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MEER/254: Tödliche Geisternetze... Pilotprojekt zur Bergung von Meeresmüll (WWF magazin)


WWF magazin, Ausgabe 1/2017
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature

Tödliches Netzwerk

Von Donné Norbert Beyer


Herrenlos und völlig unkontrolliert treiben sie tonnenweise in den Meeren: Geisternetze sind eine tödliche Gefahr für Fische, Meeressäuger und Seevögel. Über die Tiere können die Plastikfasern auch in unser Essen gelangen. Der WWF hat in der Ostsee ein Pilotprojekt gestartet, um diesen gefährlichen Meeresmüll zu bergen.


Kapitän Karl-Heinz Neumann und sein Steuermann Günter Baltsch waren Mitte September mit ihrem Kutter auf der Ostsee unterwegs - nicht als Fischer, sondern als Geisternetzjäger. "Was wir vor Ahlbeck erlebt haben, war schon schlimm", erinnert er sich. Allein zwischen der berühmten Ahlbecker Seebrücke und der polnischen Grenze zogen die Seeleute im Auftrag des WWF in zwei Tagen 1746 Kilogramm Stellnetze aus dem Wasser. "Solche Netze fischen auch dann noch weiter, wenn sie herrenlos geworden sind", weiß Neumann. Viele Barsche, Flundern, Schnäpel und Plötzen konnte er mit seiner Crew nach dem Einholen der Geisternetze noch lebend aus den Maschen befreien. Die Mehrzahl der Fische jedoch war bereits tot.

"Genau das ist die Gefahr bei Geisternetzen", sagt Andrea Stolte, die sich beim WWF in Stralsund als Projektverantwortliche um das Problem kümmert. Verloren, losgerissen im Sturm oder durch Schiffsverkehr gekappt, treiben diese Netze über den Meeresboden oder verhaken sich in Schiffswracks und fangen so weiterhin Meerestiere - von Fischen über Seevögel wie Eisenten bis zu Kegelrobben und Schweinswalen.

Magnet für Schadstoffe

Geisternetze verursachen aber noch mehr Probleme. Denn sie werden meistens aus Kunststoffen gefertigt. Bis die Netze vollständig zersetzt sind, können bis zu 600 Jahre vergehen. So lange wirkt das Plastik wie ein Magnet auf umhertreibende Umweltgifte. Kürzlich in Nord- und Ostsee ermittelte Messdaten der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg zeigen: Kleine Plastikteilchen im Wasser sind drei- bis viermal so stark mit Schadstoffen belastet wie das umgebende Sediment. Werden sie von Meerestieren verschluckt, gelangen die Giftcocktails in die Nahrungskette - und so auch in unser Essen.

Internationale Kooperation

Bis zu 10.000 herrenlose Netzteile landen jährlich in der Ostsee. Deshalb startete der WWF Deutschland 2013 mit Unterstützung seiner Spender, dem Tauchverein Archaeomare und dem Deutschen Meeresmuseum, eine erste große Aktion, um Geisternetze in der Ostsee ausfindig zu machen und zu bergen. Mittlerweile gibt es weitere Mitstreiter für dieses aufwendige Vorhaben. Seit Frühjahr 2016 arbeitet der WWF in Polen und Deutschland im EU-Projekt MARELITT mit anderen Nichtregierungsorganisationen sowie Umweltinstituten und Hafengemeinden ostseeweit zusammen, um Geisternetze ausfindig zu machen, zu bergen und wiederzuverwerten. Die EU finanziert das Projekt für drei Jahre mit 3,7 Millionen Euro. Bis 2019 soll ein Leitfaden für Politik und Fischerei erstellt werden, wie Geisternetze so umweltschonend und effizient wie möglich geborgen werden können.

Dazu untersuchen die schwedischen Projektpartner, wie Netze durch Signalgeber markiert werden können, um sie bei Verlust schneller zu finden. Zudem wird an alternativen Fischereimethoden geforscht, etwa mit biologisch abbaubaren Materialien, um die Meeresumwelt in Zukunft weniger zu belasten.

Auch der WWF Deutschland testet Methoden, wie Geisternetze gezielt aufgespürt und entfernt werden können. Dazu ist Andrea Stolte mit Kollegen auf der Ostsee unterwegs, um Daten zu sammeln, die von Experten zu Suchkarten für die Geisternetzjagd verarbeitet werden. Zusammen mit Kapitän Neumann wurde im Sommer 2016 erstmals in der deutschen Ostsee eine speziell konstruierte "Netzharke" eingesetzt, mit der auf dem Meeresgrund liegende Netze an Bord gehievt werden. Die Erfahrung und das Wissen von Fischern wie Neumann sind dabei von größtem Nutzen.

