Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
26.09.2023 | Tamara Baumann | WSL News
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«Das Wild frisst jene Baumarten, die wir für die Zukunft benötigen»
In vielen Schweizer Wäldern und vor allem Schutzwäldern fehlt es an nachwachsenden Bäumen. Ein Grund sind Rothirsche, Gämsen und Rehe, die junge Bäume fressen oder fegen. Warum das so ist und was es mit Blick auf den Klimawandel bedeutet, erklärt Andrea Doris Kupferschmid der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL.
Begriffe mit * werden im Glossar unten erklärt.
Frau Kupferschmid, was ist der Einfluss von Wildhuftieren auf Schweizer Wälder?
Wenn Rehe, Rothirsche und Gämsen die Triebe von jungen Bäumen oder ganze Jungbäume fressen, wird dies Wildverbiss* genannt. Die Tiere fressen aber nicht alle Baumarten gleichermassen, sondern picken sich gezielt jene heraus, die ihnen schmecken. So werden nur noch einzelne Baumarten zu grossen Bäumen. Wildverbiss kann somit langfristig zu Veränderungen in der Artenzusammensetzung, d.h. zu einer Entmischung* einzelner Baumarten, führen.
Warum ist das kritisch?
Die Baumverjüngung* - also dass eine neue Generation von Bäumen
aufwächst - ist entscheidend für die Zusammensetzung der zukünftigen
Wälder. Die Verjüngung beeinflusst massgebend die Stabilität und die
Fähigkeit der zukünftigen Wälder, sich von Stress oder Störungen zu
erholen.
Reaktion von Bergahorn aus dem Reststück des Endtriebes nach leichtem
Verbiss. Die Höhenzuwächse im neuen Trieb sind über Jahre kleiner als
der Zuwachs vor dem Verbiss.
Foto: © Andrea D. Kupferschmid (WSL)
Hoher Wildeinfluss führt zu einer weniger grossen Vielfalt von
Baumarten, was sowohl bezüglich der Biodiversität als auch der
Schutzwaldwirkung schlecht ist. Zum Beispiel sind reine Fichtenwälder
viel anfälliger auf Borkenkäfer als Mischwälder mit Fichte, Weisstanne
[1] und Bergahorn [2]. Die letzten beiden Arten halten auch Stürme und
Trockenheit besser aus als die Fichte. Wenn der alte Bestand* stirbt
und zu wenig Verjüngung aufwächst, müssen in Schutzwäldern teure
Verbauungen gegen Naturgefahren gebaut werden. Es gibt eine ganze
Kette von Folgen für die Wälder, wenn einzelne oder sogar alle
Baumarten infolge des Wildeinflusses nicht mehr aufkommen können.
Auch mit Blick auf den Klimawandel?
Ja, genau. Der Klimawandel wird mehr Extremereignisse wie Stürme, Massenausbreitungen von Käfern, Trockenheit und Hitze bringen. Mischbestände* - also artenreiche Bestände - können solchen Störungen besser standhalten als Reinbestände*. Viele Buchenwälder haben beispielsweise ein Problem, wenn es trockener wird, da die Buche anfällig auf Trockenheit ist. Man sollte dort trockenheitsresistentere Bäume wie Eiche, Kirsche, Ahorn und Mehlbeere fördern.
Wir beobachten jedoch, dass das Wild gerade Baumarten, welche wir für die Zukunft benötigen, vermehrt frisst oder fegt*. Dies sind in Buchenwäldern insbesondere die Eiche oder der Ahorn, im Gebirgswald die Tanne und die Vogelbeere, und noch weiter oben Bergföhren oder Lärchen.
Hat sich der Wildeinfluss ist der jüngsten Zeit verstärkt?
Das ist so. Einerseits werden die Tiere vermehrt aus den offenen Flächen in den Wald vertrieben. Gerade Rothirsche und Gämsen würden vorwiegend auf dem offenen Land äsen*. Das können sie in der Schweiz aber immer weniger. Da es in den Wäldern meist weniger Nahrung hat, verbeissen sie dort dann auch Bäume. Aber auch in den Wäldern nehmen Störungen besonders durch Erholungssuchende zu. Meist ziehen sich dann die Tiere ins geschützte Dickicht oder in Verjüngungsbestände zurück.
