WWF Magazin, Ausgabe 1/2023
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature
Die Balance halten
von Heike Zidowitz, WWF
Haie und Rochen kommen aus einer anderen Zeit. Fünf Massensterben der Erdgeschichte haben sie überstanden. Jetzt droht den Knorpelfischen das Aus, was die Weltmeere aus dem Gleichgewicht bringen würde. Deshalb hat der WWF eine internationale Initiative gestartet. Ein Notfallplan für Haie und Rochen soll die am stärksten gefährdeten Bestände retten.
"Der massive Verlust von Haien und Rochen ist nicht nur bedrohlich für die Tiergruppe selbst, sondern auch fatal für die Weltmeere."
Ihre Rückenflosse über Wasser genügt, um an Stränden Panik auszulösen: Haie haben ein Killer-Image und werden als ultimative Feinde gefürchtet. Wenig bekannt dagegen sind ihre Superfähigkeiten (siehe auch folgende Doppelseite)*. Damit sind sie als Tiergruppe seit mehr als 450 Millionen Jahren erfolgreich - und erdgeschichtlich doppelt so alt wie Dinosaurier. Heute gelten diese perfekten Jäger als die natürlichen Herrscher der Meere. Lange genug dachten viele: Was kann ihnen schon passieren? Doch leider sind auch diese Tiere nicht unverwundbar. Im Gegenteil: Die Weltnaturschutzunion IUCN veröffentlichte 2021 eine fast vollständige Bewertung des Gefährdungsstatus der mehr als 1200 Arten von Haien und ihren nahen Verwandten, den Rochen und Seekatzen - mit alarmierendem Ergebnis. Die Jäger sind längst die Gejagten. Ein Drittel dieser urtümlichen Knorpelfische ist inzwischen vom Aussterben bedroht.
Die Hauptursache ist eindeutig: Schätzungsweise 100 Millionen Haie und Rochen werden jedes Jahr weltweit durch Menschen getötet. Ihr Fleisch inklusive Flossen dient uns als Nahrung, ihr Leberöl und ihre Knorpel landen als Rohstoff in der Pharma- und Kosmetikindustrie, ihre Haut wird zu Leder verarbeitet. Allein die Bestände von 18 ozeanischen Arten, so eine Analyse, sind seit 1970 um mehr als 70 Prozent geschrumpft, weil im gleichen Zeitraum die Fischerei um das 18-Fache zugenommen hat. Auch die Zerstörung ihres Lebensraums bedroht Haie und Rochen: Dort, wo Mangroven abgeholzt werden und Grundschleppnetze sowie andere schädliche Fischereipraktiken den Meeresboden zerstören, gehen die Kinderstuben vieler Haie verloren.
Zugleich sterben immer mehr Korallenriffe, wichtige Lebensräume vieler Haie und Rochen, an Korallenbleiche - verursacht durch die rasche Erwärmung der Meere. Eine weltweit durchgeführte Studie zeigte, dass mittlerweile an 20 Prozent der untersuchten Korallenriffe Haie komplett fehlen - vor allem im Indischen Ozean und im westpazifischen Raum. Besonders schlecht geht es den Haien und Rochen im Mittelmeer: Dort ist bereits mehr als die Hälfte der über 80 Arten bedroht - auch hier vornehmlich durch Überfischung. Die Tiere werden oft schneller gefangen, als sie sich fortpflanzen können. Denn Haie und Rochen entwickeln sich langsam, werden erst spät geschlechtsreif und haben nur wenige Nachkommen. Hinzu kommt: Zwei Drittel gebären ihre Jungen lebend. Daher ist der Wurf pro Weibchen oft recht klein. Dafür können sie sehr alt werden, der Grönlandhai als Extrembeispiel sogar bis zu 400 Jahre. Aber nur unter natürlichen Umständen.
