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ATOM/1129: Was trieb die Justizministerin, längeren AKW-Laufzeiten zuzustimmen? (DUH)


Deutsche Umwelthilfe e.V. - 11. November 2010

Was trieb die Justizministerin bei ihrer Zustimmung zu längeren AKW-Laufzeiten?

Mit erstaunlicher Begründung lehnt Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) Akteneinsichtsbegehren der Deutschen Umwelthilfe ab - Angeblich "Funktionsfähigkeit der Bundesregierung" gefährdet - DUH legt Widerspruch ein - Kehrtwende von Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger bei Laufzeitenfrage nach wie vor im Dunkeln - Druck von Parteichef Westerwelle entscheidend?


Berlin, 11. November 2010: Eine unvermittelte Kehrtwende von Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vor der Entscheidung über die bis zu 14-jährige Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke gab von Anfang an Rätsel auf. Die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) verlangte Aufklärung auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes, IFG. Nun hat die Ministerin das DUH-Begehren mit der Begründung abgelehnt, im Fall der Herausgabe der Akten bestehe die "Gefahr einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Bundesregierung". Die DUH legt Widerspruch ein und will notfalls die Gerichte bemühen. Es geht um eine bisher ungeklärte Merkwürdigkeit im an Merkwürdigkeiten nicht raren Entscheidungsprozess der Bundesregierung zu den Reaktorlaufzeiten.

Im Einzelnen: Mitte August hatte sich das Justizministerium auf maximal zwei Jahre und vier Monate als "moderate" und in der Konsequenz nicht im Bundesrat zustimmungspflichtige Laufzeitverlängerung der alternden Meiler festgelegt. Zwei Wochen später jedoch stimmte die Verfassungsministerin plötzlich einer Laufzeitverlängerung von bis zu 14 Jahren zu - also einer immerhin sechsmal längeren Frist. "Wir wollen wissen, was Frau Leutheusser-Schnarrenberger zu diesem spektakulären Kurswechsel veranlasst hat", sagt DUH-Bundesgeschäftsführer Rainer Baake. "Gab es eine neue verfassungsrechtliche Bewertung in ihrem Haus? Dann muss es dazu Akten geben." Nach der Wende im Justizministerium hatte es in der Öffentlichkeit Spekulationen gegeben, die Ministerin, die nicht als glühende Verfechterin der Laufzeitverlängerung galt, sei von ihrem Parteivorsitzenden, Außenminister Guido Westerwelle, unter Druck gesetzt worden.

Einerseits argumentiert das BMJ nun in seinem Ablehnungsbescheid des DUH-Begehrens, die Vorbereitung einer Gesetzesvorlage sei nicht Verwaltungs-, sondern Regierungstätigkeit und unterliege deshalb nicht dem Informationsfreiheitsgesetz. Dies sei "mit dem Willen des Gesetzgebers schwerlich vereinbar", erklärt dazu die DUH und zitiert aus der Gesetzesbegründung Eindeutiges: "Die Vorbereitung von Gesetzen in den Bundesministerien als wesentlicher Teil der Verwaltungstätigkeit fällt ebenfalls in den Anwendungsbereich des Informationsfreiheitsgesetzes".

Andererseits sei die "Funktionsfähigkeit der Bundesregierung" gefährdet, argumentiert das BMJ weiter, weil der so genannte "Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung" berührt werde. Dabei handelt es sich um jenen ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Ausnahmegrund, der auch für die Nachforschungen parlamentarischer Unersuchungsausschüsse tabu ist. Deshalb prüft die DUH in ihrem Widerspruch, ob die von ihr begehrten Dokumente im Rahmen eines solchen Ausschusses offenbart werden müssten. Klares Ergebnis: Ja, sie müssten. Denn die Gesetzesvorbereitung ist nach einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nur in laufenden Verfahren geschützt, nicht aber wenn sie abgeschlossen sind. Das ist aber hier der Fall, denn nach dem Kabinettsbeschluss vom 28. September übergab die Bundesregierung die Gesetzesvorlage zur Laufzeitverlängerung (Elftes Änderungsgesetz zum Atomgesetz) ausdrücklich als so genannte Formulierungshilfe den Fraktionen von Union und FDP. Für die Bundesregierung war das Verfahren damit abgeschlossen und allein der Deutsche Bundestag als Legislative entschied über die Zukunft der Altreaktoren. Bezeichnenderweise lässt es das BMJ in seinem Ablehnungsbescheid auch an jeglicher, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebotenen Einzelfallprüfung fehlen. Die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Regierung wird pauschal behauptet, aber in keiner Weise unter Bezugnahme auf die konkret von der DUH angefragten Dokumen te geprüft. Das ist mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar.

"Insgesamt ist die Ablehnung der Einsichtnahme juristisch schwer nachvollziehbar", erklärt die Leiterin Energiewende und Klimaschutz der DUH und Autorin des Widerspruchs, Rechtsanwältin Cornelia Ziehm. "Die Akten müssten einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss vorgelegt werden und das ist der Maßstab auch für Informationsbegehren auf der Grundlage entsprechender Informationsgesetze".

Jenseits der juristischen Auseinandersetzung sei es "sehr bedenklich, dass die Bundesregierung sich mit Händen und Füssen gegen die Offenbarung von Entscheidungen wehrt, die doch angeblich von hoher Sachlichkeit geprägt waren. Man fragt sich: Was gibt es da zu verbergen?". Ausdrücklich weist Ziehm darauf hin, dass auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) der Regierung vorgeworfen habe, die Entscheidung über die Laufzeitverlängerung sei eben gerade nicht durch sachliche Argumente begründet, sondern entspringe einem Verhandlungsprozess. Lammert habe auch keine Zweifel gelassen, dass er die Atomgesetznovelle für zustimmungspflichtig halte.

Dateien: http://www.duh.de/uploads/media/BMJ_Widerspruch_111110.pdf


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Quelle:
DUH-Pressemitteilung, 11.11.2010
Deutsche Umwelthilfe e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2010