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KATASTROPHEN/081: Haiti - Wohnungsnot und Cholera, 200.000 Erdbebenopfer noch immer in Zeltlagern (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Januar 2014

Haiti: Wohnungsnot und Cholera - 200.000 Erdbebenopfer leben noch immer in Zeltlagern

von Jane Regan und Milo Milfort


Bild: © Milo Milfort/IPS

Mimose Gérard arbeitet als Flaschensammlerin und Wäscherin, um vier Jahre nach dem Erdbeben in Haiti über die Runden zu kommen
Bild: © Milo Milfort/IPS

Carrefour, Haiti, 22. Januar (IPS) - Mimose Gérard sitzt in ihrem Zelt im Gaston-Margron-Lager in Carrefour, am südlichen Ende der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Um sie herum stapeln sich Säcke voller Plastikflaschen. Pro Stück erhält sie zwar nur Pfennigbeträge, doch jeder Verdienst, und sei er noch so klein, ist willkommen. "Hier lebe ich seit dem 13. Januar 2010, eine traurige Erfahrung", meint sie. "Ich bin eine einfache Frau, die nirgendwo anders hin kann."

In dem Lager, das etwa 800 Familien ihr Zuhause nennen, gibt es mindestens ein Dutzend Menschen, die vom Verkauf von Plastikflaschen leben. Vier Jahre nach dem katastrophalen Erdbeben gibt es noch immer 300 Zeltlager. Die meisten liegen versprengt im Umfeld der Hauptstadt. Andere Opfer der Tragödie bewohnen einen riesigen neuen Slum an den Berghängen außerhalb der Stadt.

Gérard ist 57 Jahre alt und Mutter von elf Kindern. Ihre Hände sind rau und aufgesprungen. Sie verdient sich auch als Wäscherin ein kleines Zubrot. "Die Bedingungen, unter denen wir leben müssen, sind unmenschlich hart", sagt sie. "Doch wo sollten wir schon hin? Ich habe keine Verwandten außerhalb des Lagers, die uns aufnehmen könnten", sagt sie.

Wie Gérard weiter berichtet, gibt es im Lager kein ungeklärtes Wasser - und das in einem Land, das unter einer Cholera-Epidemie leidet. "Wir haben keine Toiletten. Dahinten verrichten wir unsere Notdurft und entsorgen unsere Fäkalienbeutel", meint sie und zeigt auf ein verwildertes Grundstück, wo die Menschen entweder direkt defäkieren oder ihre 'tragbaren Toiletten' ablegen. Gemeint sind Plastiktüten, die die Menschen aus Sicherheitsgründen nachts benutzen, um ihre Zelte nicht verlassen zu müssen.


Grundstückseigentümer versus Lagerbewohner

Neben Dieben werden die Lagerinsassen auch von Polizisten und bewaffneten Männern im Dienst von Landeigentümern drangsaliert. "Die Sicherheitskräfte versuchen uns dazu zu bringen, das Camp zu verlassen", berichtet Gérard. "Sie kommen her und schießen in die Luft, um uns Angst einzujagen. Der Landeigentümer war selbst schon drei Mal da."

Nach UN-Angaben droht den Insassen in einem Drittel der verbliebenen Lager die Vertreibung. Am 11. Januar, am Vorabend des vierten Jahrestages des Erdbebens, gingen im Flüchtlingslager in Delmas, ganz in der Nähe der Innenstadt von Port-au-Prince, rund 100 Zelte in Flammen auf. Eine 38-Jährige und drei Kinder kamen in dem Flammenmeer ums Leben, Dutzende Menschen wurden verletzt.

Bisher beschränkten sich Stadt- und Bundesbehörden darauf, einige der Opfer ins öffentliche Krankenhaus zu bringen und Matratzen auszugeben. Kommentare zu dem Vorfall selbst und Untersuchungen über den Brandherd sind bisher ausgeblieben. Die Lagerinsassen selbst gehen von Brandstiftung aus. Das Land gehört einer haitianischen Druckerei.

"Vier Menschen einschließlich drei kleiner Kinder sind in dem Feuer umgekommen, während etwa 30 weitere Personen mit Brandverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Alle Notunterkünfte für 108 Familien und deren Habe wurden zerstört", schrieb 'Amnesty International' in einer Mitteilung vom 17. Januar.

Sanon Renel, Leiter von FRAKKA, einer Koalition aus Nichtregierungsorganisationen, die sich für eine angemessene Unterbringung der Haitianer einsetzt, hält die Untätigkeit der Behörden, die Ursachen des mörderischen Feuers zu klären, für mehr als bedenklich. "Es sieht ganz danach aus, als ob der Privatsektor seine Vertreibungsmaßnahmen aufstockt, weil man von der Regierung offenbar nichts zu befürchten hat", sagt er. Es sei schrecklich zu beobachten, wie mit Menschen umgesprungen werde, die arm seien. "Sie werden wie Tiere behandelt."

