosystemgrenzen und nicht politische Grenzen als Grundlage für Umweltpolitik zu nehmen. Die Wiedereinzeichnung der Seegrenze zwischen Großbritannien und dem Kontinent würde die Nordsee teilen und ihren Schutz und die Gemeinsame Fischereipolitik vor eine neue Herausforderung stellen.

Erst 2014 ist eine Richtlinie zur Schaffung eines Rahmens für die maritime Raumplanung verabschiedet worden. Die EU und Großbritannien müssen möglicherweise neu verhandeln, wie sie die gemeinsame Ressource Nordsee untereinander aufteilen. Ob britische Fischereiflotten in Zukunft auch europäische Gewässer nutzen dürfen und umgekehrt, ist offen. Überfischung auf der einen Seite wird jedoch negative Auswirkungen auf der jeweils anderen haben.

Für die Zukunft des Natur- und Umweltschutzes in Großbritannien selbst sieht es derzeit schlecht aus. Der neu eingesetzte Brexit-Minister David Davis hat bereits angekündigt, die komplette EU-Gesetzgebung auf den Prüfstand zu stellen und grundsätzlich jeden Rechtsakt, der der Wirtschaft nicht nutzt, abzuschaffen. Unabhängig davon, welches Brexit-Szenario eintritt, es werden wohl insbesondere die Sozial-, Umwelt- und Naturschutzgesetzgebung geschwächt. Die Vogelschutz-, Flora-Fauna-Habitat- und Badegewässerrichtlinie werden nach dem Brexit definitiv nicht mehr gelten. Auf europäischer Ebene hatte sich David Cameron trotz seines Deregulierungstriebs noch dafür eingesetzt, die europäischen Naturschutzrichtlinien unangetastet zu lassen. Diese sind unter der Juncker-Kommission im Zuge eines 'Fitness-Checks' unter Druck geraten und verlieren nun mit Großbritannien einen Fürsprecher. Hinzu kommt, dass auf der Insel nun ein Ende der Gemeinsamen Agrarpolitik zu erwarten ist. Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU ist zwar sicherlich kein Beispiel für gelungene Umweltpolitik, ihr Ende in Großbritannien wird die Situation aber wahrscheinlich verschlechtern: Ohne die Brüsseler Agrarsubventionen werden sich die britischen Agrarprodukte schlechter auf dem Weltmarkt behaupten können. Der gestiegene Preisdruck könnte dann eine noch stärkere Intensivierung der Landwirtschaft auslösen, ganz zu schweigen von den Folgen des Wegfalls von Bio-Siegeln und anderen Anreizmechanismen für den ökologischen Landbau.

... aber eine Chance, Nachhaltigkeitsziele zu realisieren?

Die großen Fragen sind jetzt, wie die verbleibenden EU-Staaten sowie Kommission und Parlament die Union künftig aufstellen und welche Schlüsse sie aus dem Brexit ziehen. Geht der Trend zu Deregulierung und dem Abbau von angeblich überflüssiger Rechtsetzung gestärkt weiter? Dann haben wir als NGO-VertreterInnen schwere Zeiten vor uns. Oder beginnt nun die Suche nach einer positiven Erzählung zum Projekt Europa?

In einer Erklärung(1) hat der Deutsche Naturschutzring (DNR) gemeinsam mit anderen Umweltverbänden führende europäische PolitikerInnen dazu aufgefordert, der insbesondere durch Großbritannien vorangetriebenen Deregulierungsagenda den Rücken zu kehren und die globalen Nachhaltigkeitsziele sowie die Ergebnisse des Pariser Klimaabkommens zur künftigen Richtschnur der EU zu machen. Wenn die Staats- und Regierungschefs die richtigen Schlüsse aus dem Brexit ziehen und ihr einseitig auf Austerität und Deregulierung ausgerichtetes Modell hinterfragen, könnte die EU gestärkt und nachhaltig aus dieser Krise hervorgehen.


Die Autoren Antje Mensen und Clemens Küpper arbeiten in der EU-Koordination des Deutschen Naturschutzrings (DNR) zu europäischer Klima- und Energiepolitik.


Fußnote

(1) http://www.dnr.de/downloads/europaerklaerung-dnr-venro.pdf


Weitere Informationen zum Thema finden sich im neuen DNR-Steckbrief 'Ein Brexit für die Umwelt? Großbritanniens planloser EU-Austritt', abrufbar unter
www.eu-koordination.de/PDF/steckbrief-brexit.pdf.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2016, Seite 16-17
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2016

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