Außerdem gehen Taucher wie Philipp Kanstinger für den WWF auf die Jagd nach Geisternetzen. Von Wracks und Unterwasserhindernissen wurden so etliche Tonnen Maschenwerk geborgen. Insgesamt hat der WWF entlang der polnischen Küste seit 2011 rund 300 Tonnen Netze aus der Ostsee geholt. Vor den Inseln Rügen und Usedom an der deutschen Ostseeküste konnten in nur wenigen Tagen fünf Tonnen geborgen werden. Bei der Bergung wurde der WWF Deutschland vom Recyclingunternehmen Tönsmeier unterstützt.

Aus alten Netzen Neues schaffen

Gemeinsam mit diesem Kooperationspartner prüft nun die Umweltstiftung, wie Geisternetze am besten zu verwerten sind. Dünne Stell- und Kiemennetze aus Nylon lassen sich wieder zu Garn spinnen, dicke Schleppnetze aus Polypropylen oder Polyäthylen zu Pellets einschmelzen. Die Garne können in Kleidung oder Rucksäcken zum Einsatz kommen und die Pellets zum Beispiel zu Handycases oder Transportkisten verarbeitet werden. Dass sinnvolles Recycling möglich ist, zeigt die Firma Bureo, die schon heute aus Geisternetzen in Chile Skateboards und Sonnenbrillen herstellt.

Andrea Stolte vom WWF ist optimistisch: "Ich bin sicher, dass wir bis 2019 mit unseren Partnern praktikable Lösungen parat haben werden, damit künftig deutlich weniger Fischernetze verloren gehen und sie weniger Schäden verursachen. Die Methoden, die wir entwickeln, sind nicht nur für die Ostsee, sondern weltweit einsetzbar."


TAUCHEN IM TRÜBEN

Forschungstaucher Philipp Kanstinger vom WWF Deutschland über die Unterwassersuche nach Geisternetzen.

Wie gut ist die Sicht in der Ostsee?

Im Sommer gibt es meist eine Algenblüte, darum beträgt die Sichtweite oft nur anderthalb Meter. Im Winter ist das Wasser zwar vier bis sieben Grad kalt, aber wir haben meist eine Sichtweite von drei bis vier Metern.

Können Sie die Netze gut erkennen?

Dicke Grundschleppnetze ja. Gefährlich sind die dünnen Kiemennetze aus Nylon, die zudem noch aufrecht im Wasser stehen. Da muss man dicht ran, um sie überhaupt zu erkennen - und aufpassen, dass man nicht reingerät.

Woher wissen Sie, wo man tauchen muss?

Wir entwerfen unter anderem mit Informationen von Fischern Karten, auf denen Unterwasserhindernisse eingetragen sind sowie Stellen, wo sie schon mal ein Netz verloren haben oder wo die Strömung Netze hintransportiert haben könnte.

Warum hängen die Netze häufig an gesunkenen Schiffswracks?

Wracks ziehen Fischschwärme an, die sich darin verstecken, vor allem Dorsche. Und die Fischer wissen das. Sie versuchen, möglichst knapp an den Hindernissen vorbeizufahren. Besonders beeindruckt hat mich der Fliegende Holländer. Das ist ein Wrack, das relativ tief liegt und über und über mit Netzen behangen ist - als ob eine riesige Spinne es eingewoben hätte.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Jäger der Geisternetze
Zupacken ist angesagt, um tonnenschweren Meeresmüll an Bord zu hieven. Herrenlose Netze töten nicht nur Meerestiere, sondern vergiften auch unser Essen.

Am Haken
Geisternetze sind ein weltweit wachsendes Problem: Von geschätzten vier bis 13 Millionen Tonnen Plastikmüll, die jedes Jahr in die Meere gelangen, sind rund ein Zehntel Geisternetze.

Geisternetze in Berlin
Noch bis zum 26. Februar zu sehen in der Ausstellung "Extreme! Natur und Kultur am Humboldtstrom" in der Humboldt-Box am Schlossplatz.

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Quelle:
WWF Magazin 1/2017, Seite 20 - 23
Herausgeber:
WWF Deutschland
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Die Zeitschrift für Fördermitglieder und Freunde der
Umweltstiftung WWF Deutschland erscheint vierteljährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2017

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