Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → INTERNATIONALES


RECHT/025: Vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur - Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2023
Durchbruch? Ein neues Abkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt

Vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur
Internationale Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt für die Erhaltung der Biodiversität

von Almudena Abascal


Im Jahr 2008 war Ecuador das erste Land der Welt, das die Natur in seiner Verfassung als Rechtssubjekt anerkannte und damit eine politische und rechtliche Debatte anstieß, die seither weltweit geführt wird. Seitdem haben auch andere Länder bedeutende gesetzgeberische und rechtswissenschaftliche Fortschritte gemacht, die auf einem ökozentrischen Ansatz beruhen, bei dem Mensch und Natur auf derselben Ebene stehen. Die internationale Anerkennung der Rechte der Natur kann ein wirksames Mittel sein, um die biologische Vielfalt zu erhalten und damit die Zukunft der Menschheit zu sichern.

Im Dezember 2022 trafen sich in Montreal (Kanada) die 196 Vertragsstaaten des Biodiversitätsabkommen (1993) bei der COP 15 (Conference of the Parties, Vertragsstaatenkonferenz) und beschlossen den "Globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal" (KMGBF, Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework). Das Rahmenwerk wurde optimistisch begrüßt, insbesondere nach der Enttäuschung des Strategischen Plans zum Erhalt der biologischen Vielfalt 2011-2020, bei dem keines der 20 vereinbarten Ziele erreicht wurde.

Das Ziel ist klar und unstrittig: Den drastisch anhaltenden Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (International Union for Conservation of the Nature) zufolge sind in den letzten zehn Jahren 160 Arten ausgestorben. Zusätzlich gaben Expert:innen der Vereinten Nationen 2019 bekannt, dass eine Million von schätzungsweise acht Millionen Arten vom Aussterben bedroht sind, von denen viele innerhalb weniger Jahrzehnte aussterben könnten. Die Hauptursachen für die beschleunigte Zerstörung der biologischen Vielfalt, wie etwa Abholzung, Klimawandel und Umweltverschmutzung, sind menschlichen Ursprungs und durch die intensive industrielle Landwirtschaft, die Ausbeutung von Land und natürlichen Ressourcen, ein verschärftes Konsumverhalten und die derzeitigen Ernährungssysteme geprägt. So sind heute 75% der Lebensräume an Land durch menschliche Eingriffe stark verändert, 66% der Meeresräume leiden unter verschiedenen schädlichen Einflüssen und über 85% der Feuchtgebiete sind in den letzten 300 Jahren verschwunden.[1]

Schutz der Natur durch Menschenrechte

Der Schutz der Natur kann nicht von der Achtung der Menschenrechte getrennt betrachtet werden. Die Schaffung der UN-Sondermandate für Umwelt 2012 und für Klimawandel und Menschenrechte 2021, die Anerkennung des Menschenrechts auf eine gesunde Umwelt 2022 sowie das Inkrafttreten des Escazú-Abkommens 2021, des ersten Umweltvertrags in Lateinamerika und der Karibik zum Schutz des Rechts auf eine gesunde Umwelt, sind ein klarer Beweis dafür.

Um die biologische Vielfalt wirksam zu schützen und damit auch das Überleben des Menschen in der Natur zu sichern, ist die Anerkennung der Rechte der Natur und damit der Natur als Rechtssubjekt erforderlich.

Kurz nach der COP 15 haben drei UN Sonderberichterstatter in einer gemeinsamen Erklärung die Vertragsstaaten des Biodiversitätsabkommens aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Maßnahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt nicht auf Kosten der Menschenrechte gehen. Nach den Worten der Experten: "Eine gesunde biologische Vielfalt und gesunde Ökosysteme sind die Grundlage des Lebens und die Basis für die Wahrnehmung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte auf Leben, Gesundheit, Nahrung, Wasser, Kultur und eine gesunde Umwelt".[2] Besondere Aufmerksamkeit sollte den kollektiven Rechten der Indigenen Völker und der Kleinbäuer:innen gewidmet werden. Indigenes Land macht etwa 20% des Territoriums der Erde aus und beherbergt 80% der verbleibenden biologischen Vielfalt des Planeten. Die Missachtung der territorialen Rechte Indigener Völker, wie sie in dem Übereinkommen über Indigene Völker der International Labour Organisation (ILO Konvention 196) anerkannt werden, führt zum Verlust von Lebensräumen.

Vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur

Einige Staaten haben sich von einem anthropozentrischen Konzept, wonach die Beziehung zwischen Mensch und Natur auf der Beherrschung und Kontrolle der Natur durch den Menschen beruht, zu einem Ökozentrismus bewegt, der den Menschen als Teil der Natur und nicht als über ihr stehend anerkennt. Im Jahr 2008 verankerte Ecuador als erstes Land der Welt die Rechte der Natur in seiner Verfassung (Art. 71). Damit ist der Zugang zur nationalen Gerichtsbarkeit gewährleistet, was Einzelpersonen, Gruppen und Gemeinschaften ermöglicht, Verletzungen der Natur in ihrem Namen anzuklagen. In Bolivien wurden das Gesetz über die Rechte der Mutter Erde (2010) und das Rahmengesetz über die Mutter Erde und die integrale Entwicklung für ein gutes Leben (2012) verabschiedet, mit denen die Natur formell als Rechtssubjekt anerkannt wird. Das kolumbianische Verfassungsgericht erkannte 2016 den Atrato-Fluss als rechtlich schützenswert an und folgte dabei einem ökozentrischen Ansatz, demzufolge die Erde nicht das Eigentum des Menschen ist, sondern im Gegensatz dazu der Mensch wie jede andere Spezies zur Erde gehört. Diese rechtliche Wandlung hat sich in Staaten vollzogen, deren Rechts- und Sozialsysteme die gegenseitige Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur anerkennen, was oftmals damit in Zusammenhang steht, dass in ihnen Indigene Völker leben. In den oben genannten Fällen in Lateinamerika, aber auch in Neuseeland und Indien sind die Rechte der Natur durch das Rechtswesen anerkannt worden. 3 Leider wurden die Fortschritte in Ecuador und Bolivien durch Gesetzgebung und politische Entscheidungen konterkariert, die die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen fördern und damit im Widerspruch zu den proklamierten Rechten der Natur stehen.

In der Europäischen Union (EU) wurde der Übergang vom Recht auf Natur zu den Rechten der Natur noch nicht vollzogen, obwohl die EU eine der strengsten gesetzlichen Regelungen im Bereich des Umweltschutzes hat. Angesichts des besorgniserregenden Zustands der biologischen Vielfalt in Europa, wo sich nach Angaben des EU-Parlaments nur 5% der Waldlebensräume in einem günstigen Erhaltungszustand befinden, ist es nicht klar, ob dieser anthropozentrische Rechtsrahmen der geeignetste ist. Die Grundkonzeption der Natur "als Eigentum, als Ware, die Dienstleistungen erbringt, was ihre Ausbeutung zu wirtschaftlichen Zwecken legitimiert"[4] sollte zugunsten einer "Anerkennung des Eigenwerts der Natur überwunden werden, unabhängig von ihrer Nützlichkeit für den Menschen"[5].

Die Debatte weitet sich aus

Diese rechtlichen und legislativen Entwicklungen im nationalen und regionalen Kontext haben die Debatte auf internationaler Ebene eröffnet. Aktuell werden Diskussionen über eine Allgemeine Erklärung der Rechte von Mutter Erde als Ergänzung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und über die Schaffung eines Internationalen Gerichtshofs für Umweltgerechtigkeit geführt. Die politische Bühne, die weitgehend von der Zivilgesellschaft getragen wird, ist bereitet. Die Schwierigkeiten im technischjuristischen Bereich sollten mit Bereitschaft und Aufgeschlossenheit überwunden werden können, indem man sich von westlichen Rechtstheorien löst und sich denen des Globalen Südens annähert. Um die biologische Vielfalt wirksam zu schützen und damit auch das Überleben des Menschen in der Natur zu sichern, ist die Anerkennung der Rechte der Natur und damit der Natur als Rechtssubjekt erforderlich. Hierzu ist ein tiefgreifender Wandel unserer Wirtschaftsordnung, Entwicklungsmodelle, Bildungswesen, Konsummuster und Ernährungssysteme notwendig, insbesondere in den Ländern des globalen Nordens. Dabei sollten die Menschenrechte und die Rechte der Natur Vorrang vor wirtschaftlichen und unternehmerischen Interessen haben. Wie der UN-Sonderberichterstatter David R. Boyd feststellt, "die Rechte der Natur stehen im Widerspruch zu unbegrenztem Wirtschaftswachstum, Konsumismus, ungebremster Globalisierung oder dem Laissez-faire Kapitalismus".[6]

Almudena Abascal ist Juristin und Lateinamerikareferentin bei FIAN Deutschland.

Anmerkungen:
[1] IPBES (2019): Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services.
[2] United Nations Office of the High Commissioner for Human Rights (2022): Post-2020 Global Biodiversity Framework: Urgent need to protect nature and human rights, say UN experts.
[3] New Zealand Parliamentary Counsel Office (2022): Te Awa Tupua (Whanganui River Claims Settlement) Act 2017 (http://www.legislation.govt.nz/act/public/2017/0007/latest/whole.html und High Court of Uttarakhand at Nainita (2017): Mohd. Salim vs. State of Uttarakhand & others.
[4] Borrás Petinant, Susana (2020): Los derechos de la naturaleza en Europa: Hacia nuevos planteamientos transformadores de la protección ambiental.
[5] Boyd, David Richard (2020): The rights of the Nature. A legal Revolution that could save the world.
[6] Ebenda.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

*

Quelle:
Rundbrief 2/2023, Seite 29-31
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. November 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang