ROBIN WOOD magazin - Nr. 156/1.2023
Leben in die Straßen bringen
Barcelonas Superblock und die Verkehrswende
von Jannis Pfendtner
Ein Leipziger Verein lädt die Nachbarschaft zu drei Tagen "partiellen Straßensperren und deren Wirkung auf die städtische Aufenthaltsqualität" ein. In Wiesbaden werden einige Stadtteile kurzzeitig für "Musik und Yoga statt Autoverkehr" umgewidmet. Und in der Hauptstadt Berlin läuft gleich eine ganze Kampagne, die viele nachbarschaftliche Initiativen gründen will, um die Stadtteile verkehrsberuhigter und nachbarschaftlicher zu gestalten. Beispiele wie diese gibt es aktuell viele. Eine neue Idee aus Barcelona ist in kürzester Zeit so eingeschlagen, dass international und auch in Deutschland in vielen Städten darüber diskutiert wird. Es gründen sich Initiativen, Gemeinderäte beraten darüber und entwerfen Pilotprojekte. Diese Idee nennt sich Superblock. Sie kommt aus einer der berühmtesten Städte Europas: Barcelona.
Barcelona ist zwar weltbekannt für seine Architektur, wie des Modernisme Antonio Gaudís, Kultur und "Lebensgefühl", doch die Stadt bringt auch einige altbekannte Probleme mit sich: Intensiver Autoverkehr, viele Abgase und große Hitze - im Sommer bis tief in die Nacht - zehren an der Gesundheit und den Nerven der Bewohner*innen. Die breiten Straßen werden vom Autoverkehr dominiert. Dazu kommen sehr wenige Grün- und Erholungsflächen, in der die urbanen Bewohner*innen Abwechslung finden können. Nur in wenigen Orten Europas leben so viele Menschen auf so wenig Raum wie in Barcelona.
Der schachbrettartige Aufbau Barcelonas hat den ökologisch geprägten Stadtplaner Salvador Rueda inspiriert, das Konzept des Superblocks zu entwickeln. Die Idee ist einfach, hat aber große Auswirkungen. Außerhalb der Superblocks, auf den breiten Hauptstraßen, soll der Verkehr weiterhin möglichst flüssig fließen können. Ein Unterschied zum früheren Zustand ist dabei, dass Schnellbusse Vorrang bekommen und eine vernetzte und gut ausgebaute Radinfrastruktur geschaffen wird.
Der Clou liegt aber in den einzelnen Nachbarschaften, die zu
Superblocks ausgebaut werden. Hier dürfen zwar einzelne Autos
weiterhin die Häuser anfahren, um beispielsweise eine gehbehinderte
Person nach Hause zu bringen oder um die Wege für Feuerwehr und
Rettungsdienste freizuhalten. Doch der allgemeine Autoverkehr wird
unterbunden. Darüber hinaus haben Fußgänger*innen meist Vortritt im
Superblock.
Erreicht wird dies durch sogenannte Diagonalsperren: Poller oder
massive Pflanzenkübel, die die Kreuzungen innerhalb der Superblocks
für den Autoverkehr beschränken. So werden aus gefährlichen Kreuzungen
ruhige Plätze, die in der Folge völlig neu gestaltet werden können.
Wenn die verkehrstechnischen Umbauten abgeschlossen sind, werden in
einer zweiten Phase versuchsweise bestimmte Elemente wie Pflanzen,
Sitzbänke oder Spielgeräte aufgebaut. In der nächsten Zeit sollen die
Bewohner*innen die Möglichkeit haben, ihre Straßen und Plätze neu zu
entdecken. Erst danach wird über Evaluationen und Beteiligungsprozesse
entschieden, wie eine längerfristige Gestaltung aussehen soll.
Salvador Rueda will damit die Grundlage schaffen, dass der städtische
Raum nicht mehr nur der Fortbewegung dient, sondern wieder zum "Haus
für alle" wird, zum gemeinsamen Raum für Austausch, Erholung und zum
Verweilen, Kultur, Kunst und Demokratie.
