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CHEMIE/063: Transformation der Chemieindustrie - Illusion oder Chance? (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2022
Vergiftete Profite: (K)ein Ende der Pestizidnutzung in Sicht?

Illusion oder Chance?
Transformation der Chemieindustrie

von Klaus Günter Steinhäuser, Markus Große-Ophoff und Manuel Fernandez


Eine Transformation der Chemieindustrie zur Nachhaltigkeit gelingt nur, wenn die Chemieindustrie nachhaltige Chemikalien herstellt und ihre Produktion deutlich umstellt und reduziert. Die aktuelle Energiekrise eröffnet die Chance für entschlossene Umstellungen. Eine nachhaltige Stoffpolitik lässt sich nur mit einem globalen Ansatz verwirklichen.

Seit 1950 ist die chemische Produktion weltweit um das 50-fache gestiegen. Bis 2050 - so die Prognosen - könnte sich diese Menge noch einmal verdreifachen. Auf dem Weltmarkt werden schätzungsweise 350.000 verschiedene Chemikalien hergestellt. Dazu zählen u. a. Kunststoffe, Pestizide, Industriechemikalien, Chemikalien in Konsumgütern und Arzneimittel. Wissenschaftler:innen haben 2009 erstmals die Grenzen der Belastbarkeit des Erdsystems (planetare Grenzen) anhand von neun Prozessen beschrieben. Eine davon ist die Belastung des Planeten mit 'neuartigen Substanzen', womit vor allem die Produkte der chemischen Industrie gemeint sind. 2022 erregten Persson et al. Aufmerksamkeit damit, dass die planetaren Grenzen für 'neuartige Substanzen' offensichtlich deutlich überschritten sind.[1]

Vorsorgeprinzip erlaubt keine Schadstoffe

Eine Schlüsselrolle kommt der Persistenz (Langlebigkeit) zu. Einmal in die Umwelt entlassen, sind solche Stoffe nicht mehr rückholbar, reichern sich an und werden schließlich auch in emissionsfernen Gebieten nachgewiesen. Die Beispiele Mikroplastik oder Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW) zeigen: Schädlich sind sie auch ohne nachgewiesene toxische oder ökotoxische Wirkungen. Solche Stoffe widersprechen dem Vorsorgeprinzip, das bereits zum Handeln auffordert, sobald es plausible Indizien für schädliche Wirkungen gibt, ohne schlüssige Beweise abzuwarten. Sie sind auch nicht nachhaltig, weil sie die Lebensbedingungen künftiger Generationen außer Acht lassen. Ein 'Weiter so' bei der Produktion und dem Gebrauch von Chemikalien steht im Gegensatz zu den Zielen für nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG), von denen das 12. Ziel eine nachhaltige Produktion und Konsum (von Stoffen) fordert.

Die Chemie der Zukunft muss nachhaltig sein!

Dies bedeutet, dass nur solche Chemikalien eine Zukunft haben, die nicht persistent sind und keine gefährlichen Eigenschaften besitzen. Sie sollen 'benign by design' (von Natur aus harmlos) sein und eine geringe örtliche und zeitliche Reichweite haben. Nun ist Gefährlichkeit nicht völlig auszuschließen: Brennstoffe müssen brennbar sein und Desinfektionsmittel müssen Krankheitserreger abtöten. Gefährliche Eigenschaften ohne Bezug zur Funktion sind allerdings nicht erwünscht! Die Anforderung an Stoffe, nachhaltig zu sein, betrifft vor allem Chemikalien in verbrauchernahen und umweltoffenen Anwendungen.

Die EU-Kommission arbeitet im Rahmen des Green Deal an einer solchen Transformation. Die Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit fordert einen grundsätzlichen Wandel in der Chemikalienpolitik. Es ist zu hoffen, dass diese Absichten im Rahmen der nun auf Ende 2023 verschobenen Novellierung der REACH-Verordnung nicht verwässert werden.