Andererseits haben die Wild-Populationen in der Schweiz zugenommen [3] und sich der Rothirsch weiter ausgebreitet. Wir haben bereits jahrzehntelang einen hohen Verbiss, das belegt beispielsweise das von der WSL durchgeführte Schweizerische Landesforstinventar [4]. Das heisst, mittlerweile fehlen in gewissen Wäldern nicht nur die ganz kleinen Bäume, sondern auch die mittelgrossen, die in unmittelbarer Zukunft den Naturgefahrenschutz übernehmen müssten.
Zudem sollten viele Waldbestände artenreicher werden, um ihre Funktionen längerfristig sicherzustellen. Besonders wichtig sind Baumarten, von denen wir annehmen, dass sie mit den wärmeren und trockneren Bedingungen besser zurechtkommen werden. Da aber gerade diese besonders gern verbissen werden, sind heute mehr Gebiete vom Wildeinfluss betroffen.
Auf politischer Ebene wird oft von einem Wald-Wild-Konflikt gesprochen. Warum?
Der Konflikt entsteht, wenn Wildhüter und Wildhüterinnen, bzw. Jägerinnen und Jäger der Meinung sind, es habe relativ wenig Wild oder das Wild stelle kein Problem für die Waldverjüngung dar. Auf der anderen Seite beobachten jedoch die Forstfachleute, dass gerade die zukunftsfähigen Baumarten häufig verbissen oder gefegt werden.
Im Prinzip ist es kein Konflikt zwischen Wald und Wild, sondern ein Konflikt von Menschen, die im Waldbereich arbeiten und Menschen, die jagen oder Wildhüter, Wildhüterinnen sind. Also ist es ein Mensch-Mensch-Konflikt. Reh, Rothirsche und Gämse - das Wild - hat keinen Konflikt mit dem Wald.
Dort sehe ich auch den Lösungsansatz: Menschen müssen miteinander sprechen und aufeinander zugehen. Dann kann man den Konflikt lösen. Wird das Problem immer nur auf Wald und Wild abgeschoben, können auch keine Kompromisse gefunden werden.
Was sind Ihre Empfehlungen im Umgang mit der Wald-Wild-Thematik?
In der Umsetzung sollten Massnahmen auf der lokalen Ebene greifen und an die lokalen Bedingungen angepasst sein. Die lokalen Forstfachleute, Jägerinnen und Jäger kennen die Wälder und das Wild vor Ort am besten. Daher ist es zentral, dass die Interessengruppen auf Seite des Waldes und der Jagd gemeinsam Massnahmen erarbeiten und umsetzen. Sie können beispielsweise den Lebensraum aufwerten, Schussschneisen anlegen, Schwerpunktbejagungen organisieren, Verjüngungsschläge durchführen etc. Diese Massnahmen sollten koordiniert werden, damit sie gemeinsam zum Ziel der Förderung einer artenreichen Verjüngung führen. Die Wirkung der Massnahmen sollte überprüft werden, so dass sie gegebenenfalls ergänzt bzw. verstärkt werden können.
Im Wald- wie im Jagdgesetz ist festgelegt, dass der Wildbestand so zu regeln sei, dass die Verjüngung des Waldes ohne Schutzmassnahmen (Einzelschutz, Zäune etc.) gesichert ist. Dennoch hat sich die Situation in vielen Gebieten nicht verbessert und an gewissen Orten gar verschlimmert. Die Behörden könnten dort mit Einflussnahme auf die Wald-Wild-Konzepte eine konsequentere Umsetzung dieser Gesetze fördern. Dies ist es auch, was indirekt das aktuelle Postulat von Othmar Reichmuth [5] fordert. Ausserdem könnte man auch gewisse Erleichterungen bei der Jagd einführen. Zum Beispiel, dass man zu anderen Zeiten jagen darf.
Was kann die Forschung zur Konfliktlösung beitragen?
Wir versuchen, den tatsächlichen Wild-Einfluss neutral aufzuzeigen,
insbesondere wo sich die verschiedenen Parteien nicht einig sind. Dies
machen wir mit gezielten Inventuren, wobei wir auf Stichprobenflächen
die Wirkung von Verbiss auf die Baumverjüngung [6] beurteilen. Zudem
können wir bessere Methoden für Gutachten und Monitorings schaffen und
die Förster und Försterinnen unterstützen, den Verbisseinfluss besser
zu beurteilen. Auf solche Methoden weisen wir beispielsweise in der
aktuellen Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für das Forstwesen
(SZF) hin.
