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GLOBAL/196: Biodiversitätsziele ohne Gerechtigkeit nicht zu erreichen - Eine Bewertung aus der Perspektive des Südens (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2023
Durchbruch? Ein neues Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt

Biodiversitätsziele sind ohne Gerechtigkeit nicht zu erreichen
Eine Bewertung des KMGBF aus der Perspektive des Südens

von Lim Li Ching und Lim Li Lin


Das kürzlich verabschiedete Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework (KMGBF) legt die Prioritäten der internationalen Gemeinschaft für Maßnahmen zur Bekämpfung des Verlusts der biologischen Vielfalt bis 2030 fest. Die Krise der biologischen Vielfalt ist akut und mit zahlreichen anderen Krisen wie Klimawandel, Ernährungsunsicherheit und Gesundheit verknüpft. Sie muss in den strukturellen und systemischen Zusammenhängen verstanden werden, die den Verlust der biologischen Vielfalt immer weiter vorantreiben. Zu den wichtigsten Faktoren gehören dabei Handel, Investitionen und Finanzregulierung (bzw. der Mangel daran), der globale wirtschaftliche Druck, der Länder mit großer biologischer Vielfalt in zunehmende Verschuldung treibt, und die Ungleichheit, die in rassistischen, sexistischen, klassistischen und kolonialen Strukturen begründet ist.[1]

Das Übereinkommens über die Biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) wurde 1992 auf der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung verabschiedet. Im Rahmen der Konferenz nahmen die Staaten auf höchster politischer Ebene außerdem das zentrale Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten an. Dieses Prinzip erkennt an, dass die Industrieländer die Führung bei Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung übernehmen sollten, "in Anbetracht des Drucks, den ihre Gesellschaften auf die globale Umwelt ausüben, und der Technologien und finanziellen Ressourcen, über die sie verfügen".[2] Im CBD wird dieser Grundsatz durch unterschiedliche Verpflichtungen für Vertragsparteien aus Industrie- und Entwicklungsländern umgesetzt. Es gibt klare rechtliche Pflichten für Industrieländer, finanzielle Mittel bereitzustellen und Technologie an Entwicklungsländer weiterzugeben.

Die Industrieländer sind diesen Verpflichtungen jedoch bisher nicht nachgekommen. Während der Verhandlungen über den KMGBF forderte eine Gruppe von mehr als 70 Entwicklungsländern von den Industrieländern, jährlich mindestens 100 Milliarden US-Dollar für die Entwicklungsländer bereitzustellen. Die Gruppe schlug außerdem einen neuen, zweckgebundenen globalen Biodiversitätsfonds unter der Schirmherrschaft der CBD-Vertragsparteien vor, der als Finanzierungsinstrument dienen sollte. Diese Forderungen wurden nicht erfüllt. Die Finanzmittel der Industrieländer für die Entwicklungsländer sollen lediglich auf 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr bis 2025 und auf 30 Milliarden bis 2030 erhöht werden, was weit hinter den Forderungen zurückbleibt. Statt unter der Schirmherrschaft der CBD-Vertragsparteien soll ein Globaler Rahmenfonds für die biologische Vielfalt im Rahmen der Global Environment Facility (GEF) eingerichtet werden, obwohl die Entwicklungsländer beim Zugang zu den GEF-Mitteln immer wieder Probleme haben.

Verschobene Verantwortung

Statt den Forderungen der Entwicklungsländer nachzukommen, verschieben die Industrieländer ihre Verantwortung. Zum einen stützen sie sich auf Verpflichtungen und Finanzmittel des Privatsektors. Im KMGBF zugelassen sind dabei private, gemischte und "innovative" Finanzierung ohne jegliche Sozial- und Umweltgarantien, was ermöglicht, dass Profitinteressen die Prioritäten bei Maßnahmen zum Erhalt der biologischen Vielfalt setzen. Gleichzeitig fällt die Regulierung des Unternehmens- und Finanzsektors im KMGBF auch insgesamt extrem schwach aus. So gibt es keinerlei verbindliche Anforderungen, Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht oder rechtliche Verantwortung für verursachte Schäden.

Zum anderen verlagern die Industrieländer ihre Verantwortung auf die Entwicklungsländer. Diese sind dazu aufgerufen, inländische Ressourcen zu mobilisieren. Weil in den Entwicklungsländern der größte Teil der biologischen Vielfalt der Welt beheimatet ist, entfällt auf sie auch die größte Last für die Anforderungen, die an Maßnahmen zum Erhalt dieser Vielfalt gestellt werden. Durch die neuen und stark verbesserten Mechanismen im KMGBF für Planung, Überwachung, Berichterstattung und Überprüfung können sie dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden.

Diese Entwicklungen stellen eine Umkehr des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung dar. Ohne eine gerechte Verteilung der Lasten und die Bereitstellung von Finanzmitteln profitieren weiterhin die Hauptverursacher der Krise der biologischen Vielfalt, während diejenigen, die am wenigsten verantwortlich sind, den Großteil der Last tragen müssen.

Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück?

Der KMGBF enthält weitgehende Formulierungen zur Anerkennung der Rechte Indigener Völker und lokaler Gemeinschaften (Indigenous Peoples and Local Communities, IPLCs), zur Gleichstellung der Geschlechter und zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger:innen im Umweltbereich, was einen wichtigen Fortschritt darstellt. Andererseits gibt es Bedenken, dass der KMGBF mit dem gleichen Problem der mangelhaften Umsetzung konfrontiert sein wird wie schon das CBD, was diesen Fortschritt untergraben würde. Außerdem sollten diese positiven Entwicklungen nicht davon ablenken, dass der KMGBF einem besorgniserregenden Trend zur Finanzialisierung der Natur folgt.

Während dieser Trend aller Wahrscheinlichkeit nach kaum nennenswerte Finanzmittel generieren wird, spiegelt er sich außerdem in der Befürwortung von Kompensationsansätzen wie "naturbasierten Lösungen" (NbL). In Verbindung mit dem 30x30-Ziel des KMGBF, das bis 2030 den Schutz von 30% der Land- und Wasserflächen vorsieht, können NbL zur Rechtfertigung von Enteignungen durch Landgrabbing genutzt werden.[3] Landbasierte Kohlenstoffkompensationen, Kompensationen für die biologische Vielfalt und "Schutzgebiete" im Stil von "Festungen" ("fortress conservation") sind allesamt NbL-Strategien von Konzernen und anderen mächtigen Akteuren, die sich Land und Ökosysteme insbesondere in Entwicklungsländern aneignen und durch "Netto-Null"-Zusagen ihre Aktivitäten "greenwashen". Die Tatsache, dass viele NbL wie etwa Kohlenstoffkompensationen in großem Maßstab technisch nicht machbar sind, bleibt dabei unberücksichtigt. Stattdessen wird von der dringenden Notwendigkeit nachhaltiger Emissionssenkungen abgelenkt.

Die Ressourcenentnahme aus den Entwicklungsländern, die mit der Kolonialzeit begann und bis heute anhält, wird von Konzernen, reichen Ländern und globalen Eliten vorangetrieben.

Mächtige Akteure entscheiden, die Wälder und natürlichen Systeme zur Kompensation ihrer Emissionen zu nutzen. Die Leidtragenden sind dabei die derzeitigen Eigentümer:innen und Verwalter:innen der Zielgebiete - insbesondere IPLCs -, die durch NbL-gerechtfertigtes Landgrabbing verdrängt und enteignet werden. Das ist "Kohlenstoff-Kolonialismus".

Gerechte Verteilung zwischen Nord und Süd

Der Kern des Problems bleibt unangetastet. Die Ressourcenentnahme aus den Entwicklungsländern, die mit der Kolonialzeit begann und bis heute anhält, wird von Konzernen, reichen Ländern und globalen Eliten vorangetrieben. Eine kürzlich durchgeführte Bewertung der Ressourcennutzung nach dem Prinzip der gerechten Verteilung zeigt, dass die Länder mit hohem Einkommen, die 16% der Weltbevölkerung ausmachen, für 74% des globalen übermäßigen Materialverbrauchs verantwortlich sind.[4] Sie tragen die Hauptverantwortung für den Verlust der biologischen Vielfalt und müssen ihren Ressourcenverbrauch dringend auf ein gerechteres und nachhaltiges Maß reduzieren. Darüber hinaus wird der Großteil der ökologischen Belastung durch den übermäßigen Konsum in die ärmeren Länder verlagert und verursacht dort ökologische Schäden.

Dabei stehen die Industriestaaten eigentlich in der Schuld der Entwicklungsländer und IPLCs, die die biologische Vielfalt schützen. Tatsächlich haben die Entwicklungsländer und ihre Bevölkerung die Industrieländer seit dem Kolonialismus über Jahrhunderte hinweg subventioniert. Dies setzt sich bis heute fort, wobei eine andere Studie den kumulativen Netto-Ressourcenabfluss von den Entwicklungsländern in die Industrieländer zwischen 1990 und 2015 auf 242 Billionen US-Dollar schätzt.[5]

Diese grundlegenden Aspekte der Gerechtigkeit und der gerechten Verteilung anzugehen und entsprechend zu handeln, sind die ersten und notwendigen Schritte, um die Krise der biologischen Vielfalt und des Planeten auf gerechte und effektive Weise zu bewältigen.

Lim Li Ching und Lim Li Lin sind leitende Wissenschaftler*innen beim Third World Network (TWN). TWN ist eine internationale NRO mit Sitz in Malaysia, die sich auf die Rechte der Menschen im Globalen Süden, eine gerechte Verteilung der weltweiten Ressourcen und eine ökologisch nachhaltige Entwicklung konzentriert, die den menschlichen Bedürfnissen gerecht wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Luzie Struchholz.


Anmerkungen:
[1] Biodiversity Capital Research Collective (2021): Beyond the Gap: Placing Biodiversity Finance in the Global Economy. Third World Network, Penang and University of British Columbia, Vancouver.
[2] Rio Erklärung über Umwelt und Entwicklung (1992).
[3] For a thorough discussion on NbS, see Stabinsky, D. (2021): "Nature-based Solutions" and the Biodiversity and Climate Crises. TWN Environment and Development Series No. 21. Third World Network, Penang.
[4] Hickel, J. et al. (2022): National responsibility for ecological breakdown: a fair-shares assessment of resource use, 1970-2017. Lancet Planet Health 6: e342-49.
[5] Hickel, J. et al. (2022): Imperialist appropriation in the world economy: Drain from the global South through unequal exchange, 1990-2015. Global Environmental Change 73: 102467.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 2/2023, Seite 20-22
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 7. November 2023

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