Bei Pestiziden und Arzneimitteln ist allerdings eine gewisse Dauerhaftigkeit und physiologische Wirkung für die Funktion unabdingbar. Allerdings sollten nur solche Pestizid-Wirkstoffe zugelassen werden, deren Wirkungen zeitlich und örtlich begrenzt sowie reversibel sind. Hoher Pestizideinsatz hat fatale Folgen für das Bodenleben und den Wasserhaushalt. Das wesentliche Instrument zur Reduzierung der Pestizidbelastung ist eine grundlegende Änderung der landwirtschaftlichen Praxis hin zu einer agrarökologischen Wirtschaftsweise, die auf Pestizide weitgehend verzichtet.

Ähnlich verhält es sich mit Arzneimitteln: Der Verbrauch nimmt aufgrund der demografischen Entwicklung zu. Umweltrisiken spielen bei der Zulassung nur eine geringe Rolle. Niemandem soll eine wirksame Behandlung verwehrt werden; aber Ärzt:innen und Apotheker:innen verfügen nicht über die Informationen, um bei verfügbaren Alternativen die umweltverträgliche Behandlung wählen zu können. Ein Interesse der Pharmaindustrie an einer nachhaltigen Pharmazie ist nicht erkennbar.

Nachhaltige Produktion und Stoffströme

Die Chemikalienproduktion muss nachhaltig werden.
Dies betrifft sowohl eine Minimierung der Unfallrisiken
als auch einen geringen Energie- und Ressourcenbedarf,
wenig Abfall und eine effektive Reinigung von Abwasser
und Abluft.

Am wichtigsten ist, Stoffströme zu verlangsamen und zu reduzieren und damit die Chemikalienproduktion zu verringern. Das stetige Anschwellen von Produktion, Rohstoffnutzung, internationalem Warenverkehr und Abfällen überschreitet die Belastungsgrenzen unseres Planeten. Die zunehmende Globalisierung der Stoffströme ist ein zusätzliches Problem und führt auch zur Externalisierung der Belastungen. Nachhaltige Stoffströme lassen sich mit drei Strategien erreichen, die einander ergänzen:

Die Effizienzstrategie hat zum Ziel, Energie und Materialien möglichst sparsam zu nutzen und setzt auf den langfristigen Gebrauch der Produkte. Während es gelungen ist, Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, sind die Erfolge beim Ressourcenverbrauch begrenzt. Darüber hinaus führt ein gesteigerter Konsum dazu, dass selbst der Energieverbrauch nicht rückläufig ist (rebound effect).

Bei der Konsistenzstrategie ist innerhalb der Technosphäre die Kreislaufnutzung von Materialien das zentrale Ziel. Produkte sollen so hergestellt und verwendet werden, dass sie dauerhaft genutzt, modular aufgebaut, reparierbar und am Ende ihrer Gebrauchsphase wieder verwendet oder recycelt werden können. In einer Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) sollen Sekundärrohstoffe die Primärrohstoffe möglichst weitgehend ersetzen. In der Praxis stehen wir, z.B. beim Recycling von Kunststoffen, noch sehr am Anfang.

Die Suffizienzstrategie sucht Antworten auf die Frage: Was ist genug? Suffizienz bedeutet nicht asketischen Verzicht, sondern zielt auf das rechte Maß und den bewussten und genügsamen Umgang mit begrenzten Ressourcen. Die Begrenzung des Überflusses ist verbunden mit einer sozial gerechten Verteilung in den Ländern des Nordens und zwischen Nord und Süd.

Hürden bei der Umstellung zur Nachhaltigkeit

Einige Widerstände werden auf diesem Weg zu überwinden sein:

