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FRAGEN/023: Mehr Rechte für unsere Natur - NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger zu Grüner Infrastruktur (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Sommer 2023
Mitgliedermagazin des NABU (Naturschutzbund Deutschland) e.V.

Mehr Rechte für unsere Natur

Interview mit NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger zu Grüner Infrastruktur


Ende März, nach dem denkwürdigen, 20 Stunden andauernden Koalitionsausschuss, hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Idee einer Grünen Infrastruktur beschrieben. Wir sprechen mit NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger darüber, was es damit auf sich hat.

Jörg-Andreas Krüger, was genau ist unter Grüner Infrastruktur zu verstehen?

Der Begriff beschreibt ein Netz aus Flächen für die Natur. Mit Grüner Infrastruktur soll ein bundesweites System geschaffen werden, das bestehende Schutzgebiete und renaturierte Flächen sichert - beispielsweise in Mooren und Flussauen -, in ihrer Qualität verbessert und diese Biotope mit Korridoren vernetzt. Das soll Naturkrise und Klimakatastrophe entgegenwirken. Die Europäische Kommission und das Bundesamt für Naturschutz haben mit der EU-Biodiversitätsstrategie und dem Bundeskonzept Grüne Infrastruktur bereits entsprechende Definitionen vorgelegt.

Wieso ist das notwendig?

Wir haben dramatisch viel Natur verloren, unter anderem durch den riesigen Flächenverbrauch für Siedlungen und Gewerbegebiete und die Intensivierung der Landwirtschaft. Bei der Suche nach Ersatz für fossile Energie und Rohstoffe entstehen nun zusätzliche Flächenbedarfe, zum Beispiel für den beschleunigten Ausbau von erneuerbaren Energien. Es wird daher dringend ein Konzept benötigt, das Forderungen für Natur und Klima gleichberechtigt neben diese Bedarfe stellt und der Wiederherstellung der Natur ebenfalls ein überragendes öffentliches Interesse zugesteht.

Wie kommt es, dass die Idee der Grünen Infrastruktur jetzt Fahrt aufnimmt?

Auf der Weltnaturkonferenz 2022 in Montreal haben die Staaten vereinbart, 30 Prozent der Land- und Meeresfläche zu schützen und gut zu managen. Diese Flächen sollen in der Grünen Infrastruktur bereitgestellt, aufgewertet, gesichert und vernetzt werden. Heute ist es leider so, dass Schutzgebiete oft zu kleinteilig und nicht vernetzt sind, sie nicht gut genug schützen, vor allem weil es an Geld und Personal fehlt.

Woher sollen die Ressourcen kommen?

Zusätzlich zu den natürlich notwendigen Haushaltsmitteln können die Kompensationsmaßnahmen für den Ausbau von Windenergie, Photovoltaik und Stromnetzen helfen, wenn sie sinnvoll gebündelt werden. Wenn mit einem Bauprojekt Natur zerstört wird, müssen diese Schäden nach den Regeln des Bundesnaturschutzgesetzes ausgeglichen werden. In vielen Bundesländern werden geeignete Maßnahmen bereits im Rahmen von Flächenpools und Ökokonten gebündelt und erfolgreich umgesetzt. Dadurch wird der Naturschutz gestärkt und die Projektbetreiber können ihre Kompensationsverpflichtung schneller und qualitativ hochwertig erfüllen. Wichtig ist jetzt, dass das bundesweit geregelt wird.

Was bedeutet das für Flächen, die nicht zur Grünen Infrastruktur gehören?

Besser und nachhaltiger müssen wir mit allen Flächen umgehen, um Natur und Klima zu schützen und uns an den Klimawandel anzupassen. Es gilt die grassierende Flächenversiegelung einzugrenzen, Landwirtschaft und Fischerei naturverträglich zu gestalten. Insgesamt geht es darum, so viele Flächen wie möglich naturfreundlich zu nutzen und zu gestalten - auch in Siedlungen.