35 Sekunden - so lange hatte das Erdbeben der Stärke 7,0 auf der Richterskala in Port-au-Prince gebraucht, um am 12. Januar 2010 fast ein Viertel der damals eine Million Einwohner zählenden Menschen auszurotten. Es brachte zudem eine halbe Million Gebäude zum Einsturz und machte damit 1,5 Millionen Menschen obdachlos. Allein die geschätzten Kosten für den Wohnungssektor werden mit mehr als 2,5 Milliarden US-Dollar veranschlagt.


Stockender Häuserbau

Vier Jahre später leben noch immer 200.000 Menschen in Flüchtlingslagern. 7.515 Häuser wurden gebaut und 27.000 repariert. Etwa 55.000 Familien erhielten einmalig 500 US-Dollar, damit sie die Lager verlassen. Doch ein Jahr später waren die Familie erneut obdachlos, wie aus einem jüngsten Bericht des 'Institute for Justice and Democracy in Haiti' mit Sitz in Washington hervorgeht.

Ein US-Regierungsplan, der ursprünglich den Bau von 15.000 neuen Häusern vorsah, wurde um mehr als 80 Prozent zurückgefahren, wie das 'Centre for Economic Policy and Research' (CEPR) berichtet. Die US-Entwicklungsbehörde USAID wiederum hat mehr als 900 Häuser gebaut, will aber das Programm nicht fortsetzen.

Insgesamt haben bi- und multilaterale Geber in den Jahren von 2010 bis 2012 gut 6,43 Milliarden Dollar für Haiti ausgegeben. Von den Geldern wurden lediglich neun Prozent über die haitianischen Behörden kanalisiert. Der Rest ging an ausländische Vertragspartner. "Für sie ein lukratives Geschäft", meint Dan Beeton vom CEPR. "Es wurde die Gelegenheit vertan, aus diesem Desaster etwas zu machen, das den Haitianern hilft. Doch sie wurden übergangen."

Die 45-jährige Marie Ilien lebt auch im Gaston-Margron-Flüchtlingslager. Sie verdient sich durch die Beseitigung der tragbaren Toiletten und die Reinigung von Urinflaschen und -töpfen den Lebensunterhalt für sich und zwei Kinder. "Ich sammele die Töpfe von den Straßen und bekomme dafür 20 bis 25 Gourdes (46 bis 57 Cent)", sagt sie. "Und jeden Morgen, wenn wir aufstehen, sammeln wir die Fäkalientüten ein und werfen sie in eine Grube."

Wie Gérard kritisiert auch Ilien den Mangel an sauberem Trinkwasser. Sie und andere Lagerinsassen haben Angst vor der Cholera oder anderen, durch unsauberes Wasser übertragbare Krankheiten. Untersuchungen zahlreicher Behörden einschließlich der US-Zentren für Seuchenkontrolle (CDC) haben gezeigt, dass nepalesische Friedenssoldaten, die Teil der 9.500 Mann starken UN-Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH) sind, das Bakterium in Haiti eingeschleppt hatten.

Seit Oktober 2010 wurden in dem karibischen Inselstaat fast 700.000 Personen angesteckt. Fast 8.500 sind an den Folgen der Infektion gestorben. die CDC geben die Sterberate mit durchschnittlich zwei Menschen pro Tag an. Obwohl UN-Agenturen die Cholera in Haiti als Epidemie und humanitäre Krise anerkennen, lehnen es die UN ab, den Forderungen nach Entschädigungen Folge zu leisten.

"Das Choleraproblem und die Wohnverhältnisse vieler Haitianer werden gern ignoriert. Dabei hängen sie zusammen", meint Beeton. "Da es kein sauberes Wasser gibt, verbreitet sich die Krankheit." Der Regierung wirft er den mangelnden politischen Willen vor, die Cholera zu besiegen.


Sinkende Hilfsgelder

Derzeit sind 18 UN-Organisationen inklusive MINUSTAH in Haiti aktiv. Sie arbeiten mit mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Regierung und hunderten kleinen Hilfsgruppen zusammen.

Doch die Hilfsgelder gehen immer mehr zurück. Nur das Budget der MINUSTAH ist mit 577 Millionen Dollar für den Zeitraum Juli 2013 bis Juni 2014 nach wie vor hoch.

"MINUSTAH ist meiner Meinung nach die reinste Gelderverschwendung. Es gibt auf Haiti keinen bewaffneten Konflikt. Die Gelder sollten lieber für die Bekämpfung der Cholera-Epidemie ausgegeben werden", meint Beeton.

Die UN-Organisation für Siedlungswesen (UN-Habitat) betont, dass Haiti bereits vor dem Erdbeben ein Wohnungsdefizit hatte. Viele Menschen hätten schon damals in Slums gelebt. "Wir würden den Haitianern gern die Möglichkeit geben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen", meinte ein UN-Habitat-Sprecher. "Doch erst müssen die erforderlichen Mittel dafür bereitstehen." (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ijdh.org/2014/01/topics/housing/haitian-earthquake-daunting-challenges-remain-four-years-after-disaster/#.Ut024p4o7Dc
http://www.eshelter-cccmhaiti.info/jl/index.php?option=com_content&view=article&id=286:dec-2013-humanitarian-action-plan-hap-2014-eng-version&catid=2&Itemid=101
http://www.ipsnews.net/2014/01/four-years-haitis-earthquake-tents-homes/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Januar 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2014