  • Die stoffliche Zusammensetzung von Produkten, insbesondere von Importprodukten, ist oft unbekannt. Es fehlt die notwendige Transparenz. Enthalten Materialien Schadstoffe, die ggf. inzwischen verboten sind, können sie nicht recycelt werden, da dies zu einer Verschleppung gefährlicher Stoffe führen kann.
  • Darüber hinaus erschwert sehr häufig die komplexe Zusammensetzung von Produkten ein effektives Recycling (z.B. bei Verbundmaterialien mit vielen Additiven). Eine stoffliche Wiederverwertung kommt dann nicht in Betracht. Auch bei Wertstoffen, die im Abfall nur in geringen Konzentrationen vorhanden sind, ist ein Recycling nicht nur teuer, sondern meist auch ökologisch unsinnig.
  • Das Paris-Übereinkommen setzt Obergrenzen für die Emissionen von Treibhausgasen. Ebenso brauchen wir Obergrenzen für Ressourcenverbrauch, Chemikalien und Plastikproduktion. Ein Beispiel für eine erfolgversprechende Minderung der Stoffnutzung ist das Geschäftsmodell des Chemikalienleasings, bei dem es im Interesse des Produzenten liegt, möglichst wenig Chemikalien zu verbrauchen, anstatt viel zu verkaufen.
  • Die Nutzung fossiler Stoffe muss reduziert werden Es geht dabei nicht nur um die benötigte Energie, sondern auch um die Grundstoffe für die chemische Synthese. Die Alternativen dazu sind die Herstellung von Stoffen durch Bioökonomie, Nutzung der Wasserstofftechnologie zur Herstellung synthetischer Basischemikalien und das chemische Recycling. Alle drei Alternativen eröffnen keinen Königsweg: Bioökonomie findet rasch ihre Grenze im Flächenverbrauch sowie der Konkurrenz zur Lebensmittelproduktion und zum Erhalt von Naturräumen. Die Wasserstofftechnologie verbunden mit der Gewinnung von Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre erfordert einen sehr hohen Energieeinsatz. Und das chemische Recycling führt nur dann zu sinnvollen Ergebnissen, wenn die Produkte als Synthesebausteine geeignet sind. Keinesfalls ist es eine Alternative zum werkstofflichen Recycling von Kunststoffen!

Ein 'Weiter so' bei der Produktion und dem Gebrauch von Chemikalien steht im Gegensatz zu den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen (SDG).

Dies bedeutet: An einer Begrenzung und Reduktion der chemischen Produktion führt kein Weg vorbei.

Eine nachhaltige Stoffpolitik mit einem Umbau der Chemieproduktion ist eine globale Aufgabe. Deshalb ist es nötig, einen Prozess zur Entwicklung eines internationalen Rahmenübereinkommens zu Stoffen und Materialien anzustoßen. Klima und Biodiversität sind durch internationale Verträge verbindlich geregelt. Im Chemiebereich gibt es nur fragmentierte Konventionen zu Einzelaspekten und unverbindliche Austauschforen. Dies sollte sich ändern, denn die Stoffpolitik ist die dritte Säule einer internationalen Nachhaltigkeitspolitik, eng vernetzt mit Klima und Biodiversität.

Das Ziel ist nicht eine chemiefreie Welt. Im Gegenteil benötigen wir Chemie, um einige Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Es geht aber um die Begrenzung und Reduktion der Belastung, der das Erdsystem durch problematische Eigenschaften, die Menge der Chemikalien und die Stoffproduktion ausgesetzt ist. Dies erfordert auch eine sozial-ökologische Transformation hin zu einer Wirtschaftsweise, die die Grenzen des Planeten berücksichtigt und Naturgütern einen Wert zuspricht. Die aktuelle Energiekrise verdeutlicht, dass ein Umbau der Chemieindustrie unumgänglich ist. Diese Krise ist eine Chance, die Innovationskraft der chemischen Industrie freizusetzen. Es gibt Hinweise, dass einige Kräfte in der Chemieindustrie diese Signale verstanden haben.

Klaus Günter Steinhäuser ist Chemiker und stellvertretender Sprecher des Arbeitskreises Umweltchemikalien / Toxikologie des BUND. Markus Große-Ophoff ist ebenfalls Chemiker und Sprecher dieses Arbeitskreises. Manuel Fernandez ist Referent in der Bundesgeschäftsstelle des BUND.

Anmerkungen:
[1] Persson, L. et al (2022): Outside the Safe Operating Space of the Planetary Boundary for Novel Entities.

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Zum Weiterlesen:

BUND (2020): Position 79, Herausforderungen für eine nachhaltige Stoffpolitik.

BUND (2021): Hintergrundpapier, Nachhaltige Stoffpolitik zum Schutz von Klima und Biodiversität.
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Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2022, Seite 30-32
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 12. Mai 2023

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