Vermutlich ist das im Detail nicht so einfach?

Leider können wir nicht einfach einen Schalter umlegen und dann ist alles gut. Wir müssen trotzdem mit hohem Tempo loslegen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollten alle für die Grüne Infrastruktur relevanten und zu sichernden Flächen identifiziert sein. Für die notwendigen Gesetzesänderungen braucht es großen politischen Willen und den Mut auch in Konflikte mit anderen Nutzungsinteressen zu gehen. Bundesumweltministerin Steffi Lemke hat im Mai erste Gedanken für das Naturflächenbedarfsgesetz formuliert. Das macht Hoffnung, ist aber nur der Anfang.

"Insgesamt geht es darum, so viele Flächen wie möglich naturfreundlich nutzen und zu gestalten - auch in Siedlungen."



Und wie muss es weitergehen?

Die Ampel hat in den letzten zwei Jahren unter dem Eindruck des Angriffskriegs auf die Ukraine bewiesen, dass sie schnell gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen kann, als es darum ging klimaschädliche Infrastruktur wie die LNG-Terminals gegen alle Kritik durchzusetzen. Nun werden zukunftsweisende, positive Impulse benötigt. Die Bundesregierung darf angesichts der Klima- und Naturkrise nicht beim Tempo nachlassen und muss den Naturschutz zum relevanten Faktor ihrer Entscheidungen machen.

Welche Rolle wird der NABU haben?

Das hat zwei Dimensionen. Als mitgliederstärkster Umweltverband in Deutschland werden wir den Druck auf die Parlamente in Bund, Ländern und Europa weiter erhöhen. Bisher fallen politische Entscheidungen vor allem zu Gunsten kurzfristiger Wirtschaftsinteressen. Der Naturschutz fällt oft hinten runter, trotz eindringlicher Appelle der Wissenschaft. Da sind andere Prioritäten zu setzen. Die Natur ist unsere wertvollste Verbündete im Kampf gegen die Klimakrise und steht selbst stark unter Druck. Der Fokus auf technischen Klimaschutz, vor allem bei der Energiegewinnung, darf die Natur nicht zusätzlich belasten. Mit der Grünen Infrastruktur haben wir einen Ansatz, der Antworten liefert und auch in politischen Prozessen verstanden wird.

... und die zweite Dimension?

Dabei handelt es sich um die praktische Umsetzung. Niemand bringt so umfassende Erfahrungen in der Naturschutzarbeit mit wie der NABU. Mit diesem Pfund müssen wir wuchern. Der NABU wird noch mehr als bisher über alle Ebenen Naturschutzprojekte identifizieren, anstoßen und umsetzen. Da müssen alle mitmachen - von Mitgliedern und Ehrenamtlichen, über Gruppen und Landesverbände bis in den Bundesverband. Wir müssen Qualitätsmerkmale für die Vernetzung der Gebiete beschreiben und die Schutzgebiete wirksam verbinden. Da ist noch unglaublich viel zu tun. Aber wer, wenn nicht wir: Wir sind schließlich die Naturschutzmacher*innen!

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Info

Überragendes öffentliches Interesse

Von einem überragenden öffentlichen Interesse wird gesprochen, wenn bei der Abwägung von Interessen, zum Beispiel bei Genehmigungsverfahren, die Sicherheit des Staates oder die öffentliche Sicherheit über andere private oder öffentliche Ansprüche gestellt werden. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat das auf die Energiepolitik übertragen: "... bis die Stromerzeugung im Bundesgebiet nahezu treibhausgasneutral ist, sollen die erneuerbaren Energien als vorrangiger Belang in die jeweils durchzuführenden Schutzgüterabwägungen eingebracht werden..."
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Quelle:
Naturschutz heute - Sommer 2023, Seite 22-23
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
Hausanschrift: Charitéstraße 3, 10117 Berlin
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"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) e.V.
und erscheint vierteljährlich. Für Mitglieder
ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 25. Juli 2023

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