Nach Ruedas Philosophie braucht es eine humanistische Neudefinition
der städtischen Räume, die die Menschen nicht mehr zu (gestressten)
Fußgänger*innen degradiert, sondern ihnen erlaubt, wieder zu
Bürger*innen ihrer Stadt zu werden. Die Stadt soll ein Ort des
Zusammentreffens, des Austausches, des gegenseitigen Erlebens und
letztendlich der Demokratie werden.
Die Erzählungen eines begeisterten Anwohners scheinen die Idee zu bestätigen: "Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Leben durch den Superblock so stark verändern würde. Denn heute findet die Hälfte meines Lebens direkt vor meiner Tür und im Superblock statt." Und er fügt hinzu: "Durch den Superblock haben wir angefangen uns zu treffen, uns wieder zu erkennen und zu denken: Ach, wir mögen das!"
Während der soziale Aspekt oft im Vordergrund steht, wie schon der
Slogan Barcelonas "Lasst uns die Straßen mit Leben füllen" zeigt, soll
der Superblock aber noch viel mehr positive Veränderungen bringen:
einerseits deutlich weniger Lärm, Hitze und Abgase, andererseits mehr
Bewegung für die Menschen. Fahrradwege, fußgängerfreundliche
Nachbarschaften sowie Sport- und Spielmöglichkeiten im Superblock
bestärken die Menschen aktiv Zeit in ihrer Umgebung zu verbringen.
Mehr Straßengrün kann nicht nur die biologische Vielfalt in der Stadt
erhöhen, sondern trägt auch über Verschattung und höhere
Luftfeuchtigkeit zur zur höheren Aufenthaltsqualität bei. Für viele
Bewohner*innen des Superblocks wird das eigene Fahrrad oder die
nächste Bushaltestelle zukünftig deutlich näher sein, als das
außerhalb geparkte Auto. Und wer zum Abendessen in einen Superblock
eingeladen wird, überlegt sich zweimal, ob sie mit dem Auto kommt.
Die beiden abstrakten Begriffe des Klimajargons "Mitigation und Adaption" werden im Superblock greifbar: Während die Förderung von klimaneutralen Fortbewegungsweisen ein konkreter Beitrag gegen die Verschärfung der Klimakrise ist, können weniger Versiegelung, weniger hitzefördernde Abgase und mehr Stadtgrün als Klimaanpassung dabei helfen auch durch extreme Hitzetage zu kommen.
Was als kleinteilige Vorschläge für einzelne Nachbarschaften begann, hat sich unter der Regierung von Barcelona en Comu (BenC, Barcelona Gemeinsam) seit 2015 zu einem stadtweiten Umbauplan entwickelt, der über Jahrzehnte hinweg das Gesicht der Stadt verändern könnte. Die lokale Partei BenC entstammt den Protesten und Besetzungen, die infolge der Wirtschaftskrise und der massiven Kürzungspolitik 2011 entstand.
Seit BenC 2015 überraschend die Wahlen gewann und die Bürgermeisterin stellt, hat sie eine ungewöhnliche Reform angestoßen. Ihr Anspruch ist Ökologie, soziale Politik, Feminismus und die Förderung von nachbarschaftlicher Organisierung zusammen zu denken.
Dabei bezieht sich Barcelona jetzt auch auf Klimagerechtigkeit: Es
wird angeprangert, dass gerade die ärmeren Teile der Bevölkerung unter
zunehmenden Hitzewellen und schlechterer medizinischer Behandlung
leiden müssen. Denn statistisch gesehen leben die prekären Schichten
häufiger an viel befahrenen Straßen, haben weniger Wohnraum, seltener
Gärten oder gar Ferienhäuser auf dem Land.
Schon allein die Infrastruktur spielt also eine große Rolle bei
Gerechtigkeitsfragen: Denn wenn sich überhitzte, asphaltierte
Kreuzungen mit großer Lärm- und Luftbelastung zu Freiräumen mit Bäumen
und Hochbeeten, kostenlosen Sitzgelegenheiten und Spielmöglichkeiten
entwickeln, profitieren vor allem diejenigen, die sich den teuren
Urlaub im Sommer oder das Freizeitparadies am Stadtrand nicht leisten
können.