Der massive Verlust von Haien und Rochen ist nicht nur bedrohlich für die Tiergruppe selbst, sondern auch fatal für die Ökosysteme der Weltmeere. Denn die Knorpelfische haben darin wichtige Funktionen. Indem sie alte und kranke Tiere jagen, halten sie die Population ihrer Beute vital und sorgen für ein ausgeglichenes Verhältnis der Arten in den marinen Lebensräumen. Durch ihre Wanderbewegungen in den Weiten und Tiefen der Meere verteilen sie außerdem Nährstoffe über große Distanzen. All dies macht sie zu unverzichtbaren Schlüsselarten, die Ökosysteme intakt halten und für gesunde Fischbestände sorgen, von denen Millionen von Menschen abhängig sind. Um dem Niedergang von Haien und Rochen entgegenzuwirken, fordert der WWF ein radikales Umdenken im internationalen Fischereimanagement. Ziel muss es sein, dass kontrolliert nur noch so viele Haie und Rochen gefangen werden, wie es wissenschaftlich vertretbar ist. Der Fang besonders stark gefährdeter und bereits geschützter Arten muss erheblich verringert oder ganz vermieden werden.
Zum Schutz der Haie und Rochen arbeitet der WWF heute in über 25 Ländern an Schutzprojekten und wirkt auf politische Entscheidungsträger:innen ein, um Verbesserungen der Fischereien und der Lebensbedingungen für die Menschen vor Ort durchzusetzen.
Ziel ist es überall, nachhaltige Fischereipraktiken zu fördern und dafür zu sorgen, dass nur noch Hai- und Rochenprodukte aus solch verantwortungsvollen Fängen im internationalen Handel zugelassen werden. Das geht nur, wenn wir Händler:innen und Konsument:innen aufklären und um deren Unterstützung bitten. Die Nachfrage nach Haiprodukten - Stichwort: Haiflossensuppe - ist vor allem in Asien groß. Deshalb ist dies besonders in unseren dortigen Büros ein wichtiges Thema. Aber nicht allein der Appetit auf Haiflossensuppe treibt die Jagd auf Haie an, ihr Fleisch ist ebenso wertvoll und wird weltweit vermarktet - auch bei uns in Europa. In manchen Ländern weiß der Staat nicht genau, wie viele Fischer:innen welche Hai- und Rochenarten überhaupt fangen und in welchen Mengen. Vor allem dort muss der Zugang reguliert werden - durch Fangverbote für stark gefährdete Arten, Lizenzen sowie Fangbegrenzungen und Kontrollen für diejenigen Bestände, die noch befischt werden können. Für solche Haiaktionspläne setzt sich der WWF in vielen Ländern wie beispielsweise Mexiko, Peru oder Pakistan ein.
Doch obwohl die internationalen Bemühungen zum Schutz von Haien und Rochen stetig zunehmen, schwinden deren Bestände durch die zunehmende Überfischung immer weiter. Aus diesem Grund verfolgen wir seit vergangenem Jahr einen weiteren, neuen Ansatz. Im Mai 2022 hat der WWF zusammen mit dem Elasmo Project, der James Cook University und der Wildlife Conservation Society eine Art Notfallkonzept zur Erholung der Bestände von Haien und Rochen ins Leben gerufen, die "Shark and Ray Recovery Initiative" (SARRI). Gemeinsam und in enger Zusammenarbeit mit Küstengemeinden wollen wir bis 2030 mindestens acht Populationen der am stärksten bedrohten Hai- und Rochenarten in einigen ihrer letzten Rückzugsgebiete in Entwicklungsländern wieder aufbauen. Dort sollen sichere Schutzzonen entstehen, wo die Jungtiere gefahrlos aufwachsen können und größere Ansammlungen von Tieren ungestört sind.
Dabei beziehen wir die lokalen Fischer:innen der Region mit ein. Denn auch sie wollen den Ausweg aus dem Dilemma, ihre Lebensgrundlagen durch Überfischung auf Dauer vernichten zu müssen, weil sie keine Alternative haben. Deshalb bieten wir ihnen und den Gemeinden mit neuen Einkommensquellen wie Jobs im Ökotourismus oder im Verkauf nachhaltig erzeugter Naturgüter die notwendige ökonomische Sicherheit, um ihre Fischerei einschränken oder verlagern zu können. So kann Überfischung reduziert oder verlangsamt werden, damit sich die Bestände wieder erholen. Ähnliches wurde bereits erfolgreich umgesetzt, zum Beispiel im mexikanischen Cabo Pulmo oder im philippinischen Tubbataha, wo neben Riffhaien sogar ein ganzes Riff gerettet wurde. Um eine globale Wirkung zu erzielen, wurde SARRI so entwickelt, dass sämtliche Methoden, Ressourcen und Schulungen für alle weltweit Aktiven im Haischutz online kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Einen Großteil der Anschubfinanzierung dazu hat der WWF übernommen. Klappt das Vorhaben, wird es eine viel größere Wirkung entfalten, als jede Naturschutzorganisation, jede Universität oder jede Behörde es allein vermag. Wir wollen so erreichen, dass sich bis 2033 mindestens 15 weitere Bestände hochbedrohter Knorpelfische erholen.
Im Golf von Gabès hat unser WWF-Team im November 2022 offiziell das erste SARRI-Projekt begonnen. Die etwa 100 Kilometer lange und breite Bucht im südöstlichen Teil Tunesiens ist mit ihrer Artenvielfalt - allein mehr als 240 Fischarten, davon 50 verschiedene Haie und Rochen - eine biologisch einzigartig reiche Region des westlichen Mittelmeeres. Der Golf von Gabès ist ein flaches und breites Schelfgebiet, wo es besonders gute Bedingungen für eine hohe Produktion an Plankton und Bodenlebewesen gibt.
Deshalb wurden im Golf bereits acht Zonen als sogenannte "Schlüsselgebiete der biologischen Vielfalt" ausgewiesen und 2017 zwei als Meeresschutzgebiete unter Schutz gestellt. Unser Team vor Ort hat die Ausweisung mit vorangetrieben. Was jedoch bislang fehlt, ist die Umsetzung der richtigen Maßnahmen. Kein einfaches Unterfangen, denn am Golf von Gabès leben auch 34000 Fischer:innen. Wegen der hohen Produktivität der Gewässer ist dort zudem der größte Teil der tunesischen Fischereiflotte ansässig. Zwar sind fast zwei Drittel Kleinfischer:innen, die vor allem mit handwerklichen Fangmethoden fischen. Einige der Fanggeschirre sind jedoch speziell auf diese Arten ausgerichtet und sogar nach den Haien und Rochen benannt, die damit gefangen werden: "Kallebia" nach dem traditionellen Namen "Kalbbhar" für den Sandbankhai oder "Guarrasia", der dem lokalen Namen für Geigenrochen entspricht. Viele der Fischer:innen fangen durch die Barcelona-Konvention geschützte Hai- und Rochenarten wie den Makohai gezielt oder zufällig mit anderen Fängen als sogenannten Beifang. Die Fischerei ist so nicht nur unreguliert, sondern teilweise auch illegal. Häufig wissen die Fischer:innen nichts von dem Schutzstatus oder können die Arten nicht identifizieren.
Da die Fänge bereits zurückgehen, deutet dies auf eine Überfischung hin und die Erträge sind nicht mehr ausreichend. Daher sind viele Fischer:innen motiviert, beim Bewahren ihrer artenreichen Meeresnatur aktiv mit anzupacken, damit die Bestände sich wieder erholen und sie in der Zukunft wieder mehr fangen können. Wir schulen sie daher, gezielter zu fischen und Hai- und Rochenarten besser zu identifizieren sowie Beifänge der bedrohten Arten zu vermeiden. Dabei helfen andere Methoden und Geräte, damit Haie und Rochen nicht in die Netze gehen oder daraus wieder entweichen können. Zudem wollen wir die Fischer:innen davon überzeugen, auch zeitliche Fangbeschränkungen oder dauerhafte räumliche Schließungen bestimmter Zonen zu akzeptieren, um bedrohte Lebensräume lokaler Schwerpunktarten zu schützen. Mehr Einnahmen zum Beispiel aus einem wachsenden Naturtourismus könnten die Motivation beflügeln. Passenderweise werden die nationalen Fischereivorschriften Tunesiens aktuell durch die dortigen Behörden überprüft. So können wir als WWF durch Gespräche und Expertisen Druck auf politische Entscheidungsträger:innen ausüben, den Schutz für Haie und Rochen zu verstärken.
WWF-Ziel ist es, dass sich die Bestände der am stärksten
gefährdeten Hai- und Rochenarten im tunesischen Golf von
Gabès bald erholen. Durch unser Schutzkonzept haben wir
eine gute Chance, dass dies gelingt und die Region zum Modell für
viele weitere SARRI-Projekte wird. So könnten Haie und Rochen
wieder ihre ökologischen Funktionen erfüllen und dazu beitragen,
ein gesundes Gleichgewicht in unseren Ozeanen zu erhalten. Gerade
das ist angesichts der Klimakrise dringender denn je.
Anfang Texteinschub
Haimatkunde
Haie und Rochen kommen weltweit in nahezu allen aquatischen
Lebensräumen vor - in den Tropen genauso wie im Polarmeer:
Eine Tiergruppe im Porträt.
Es gibt mehr als 1200 Arten von Haien und Rochen
Riese der Meere
Der Walhai ist der größte Fisch überhaupt. Er kann bis zu 20
Meter lang werden.
Gleitanzug
Haie haben keine Schuppenhaut, sondern eine Art Spezialanzug aus
zahllosen Minizähnen. Damit gleiten sie unauffällig und schnell
durchs Wasser, ohne Verwirbelungen zu verursachen.
Leben lassen
Korallenriffe sind wichtige Lebensräume für den Hai. Dort findet
er genügend Nahrung und hält so gleichzeitig das fragile
Ökosystem der Riffe im Gleichgewicht.
Zähne zeigen
Der Biss eines Hais ist hundertmal kräftiger als der eines
Menschen. Der Grund: Zum Fressen stülpen Haie den Oberkiefer
heraus.
Im Maul eines Wals wachsen Zähne lebenslang nach. Sie wandern von
hinten nach vorn.
Haie besitzen an ihrer Schnauze sogenannte Lorenzinische
Ampullen. Das sind Sinnesorgane unter der Haut, mit denen Haie
elektrische Signale empfangen können, die Beutetiere zum Beispiel
durch ihren Herzschlag aussenden.
Perfekte Jäger
Haie spüren Schallwellen, die andere Tiere erzeugen, über hundert
Meter weit. Sie können auch das Blut eines verletzten Tieres
riechen.
Besser sehen
Haie sehen im Dunkeln genauso gut wie Katzen. Das liegt an einer
Spezialschicht im Auge, die das Licht reflektiert und so
verstärkt.
Räuber
Die meisten Hai- und Rochenarten gehören zu den Raubfischen:
Einige von ihnen stehen an der Spitze der Nahrungskette und haben
kaum natürliche Feinde.
WWF-Initiative
• Am Golf von Gabès startet die neue WWF-lnitiative
SARRI zum Haischutz.
• 50 verschiedene Hai- und Rochenarten leben hier.
Tunesien
Die Bucht ist 100 km lang und 100 km breit.
50% der Hai- und Rochenarten sind Tiefseebewohner, die oft
skurril aussehen. Manche haben sogar Leuchtorgane.
Adlerrochen schwimmen, indem sie mit ihren Flossen
schlagen - ähnlich wie Vögel mit ihren Flügeln.
Geigenrochen halten sich meist am Meeresgrund auf.
Sägerochen setzen ihre mit Sinnesorganen ausgestattete Säge zur
Nahrungssuche ein.
Ende Texteinschub
* Anmerkung der SB-Redaktion:
hier siehe Kasten...
*
Quelle:
WWF Magazin 1/2023, Seite 8-17
Herausgeber:
WWF Deutschland
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Die Zeitschrift für Förderinnen und Förderer des WWF Deutschland
erscheint vierteljährlich
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. Mai 2023
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