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KATASTROPHEN/040: Japan - Fukushima-Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 614-615 / 26. Jahrgang, 2. August 2012

Folgen von Fukushima

"Menschengemachtes Unglück"
Bericht der Unabhängigen Parlamentarischen Untersuchungskommission (NAIIC) über die Reaktorkatastrophe von Fukushima

von Annette Hack



Anfang Juli 2012 überreichte die im Dezember 2011 eingesetzte unabhängige Kommission zur Untersuchung der Reaktorkatastrophe von Fukushima beiden Häusern des japanischen Parlaments nach sechsmonatiger Arbeit ihren Bericht. Zeitgleich erschien eine Kurzfassung dieses Berichts in englischer Sprache, auf die im folgenden Bezug genommen wird. Eine englische Übersetzung des vollen, über 600 Seiten starken Berichts ist in Aussicht gestellt.

Dem Kurzbericht ist eine Botschaft des Kommissionsvorsitzenden KUROKAWA Kiyoshi vorangestellt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: Wenn auch durch das verheerende Erdbeben und den Tsunami ausgelöst, könne die Reaktorkatastrophe nur als menschengemachtes Unglück bezeichnet werden, dessen Folgen überdies durch eine wirksamere menschliche Reaktion hätten abgemildert werden können, so Kurokawa.

Nach dem Ölschock der 1970er Jahre sei die Entwicklung der Kernenergie mit dem Ziel nationaler Energiesicherheit vorangetrieben worden, nicht mehr zu bremsen gewesen und "immun gegenüber kritischer Beobachtung durch die Zivilgesellschaft. Die Regulierung oblag denselben Behörden, denen auch die Förderung der Kernenergie aufgetragen war. In einer Zeit hochfliegenden japanischen Selbstbewußtseins hatte eine eng miteinander verknüpfte Elite mit enormen finanziellen Ressourcen nur wenig Interesse an allem, was 'nicht hier entwickelt worden' war. Dieser Hochmut wurde durch die Mentalität der japanischen Bürokratie verstärkt, die es als erste Pflicht jedes einzelnen Bürokraten ansieht, die Interessen seiner Behörde zu wahren. Im schlimmsten Fall führte dies dazu, daß Bürokraten Organisationsinteressen den Vorrang vor öffentlicher Sicherheit gaben, kritisiert Kurokawa.

Nur vor dem Hintergrund dieser Mentalität sei zu verstehen, wie Japans Atomindustrie versäumt habe, aus den Unfällen von Three Mile Island und Tschernobyl zu lernen, und wie es akzeptierte Praxis geworden sei, Regulierungsversuchen zu widerstreben und kleinere Unfälle zu vertuschen.

Der Bericht zeige eine Vielzahl von Fehlern und sträflichen Nachlässigkeiten auf, durch die das AKW Fukushima auf eine Naturkatastrophe wie am 11. März 2011 unvorbereitet war, und auch gravierende Mängel bei der Betreibergesellschaft TEPCO, den Regulierungsbehörden und der Regierung, angemessen auf den Unfall zu reagieren.

Nach Kurokawas Aussage liegen tiefere Ursachen der Reaktorkatastrophe in den kulturellen Konventionen Japans, etwa im reflexartigen Gehorsam, der Neigung, Autoritäten nicht in Frage zu stellen und ,das Programm unbeirrt weiterzuführen', dem Gruppenverhalten und der Insularität.

Die NAIIC-Kommission fand Belege dafür, daß sich die japanische Aufsichtsbehörde NISA mit den Betreibern von Atomkraftwerken ins Benehmen setzte, bevor sie neue Regulierungen erließ. Die NISA legte den Betreibern beispielsweise nahe, das Szenario eines kompletten Stromausfalls außer Betracht zu lassen, da die Wahrscheinlichkeit sehr gering und andere Sicherungsmechanismen vorhanden seien. Dann wurden die Betreiber gebeten, selbst einen Bericht zu verfassen, in dem dargelegt wurde, warum dieses Szenario zu vernachlässigen sei. (S. 16, dazu auch S. 43 der englischsprachigen Kurzfassung des Berichts).

Die Reaktorfahrer in Fukushima Dai-ichi hatten - aufgrund des kompletten Stromausfalls - mit Taschenlampen zu arbeiten und noch dazu mit einem ,Handbuch für schwere Unfälle', in dem Teile fehlten, vor allem technische Zeichnungen des Röhrensystems, was das Druckablassen erheblich erschwerte (S. 17 und S. 44).

Die Aufsichtsbehörde NISA hätte nach den Vorschriften, die nach dem Unfall von Tokaimura 1999 erarbeitet worden waren, in der Katastrophe die Führungsrolle übernehmen müssen, war aber auf eine Katastrophe dieser Größenordnung unvorbereitet und versagte in dieser Funktion. Daraufhin griffen der damalige Premierminister und sein Büro direkt in das Geschehen am havarierten Reaktor ein und "beanspruchten die Zeit und Aufmerksamkeit der Arbeiter vor Ort und verwirrten die Befehlskette. Die Tepco-Zentrale, deren Aufgabe die Unterstützung der Arbeiter im Reaktor gewesen wäre, beschränkte sich schließlich darauf, die Absichten des Premierministers weiterzugeben.

"Krisenmanagement im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit sollte ohne Rückgriff auf die Fähigkeiten und das Urteilsvermögen des jeweiligen Premierministers gewährleistet sein", fordert dagegen die Kommission in ihrem Bericht (S. 18).

Die Kommission hat sich davon überzeugt, daß die Katastrophenschutzplanung für nukleare Notfälle und die Planung komplexer Gegenmaßnahmen längere Zeit nicht verbessert worden ist. (S. 19) Die Nuklearsicherheitskommission war zwar seit 2006 mit der Revision der diesbezüglichen Richtlinien beschäftigt, zögerte das Vorhaben jedoch hinaus, um die Anwohner existierender oder geplanter Anlagen nicht zu beunruhigen - wenn die Anlagen sicher sind, wozu bedarf es dann weitergehender Zivilschutzplanungen? Auch die Atomaufsichtsbehörde NISA und die Regierung gingen von einer geringen Wahrscheinlichkeit ernster oder komplexer Unfälle aus. Die jährlichen Katastrophenschutzübungen wurden zwar durchgeführt, aber eher zu "kosmetischen" Zwecken als zur wirklichen Vorbereitung auf eine Katastrophe, wird konstatiert. Die Teilnehmer an solchen Übungen hätten sie dann im Ernstfall auch nutzlos gefunden (S. 39).

Ein computergestütztes System zur Übermittlung von Meßwerten und zur Kommunikation zwischen den Beteiligten im Katastrophenschutz (ERSS) lieferte die erwarteten Meßwerte nicht, daher habe auch keine zuverlässige Vorhersage über den Weg der Wolke und den radioaktiven Niederschlag durch das Prognosesystem SPEEDI gegeben werden können. Damit wurden Evakuierungsentscheidungen erschwert, so daß manche Bewohner bis zu vier Wochen in hoch belasteten Gebieten blieben, und andere von geringer in höher belastete Gebiete evakuiert wurden (S. 38 und S. 39).

Evakuiert wurden 146.520 Personen. Krankenhäuser und Pflegeheime hatten Schwierigkeiten, Transportfahrzeuge und geeignete Unterkünfte für ihre Patienten zu finden. 60 Patienten starben im März 2011 an Komplikationen im Zusammenhang mit der Evakuierung.

Auch die Organisation medizinischer Hilfsmaßnahmen ging von einem begrenzten Unfall aus. In Fukushima jedoch lagen einige Einrichtungen zu nahe am Reaktor und konnten daher nicht genutzt werden, andere waren zu klein oder hatten nicht genügend Mitarbeiter (S. 39).

In zwei Sitzungen mit Evakuierten und mittels einer Umfrage unter 21.000 evakuierten Haushalten versuchte die Untersuchungskommission herauszufinden, wie die Evakuierung verlaufen war. Vielen Evakuierten (und wohl auch Mitarbeitern der örtlichen Verwaltungen) war offenbar unklar, daß sie sich auf längere Evakuierungszeiten würden einrichten müssen. Daher wurden beispielsweise wichtige Dokumente, Unterlagen zu medizinischen Behandlungen oder Wertsachen nicht mitgenommen. Konfusion entstand auch, weil die Bewohner mancher Regionen aufgefordert wurden, sich nur in geschlossenen Räumen aufzuhalten, während der Nachbarort evakuiert wurde. Etwa 70 Prozent der Evakuierten aus der näheren Umgebung des Reaktors (aus Futaba, Okuma, Tomioka, Naraha und Namie) mußten viermal oder öfter den Evakuierungsort wechseln. Die Orte Iitate und Kawamata erhielten die Evakuierungsanweisung erst am 16. April 2011.

Unvergessen sind die endlos im Fernsehen wiederholten Äußerungen des damaligen Regierungssprechers und heutigen Energieministers Edano, es bestehe keine unmittelbare Gesundheitsgefahr. Die Evakuierten beschäftigt auch die Frage der bisher ausgebliebenen Entschädigung und der Perspektiven auf Rückkehr. Wie nicht anders zu erwarten, äußern sie auch Zorn und Enttäuschung über "Lügen" und "Täuschung" der mit Parteitaktik statt Problemlösung beschäftigten Politiker und Verantwortlichen von Tepco. (S. 50 ff).

Ein Bild über die Lage der Nukleararbeiter, die am 11. März 2011 im AKW Fukushima Dai-ichi tätig waren, versuchte die Kommission ebenfalls mittels einer Umfrage per postalisch versandten Fragebögen zu gewinnen. Während Tepco die Adressen "fast aller" betroffenen Mitarbeiter zur Verfügung stellte, hielten sich die Sub- und Sub-Sub-Unternehmer zurück - manche gaben Adressen von Arbeitern an, die erst nach dem 11. März eingesetzt wurden, andere "wollten nicht mit unserer Umfrage zusammenarbeiten." Daher wurden nicht alle Arbeiter erreicht. 2415 Personen sandten den Fragebogen zurück, von diesen arbeiteten 1.023 im Kontrollbereich (davon 98 von Tepco, 202 von Subunternehmen, 723 von Sub-Subunternehmen), die übrigen waren außerhalb des Kontrollbereiches tätig.

Wegen des Erdbebens ergriffen viele Arbeiter am 11. März 2011 die Flucht, vor allem die Mitarbeiter von Subunternehmen. Die Zurückbleibenden wurden nur schlecht über den sich entwickelnden Unfall informiert: Nur 47 Prozent der Tepco-Mitarbeiter wurden über "riskante Entwicklungen" informiert, bei den Subunternehmen waren es 5 Prozent und bei den Sub-Subunternehmen sogar nur 2 Prozent.

Die Personendosiserfassung war nach Angaben der Arbeiter bei ansteigender Strahlung auch außerhalb des Kontrollbereichs mangelhaft: "Wegen des Tsunami fehlten Dosimeter, daher wies Tepco die Arbeiter in Bereichen mit niedriger Strahlung an, Dosimeter zu mehreren zu teilen. Auf diese Weise konnte der Prozentsatz der Arbeiter, die gar kein Dosimeter hatten, bei 5 Prozent gehalten werden" (S. 65). Es fehlten auch Auswertungsgeräte für die Dosismeter, so daß die individuelle Exposition manuell erfaßt werden mußte, durch Tepco und/oder die Arbeiter selbst. Die Frage, ob sie von ihrem Arbeitgeber über ihre kumulierte Dosis vor jedem Arbeitseinsatz informiert worden seien, wurde von 55 Prozent der Tepco-Mitarbeiter, 63 Prozent der Mitarbeiter von Sub-Unternehmen und 49 Prozent der Mitarbeiter von Sub-Subunternehmen mit Ja beantwortet. Die anderen wurde zum größeren Teil "nie" und zum kleineren Teil "mehrmals nicht" informiert (S. 67).

Am 23. Juli 2012 legte auch eine von der japanischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission ihren Bericht vor, der ähnliche Vorwürfe gegen Tepco formuliert. Dieser Bericht unterscheidet sich vom Bericht der unabhängigen Untersuchungskommission des Parlaments offenbar im wesentlichen dadurch, daß er bei den Vorwürfen gegen die Regierung etwas mehr Zurückhaltung übt.

The National Diet of Japan: The official report of The Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission. Executive Summary, Japan 2012.
http://www.nirs.org/fukushima/naiic report.pdf

Zum Regierungsbericht:
http://www.kantei.go.jp/jp/noda/actions/201207/23kenshou.html

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, August 2012, Seite 2-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2012