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WASSER/180: Venezuela - Durst trotz Wasserreichtum (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Juni 2014

VENEZUELA: Durst trotz Wasserreichtum

Von Humberto Márquez


Bild: © Humberto Márquez/IPS

Der Cuao, einer der am schnellsten fließenden Zuflüsse des Orinoco
Bild: © Humberto Márquez/IPS

Caracas, 5. Juni (IPS) - Obwohl Venezuela über 520 Flüsse verfügt, herrscht in einigen Teilen des Landes Wasserarmut: Die Wasserhähne sind leer, oder das kostbare Nass ist nur stundenweise erhältlich. Für viele Städter bedeuten Mangel oder schlechte Wasserqualität, dass sie die teuren Dienste von Wasserwagen in Anspruch nehmen müssen.

Der venezolanische Strom, den Jules Verne den 'mächtigen Orinoco' nannte, ist nach dem Amazonas und dem Kongo der drittgrößte Fluss der Welt, was sein Wasservolumen angeht. Mit seinen hunderten Zuflüssen bildet er ein Wassereinzugsgebiet von fast einer Million Quadratkilometer Größe. Der mehr als 2.000 Kilometer lange Wasserweg mündet im Atlantik.

Doch mit der Verteilung des reichlich vorhandenen Wassers gibt es ein Problem: 90 Prozent der Bevölkerung leben in Städten, 80 Prozent im Norden und Westen des Landes. Doch dort konzentrieren sich gerade einmal fünf Prozent der landesweiten Süßwasservorräte.

Bild: © Raúl Límaco/IPS

Ein Wasserwagen in El Paraíso, einem Viertel im Süden der venezolanischen Hauptstadt Caracas
Bild: © Raúl Límaco/IPS

"Seit 2011 sind die Wasserhähne so gut wie immer trocken. Die Familien hier müssen die Dienste von Tankwagen in Anspruch nehmen. Dafür zahlen sie jeweils 1.000 Bolivar (20 US-Dollar) pro Monat, was einem Viertel des Mindestlohns entspricht", rechnet die Straßenhändlerin Dulce Hernández aus Carayaca, einer Stadt an der Karibikseite nordwestlich der Hauptstadt Caracas, vor.


Mal zu wenig, mal zu viel

Luis Mejía, ein Automechaniker aus Maca, einem Armenviertel im Osten von Caracas, klagt, dass seine Nachbarschaft gleich zweifach gefährdet sei. "Zum einen leiden wir unter Wasserknappheit, die uns von den Tankwagen abhängig macht, die uns die Stadtverwaltung schickt. Zum anderen tritt bei heftigen Niederschlägen der Guaire über seine Ufer und setzt unser Viertel unter Wasser."

Auch aus anderen Teilen des Landes und anderen Städten sind ähnliche Beschwerden zu hören. Über Schulen, die die Kinder frühzeitig nach Hause schicken müssen, weil es in den Toiletten und Waschräumen kein Wasser gibt. Von Restaurants, die keine Getränke mehr servieren oder einfach dicht machen, wenn es kein fließend Wasser mehr gibt. Von kleinen Gärten, die verdorren und von Straßenblockaden aufgebrachter Menschen, deren Wasserhähne seit Tagen leer sind.

Der Mangel ist nicht nur ein Problem der Armen. Auch in Chacao, einem Viertel der Mittelschicht, bleibt immer wieder das Wasser weg. "Vier Tage lang konnte ich mich nicht duschen und musste mich mit dem Wasser aus einem Eimer begnügen. Als wir endlich wieder Wasser hatten, war uns zum Feiern zumute", erzählt die Anwältin Nuria García.

2008 brüstete sich Venezuela damit, das Trinkwasser-Millenniumsentwicklungsziel bis 2015 zu erreichen. Es sieht vor, die Zahl der Menschen ohne Zugang bis 2015 zu erreichen. Es sieht vor, die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser zu halbieren. Angeblich haben 96 Prozent der 30 Millionen Venezolaner inzwischen Zugang zu sauberem Wasser.

Doch in den Jahren 2003, 2009 und 2014 führten die Klimaphänomene 'El Niño' und 'La Niña' eine Veränderung der Niederschlagsmuster herbei. Die Folge ist, dass weite Bevölkerungsteile inzwischen mit leeren Wasserhähnen, Wasserrationierungen oder Brackwasser konfrontiert werden.

Im mittleren Norden Venezuelas, wo sich der 344 Quadratkilometer große Valencia-See und die gleichnamige Industriestadt befinden, protestieren die Menschen mit Straßenblockaden gegen den Mangel an sauberem Trinkwasser.

Hilda Rosales lebt in einem sogenannten 'Petrohaus', einem aus PVC-Planken gebauten Fertighaus in Guacara in der Nähe von Valencia. "Wir sind dankbar, dass uns die Regierung diese Häuser zur Verfügung gestellt hat, doch leben wir mit einem Feind unter einem Dach: dem grünen Wasser aus den Tanks. Obwohl wir es stets abkochen, ist es nicht sicher. Und wir haben Angst, dass unsere Kinder krank werden, wenn wir sie damit waschen", sagt sie.

In der Region gehen Wassermangel und schlechte Wasserqualität Hand in Hand. Die zuständigen Stellen verlassen sich darauf, dass der Regen in die Tanks einströmt. "Doch zuvor reißt er Mineralien und organische Rückstände mit sich, die die Zuflussrohre zu den Tanks verstopfen", berichtet der Sanitäringenieur Manuel Pérez Rodríguez, Mitglied der in der Region aktiven Bewegung für Wasserqualität.

Der Wasserspiegel des Valencia-Sees ist in den letzten Jahren um fünf Meter gestiegen. 10.000 Hektar Land wurden überschwemmt. Angesichts der Gefahr von immer schlimmer werdenden Überschwemmungen haben Umweltministerium und Wasserbehörden des Bundesstaates beschlossen, einen Teil des Seewassers m und Wasserbehörden des Bundesstaates beschlossen, einen Teil des Seewassers in das nahe gelegene Pao-Cachinche-Reservoir umzuleiten, das drei Millionen Menschen in Valencia und anderen Städten und Orten mit Wasser versorgt.


Schlechte Wasserqualität

Doch Pérez Rodríguez zufolge gelangen organische Substanzen in das Reservoir, die es zuhauf in dem See gibt, in den zudem Abwässer eingeleitet werden. Doch die Anlagen, die das Wasser des Reservoirs aufbereiten, können keine Trinkwasserqualität gewährleisten. Das Pao-Cachinche-Reservoir liegt auf dem Weg zu den Brauchwasserkollektoren eines Wohn-, Industrie- und Agrargebiets. "Die Filter der Kläranlagen werden durch den Schmutz im Wasser verstopft. Somit kommt zu dem Problem des Wassermangels das der Wasserverschmutzung hinzu", erläutert Pérez Rodríguez.

"Seit 15 Jahren werden in Venezuela keine Kläranlagen mehr gebaut", kritisiert María Eugenia Gil von der unabhängigen Stiftung Sauberes Wasser. "Sie werden weder ersetzt noch gewartet. Die existierenden Anlagen sind mit der zunehmenden Abwassermenge und der Vielfalt der Schadstoffe überfordert. Sie kollabieren und verursachen Wasserengpässe."

Die Regierung hat jedoch angekündigt, 18 neue Wassersammlungs- und -aufbereitungssysteme zu entwickeln, 180 Aquädukte in ländlichen Gebieten zu bauen und 500 Versorgungsnetze zu installieren. Auch sollen neue Brunnen gebohrt werden. Ziel sei es, 98 Prozent der Bevölkerung binnen der nächsten vier Jahre an das Wassersystem anzuschließen, wie Umweltminister Miguel Rodríguez erklärte.

Venezuela gehört mit 41.886 Kubikmeter Wasser pro Jahr und Kopf zu den 20 Ländern der Erde mit den reichsten natürlichen Frischwasservorkommen. Ähnlich umfangreich sind die Wasservorräte in Kolumbien und Brasilien, wie die UN-Landwirtschaftsorganisation (FAO) berichtet.

Doch die meisten Flüsse, besonders die größten und schnellfließenden, befinden sich im Süden des Landes. Und die Wasserversorgung der meisten Venezolaner, die im Norden leben, ist kostenintensiv, da die Ressource aufbereitet und über weite Strecken transportiert werden muss.

In den 1960er Jahren begann man damit, im Südosten zwischen Orinoco und Caroní ein Industriegebiet zu entwerfen. Doch die Pläne verschwanden wieder in der Schublade. Und im neuen Jahrtausend schlug der im letzten Jahr verstorbene ehemalige Staatspräsident Hugo Chávez (1999-2013) die Entwicklung der Orinoco-Apure-Achse vor. Der Apure ist der größte Zufluss des Orinoco. Doch das Vorhaben kam nie über die Planungsphase hinaus.

Der Wassermangel ist kein neues venezolanisches Problem. 1958, als der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez (1927-2014) als Journalist in Venezuela unterwegs war, schrieb er die Geschichte 'Caracas ohne Wasser', die in deutscher Sprache in der Sammlung 'Zwischen Karibik und Moskau. Journalistische Arbeiten 1955-1959' enthalten ist.

Der Protagonist ist ein fiktiver deutscher Tourist, der beschreibt, wie die Dürre seinen Aufenthalt in der venezolanischen Hauptstadt beeinflusst. Geschildert wird eine Realität, die auch fast 60 Jahre später Geltung hat. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/06/el-agua-sobra-pero-falta-en-venezuela/
http://www.ipsnews.net/2014/06/venezuelans-thirsty-in-a-land-of-abundant-water/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. Juni 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2014