Und ja, wenn es um das Auto geht, gibt es natürlich auch in Barcelona Ärger und Protest. Grundsätzlich wollen manche einfach die Straßen für den Verkehr freihalten. So erzählt ein erboster Anwohner: "Wir wollen nicht, dass sie all dieses Zeug auf die Straßen tun, Kinderspiele und so weiter. Es gibt einfach keinen Grund all diese Sachen in die Mitte der Straße zu stellen." Auch wird sich immer wieder beschwert, dass der lokale Handel und die Gastronomie leiden würde. Die Erfahrung zeigt aber, dass die gestiegene Aufenthaltsqualität und kurze und sichere Wege viel eher für mehr Konsum direkt im Viertel sorgen.
Eine andere und sehr berechtigte Sorge ist, dass die ruhigen Straßen
und begrünten Plätze dafür sorgen, dass Wohnraum noch viel teurer wird
als ohnehin schon. Für Immobilienunternehmen könnte dies eine einfache
Möglichkeit darstellen, die Preise zu erhöhen, wenn die Umgebung mehr
Ruhe ausstrahlt und als schöner wahrgenommen wird.
Die Antwort Barcelonas ist, den Superblock in der ganzen Stadt
einzuführen: Damit wollen sie der Trennung in "gute Stadtteile" mit -
und "schlechte" ohne Superblock gar nicht erst zulassen. Weil der
Superblock nicht alles lösen kann, versucht Barcelona auch mit
Mietdeckeln und sozialem Wohnungsbau mehr für Gerechtigkeit zu tun.
Barcelonas Stadtpolitik ist ein spannendes Beispiel dafür, dass Veränderungen nicht immer langsam und schleichend kommen müssen. Angesichts von Klimakrise und fossilen Strukturen, die in kürzester Zeit überkommen werden müssen, braucht es mutige Modelle für einen Wandel. Während viele sich in der Mobilität noch immer jedem Wandel, der über die Änderung von Verbrenner- zu Elektroauto hinausgeht, versperren, können Modelle wie Barcelona zeigen, dass mehr möglich ist. Verbunden mit einer Vision - mehr Gerechtigkeit, bessere Gesundheit, angenehme Gesellschaft draußen in der Nachbarschaft - muss die Abkehr von der Auto-Gesellschaft in der Metropole vielleicht gar nicht wehtun. Die Begeisterung, die der Superblock in vielen Städten in der Welt hervorruft, signalisiert den Wunsch nach Veränderung. Aus dunklen zugeparkten Straßen können Fahrradwege, blühende Beete und Nachbarschaftsfeste werden.
Jannis Pfendtner beschäftigte sich in seiner Masterarbeit mit dem
Konzept des Superblocks als Stadtentwicklung in Zeiten der Klimakrise.
Heute arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leuphana
Universität Lüneburg zu nachhaltiger Raumnutzung. Von 2016 bis 2018
war er Waldreferent bei ROBIN WOOD.
Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildungen der Originalpublikation:
• Der schachbrettartige Aufbau Barcelonas hat den Stadtplaner
Salvador Rueda zum Konzept des Superblocks inspiriert
• Auf den breiten Hauptstraßen soll der Verkehr weiter möglichst
flüssig fließen. Jetzt bekommen Schnellbusse Vorrang und die Stadt
Barcelona schafft eine vernetzte und gut ausgebaute
Radinfrastruktur
• Begonnen als Nachbarschaftsinitiative hat sich der Superblock
in Barcelona seit 2015 zu einem stadtweiten Umbauplan entwickelt.
Statt Stress durch Lärm, Hitze und Abgase, bieten jetzt autofreie,
begrünte Bereiche eine hohe Aufenthaltsqualität für die
Anwohner*innen
weitere Informationen:
http://www.robinwood.de
https://www.robinwood.de/sites/default/files/rowo-magazin-156-1-
2023_7.pdf
*
Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 156/1.2023, Seite 16-19
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
Verlag:
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ISSN: 1437-7543
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. Oktober 2023
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