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FORSCHUNG/729: Bodenzoologie - Der Regenwald des kleinen Mannes (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 4/2010

Bodenzoologie
Der Regenwald des kleinen Mannes

Das Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz ist Deutschlands wichtigster Standort der Bodenzoologie. Ein Schwerpunkt: gruselig anmutende Fadenwürmer

Von Susanne Kailitz


Boden ist das mit Wasser, Luft und Lebewesen durchsetzte, unter dem Einfluss der Umweltfaktoren an der Erdoberfläche entstandene und im Laufe der Zeit sich weiterentwickelnde Umwandlungsprodukt mineralischer und organischer Substanzen mit eigener morphologischer Organisation, das in der Lage ist, höheren Pflanzen als Standort zu dienen."

Nach dieser Definition der Bodenschutzkonzeption der Bundesregierung hört sich Karin Hohbergs Forschungsgebiet erst einmal eher dröge an. Wer aber mit der 42-jährigen Biologin spricht, wird schnell von ihrer Begeisterung angesteckt. "Wir nennen den Boden den Regenwald des kleinen Mannes, so groß ist die Vielfalt an Lebensformen, die wir darin finden. Seine Bedeutung kann kaum überschätzt werden: Er ist ja die zentrale Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen." Hohbergs Arbeitsplatz, von dem aus sie diese spannende Welt erforscht, ist das Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz. Hier hat sich unter der Leitung des ehemaligen Museumsdirektors Wolfram Dunger seit Ende der 50er-Jahre der wohl wichtigste Standort der Bodenzoologie in Deutschland etabliert. Dieser Forschungsschwerpunkt wird seit 1995 vom amtierenden Direktor Willi Xylander fortgesetzt, seit 2009 gehört das Haus als Teil der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main zur Leibniz-Gemeinschaft. Heute untersuchen die Görlitzer Forscher in sechs Sektionen vor allem die Sukzession von Bodentiergemeinschaften an gestörten Standorten, widmen sich aber auch der Taxonomie, Systematik und Biogeographie von Bodentieren, der Auenökologie sowie Nahrungsnetzen im Boden.

Seit 1998 gehört auch die gebürtige Münchnerin Karin Hohberg zu ihnen. Sie hat sich in ihrer Arbeit auf bestimmte Bodenbewohner konzentriert, die viele Nicht-Biologen wohl eher gruselig als spannend finden: die Nematoden. Diese Fadenwürmer finden sich in fast allen Böden und sind mit rund 15.000 bislang beschriebenen Arten und geschätzten 450.000 unbeschriebenen Arten einer der artenreichsten Stämme des Tierreichs - und für Karin Hohberg eine der faszinierendsten Tiergruppen überhaupt: "Als ich in einem Seminar zur Bodenzoologie zum ersten Mal durchs Mikroskop auf Nematoden geschaut habe, wusste ich: Das ist mein Forschungsgebiet. Diese Fadenwürmer besitzen eine ganz eigene Schönheit und eine unglaubliche Formenvielfalt."

Für die Forschung sind die Würmer unter anderem deshalb von Interesse, weil sie nahezu überall zu finden sind - aber bislang niemand genau weiß, wie die Tiere auch unter den ungünstigsten Umweltbedingungen existieren können. Dabei sind sie für den Nährstoffkreislauf unverzichtbar: Hauptakteure beim Recycling toter organischer Substanzen sind Bakterien und Pilze, von denen sich viele Bodennematoden ernähren. Durch den Fraß heizen sie das Bakterien- und Pilzwachstum an und leisten einen wichtigen Beitrag bei der Zersetzung organischen Materials. Sie nehmen so eine Schlüsselstellung im Ökosystem ein. "Leider werden Nematoden aufgrund der Schadwirkung einiger pflanzenparasitischer Arten oft nur negativ wahrgenommen", bedauert Karin Hohberg, "aber viele nicht parasitierende Arten tragen entscheidend zur Funktionsfähigkeit von Böden bei und sind ausgesprochen nützlich."

In ihrem neuesten Projekt untersuchen Karin Hohberg und Kollegen das Leben in sogenannten Mofette-Böden. Dort steigt entlang kleiner Risse und Spalten fast pures Kohlendioxid aus Magmakammern in 40 bis 60 Kilometer Tiefe bis an die Bodenoberfläche auf. Während Käfer diesen Sauerstoffmangel nicht überleben, geht es den Nematoden prächtig. "Wir finden dort nicht 15 bis 20 Arten pro Esslöffel Boden wie andernorts, aber doch immer noch drei Nematodenarten, die trotz fehlenden Sauerstoffs große Populationen aufbauen." Wie ihnen das gelingt, ist eine bislang ungeklärte Frage. Momentan bemüht sich eine Mitarbeiterin aus Hohbergs Team, die Nematodenarten, die die unwirtlichen Bedingungen verkraften, in Zucht zu nehmen. Anschließend untersucht sie im Labor, warum gerade diese Tiere den hohen CO2-Gehalt überleben und dann in den Mofette-Böden so große Populationen bilden, wie alle anderen Nematodenarten in "normalen" Böden zusammen. "In den umliegenden CO2-freien Böden kommen diese drei "Mofette-Arten" nur sporadisch und mit wenigen Individuen vor. Wir vermuten, dass das Fehlen von Nahrungskonkurrenten ein Grund für ihr gutes Auskommen und die massenhafte Vermehrung in den Mofette-Böden ist", so Karin Hohberg. "Das werden wir im kommenden Jahr eingehend untersuchen."

Ohnehin sind die Senckenberg-Forschungen in Görlitz meist mit ganz praktischen Fragestellungen verbunden - bedingt auch durch die Lage am Rande ehemaliger Braunkohle-Tagebaugebiete in der Lausitz. So begleiten die Bodenzoologen etwa die durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderte Studie zum künstlichen Wassereinzugsgebiet Hühnerwasser bei Spremberg (SFB/Transregio 38 "Strukturen und Prozesse der initialen Ökosystementwicklung in einem künstlichen Wassereinzugsgebiet"). Dieses Bergbaufolgegebiet wurde 2005 geschüttet und seitdem sich selbst überlassen. "Der Bergbau ist ein extremer Eingriff in die Landschaft", sagt Hohberg, "dabei wird Substrat aus vielen Metern Tiefe entnommen und verkippt, sobald die Kohle herausgeholt wurde. Wir beobachten am Beispiel dieser und anderer Bergbaufolgeflächen die Primärbesiedlung neuer Lebensräume durch Bodentiere. Es dauert viele Jahrzehnte, bis aus den Schüttsubstraten funktionsfähiger und organismenreicher Boden wird, aber nur Wochen, bis die Substrate von den ersten, besonders genügsamen Pionierarten besiedelt sind." Auch hier zeigen die Nematoden echte Kämpferqualitäten: "Einige Fadenwurmarten können bis zu zehn Jahre lang in einem Stadium verharren, in dem sie ihren Stoffwechsel auf unter ein Prozent der Leistung fahren. Damit sitzen sie die lebensfeindlichen Situationen, die auf den unbewachsenen Bergbaufolgeflächen besonders oft auftreten - wie zum Beispiel Trockenheit - gewissermaßen aus.

Auch wenn die zähen Würmer quasi überall sind: Zu sehen bekommen sie nur die wenigsten Menschen. Dafür sind sie mit einer Größe von 0,2 bis maximal 4 Millimetern zu klein. "Dabei sehen sie mit ihren mitunter geweihartigen Kopfanhängen und Zahn-, Speeroder Stilett-bewehrten Mundhöhlen wirklich spektakulär aus", weiß Karin Hohberg. Davon konnten sich die rund 600.000 Besucher des wohl bislang erfolgreichsten Ausstellungsprojekts ihrer Einrichtung überzeugen: Gerade ist die Wanderausstellung "Unter unseren Füßen - Lebensraum Boden" nach sieben Jahren nach Görlitz zurückgekehrt, wo sie nun grundlegend überarbeitet wird. Fadenwürmer gibt es aber auch weiterhin zu bewundern: in einer 30-fach vergrößerten Bodensäule mitten im Museum. Und wem das zu harmlos ist, der kann sich in der gerade eröffneten Ausstellung "Faszination und Grusel" Schauer über den Rücken jagen lassen -dort werden Spinnen und Skorpione gezeigt.

www.senckenberg.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Mit der Bodensäule können Besucher des Senckenberg Museums für Naturkunde Görlitz das Leben unter ihren Füßen in einem 30fach vergrößerten Modell betrachten.

Leben auf dem Käferfriedhof: Während Käfer den Austritt von Kohlendioxid aus sogenannten MofetteBöden nicht überleben, gedeihen dort etliche Arten von Fadenwürmern trotz Sauer stoffmangels prächtig.

Vielfalt im Untergrund: Mit geschätzten 450.000 Arten sind die in fast allen Böden vorkommenden Nematoden einer der artenreichsten Stämme des Tierreichs überhaupt. Drei Beispiele: Acrobeles ciliatus, ein Bakterienfresser, dessen geweihartige Kopflappen dem Abweiden von Bakterien dienen. Aphelenchoides blastophthorus, ein Pilzfresser, der mit seinem feinen Stilett Pilzzellen ansticht und anschließend aussaugt. Prionchulus auritus, ein räuberischer Nematode, der mit seiner riesigen Mundhöhle andere Fadenwürmer, Einzeller und Rädertiere erbeutet.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 4/2010, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2011