Anfang Texteinschub
Wildeinfluss in Kirchberg SG stärker als angenommen
Andrea Kupferschmid hat mit ihrem Team mehrere Inventuren zum
Wildeinfluss durchgeführt, zuletzt in einem Buchenwald in Kirchberg SG
[7]. Ihr Fazit: «Das Wild hatte grösseren Einfluss als ich erwartet
habe.» Einzig die Buche war in allen Höhenklassen* häufig vertreten.
Die Zukunftsbaumarten, also Arten, welche mit den durch den
Klimawandel verursachten wärmeren und trockeneren Bedingungen besser
zurechtkommen dürften, waren fast nur in der kleinsten Höhenklasse
vorhanden. Bei ihnen war der beobachtete Verbisseinfluss stärker und
langanhaltender als für Buchenwälder erwartet. Das Team stellte fest,
dass im Winter verbissene Bäume im darauffolgenden Sommer oft keinen
neuen Endtrieb* an der Spitze bildeten, also verzögert auf den Verbiss
reagierten und somit ihr Wachstum um ein oder gar mehrere Jahre
gestoppt wurde. Und das traf nicht nur auf Baumarten zu, von diesen
bereits bekannt war, dass sie zum Teil schlecht mit Verbiss umgehen
können, wie die Weisstanne [8]. In Kirchberg führt der Verbiss derzeit
zu einem reduzierten Wachstum jener Baumarten, die mit dem zukünftigen
Klima besser umgehen können und begünstigt damit die Buche. Der
Verbiss beeinflusst also die Entwicklung dieser Buchenwälder zu
klimatisch angepassten Mischwäldern negativ.
«Dies zeigt, wie wichtig es ist, die Einflussfaktoren vor Ort konkret
zu untersuchen. Daraus können dann die Verantwortlichen die optimalen
Massnahmen in der Bejagung und im Waldbauableiten», sagt Kupferschmid.
Siehe auch:
https://www.waldwissen.net/de/waldwirtschaft/schadensmanagement/wildschaeden/auswirkungen-von-wildverbiss-in-buchenwaeldern-bei-kirchberg
Ende Texteinschub
Über Andrea D. Kupferschmid
Seit 2004 forscht Andrea Doris Kupferschmid zum Einfluss von Wild auf
die Baumverjüngung, seit 2012 an der WSL als wissenschaftliche
Mitarbeiterin in der Gruppe Bestandesdynamik und Waldbau. In ihrer
Forschung möchte sie eine objektive Datengrundlage zum schweizweiten
Einfluss von Wild auf die lokale Waldverjüngung schaffen. Seit 2020
ist sie zudem als Beraterin zu Wildverbiss für Waldschutz Schweiz [9]
tätig.
Bildunterschrift einer im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildung der Originalpublikation:
Junge Rehe äsen an einer Waldverjüngung. Foto: G. Mengotti (HAFL),
Fotofalle im Längwald BE.
Publikationen
Abegg M., Allgaier Leuch B., Kupferschmid A.D. (2021) Wildverbiss:
wichtige Baumarten unter Druck Wald Holz 102(9), 20-22. Institutional
Repository DORA
https://www.dora.lib4ri.ch/wsl/islandora/object/wsl:28406
Kupferschmid A.D., Georgin A., Willisch C. (2023) Häufigkeit von Fege-
und Schlagspuren inner- und ausserhalb der Tageseinstände von
Rothirschen im Berner Mittelland Schweiz. Z. Forstwes. 174(5),
288-295. https://doi.org/10.3188/szf.2023.0288 Institutional
Repository DORA
https://www.dora.lib4ri.ch/wsl/islandora/object/wsl:34693
Angst J.K., Kupferschmid A.D. (2023) Assessing browsing impact in
beech forests: the importance of tree responses after browsing
Diversity 15(2), 262 (22 pp.). https://doi.org/10.3390/d15020262
Institutional Repository DORA
https://www.dora.lib4ri.ch/wsl/islandora/object/wsl:32911
Pubblicazioni
Dubach V., Hölling D., Stroheker S., Dennert F., Blaser S., Beenken
L., Queloz V. (2022) Situazione fitosanitaria dei boschi 2021. WSL
Berichte: Vol. 124. Birmensdorf: Istituto federale per la foresta, la
neve e il paesaggio WSL. 69 p. Institutional Repository DORA
https://www.dora.lib4ri.ch/wsl/islandora/object/wsl:31554
Verbisseinfluss - Monitoring in Buchenwäldern
Eine Abschätzung des Verbisseinflusses erfolgt in Buchwäldern des
Forstreviers Kirchberg. Infolge der Laubbaumarten, welche oft
Johannistriebe machen oder auf den Verbiss im selben Jahr reagieren
können wird eine Herbstinventur der nächsten zwei Bäumchen pro
Höhenklasse und Baumart gemacht.
https://www.wsl.ch/de/projekte/verbisseinflussmonitoring-in-buchenwaeldern/
Wald und Wildhuftiere im Waldlabor Zürich
Die Zusammenhänge des Wirkungsgefüges «Baumverjüngung - wildlebende
Huftiere - anthropogene Aktivitäten» werden mittels Monitoring von
Huftieren und dem Verbisseinfluss auf die Verjüngung in einem stark
durch Menschen frequentieren Wald, dem Waldlabor Zürich auf dem
Hönggerberg, untersucht.
https://www.wsl.ch/de/projekte/wald-und-wildhuftiere-im-waldlabor-zuerich/
Verbissentwicklung im Kanton Freiburg
Der Kanton Freiburg erhebt seit 2013 den Verbiss an der Baumverjüngung
mittels Stichproben. Diese Verjüngungsdaten werden zusammen mit Daten
der wildlebenden Huftiere analysiert. Zusätzlich werden Daten der
schweizerischen Landesforstinventare 1993/1995 und 2009-2017 für diese
Region analysiert.
https://www.wsl.ch/de/projekte/verbissentwicklung-im-kanton-freiburg/
Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen, Ausgabe 5/September 2023:
Wildeinfluss auf den Wald
https://www.forstverein.ch/de/zeitschrift-szf
Waldwissen.net - Einfluss des Verbisses auf die Verjüngung besser
beurteilen
https://www.waldwissen.net/de/waldwirtschaft/schadensmanagement/wildschaeden/einfluss-des-verbisses-auf-die-verjuengung
Waldwissen.net - Auswirkungen von Wildverbiss in Buchenwäldern bei
Kirchberg SG
https://www.waldwissen.net/de/waldwirtschaft/schadensmanagement/wildschaeden/auswirkungen-von-wildverbiss-in-buchenwaeldern-bei-kirchberg
WSL - Verbiss der Baumverjüngung durch Schalenwild
https://www.wsl.ch/de/wald/bewirtschaftung-und-waldfunktionen/waldbau-wachstum-und-ertrag/waldverjuengung/verbiss-durch-schalenwild.html
Anmerkungen:
[1] https://www.waldwissen.net/de/lebensraum-wald/baeume-und-waldpflanzen/nadelbaeume/die-weisstanne-abies-alba
[2] https://www.waldwissen.net/de/lebensraum-wald/baeume-und-waldpflanzen/laubbaeume/der-bergahorn-acer-pseudoplatanus
[3] https://www.jagdstatistik.ch/de/home
[4] https://www.lfi.ch/
[5] https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233129
[6] https://www.waldwissen.net/de/waldwirtschaft/schadensmanagement/wildschaeden/einfluss-des-verbisses-auf-die-verjuengung
[7] https://www.waldwissen.net/de/waldwirtschaft/schadensmanagement/wildschaeden/auswirkungen-von-wildverbiss-in-buchenwaeldern-bei-kirchberg
[8] https://www.waldwissen.net/de/waldwirtschaft/schadensmanagement/wildschaeden/reaktion-der-tanne-nach-verbiss
[9] http://waldschutz.ch/
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https://www.wsl.ch/de/ueber-die-wsl/news/newsletter/
*
Quelle:
Presseinformation vom 26.09.2023
Eidg. Forschungsanstalt WSL
Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf
Tel.: +41 44-739 21 11
E-Mail:
Allgemeine Anfragen: wslinfo(at)wsl.ch
Medien: media(at)wsl.ch
Internet: www.wsl.ch
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. Oktober 2023
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