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WALD/652: Nutzungsfreier Wald - "Eine Riesenherausforderung" (BUNDmagazin)


BUNDmagazin - 3/2010
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland - BUND
Friends of the Earth Germany

TITELTHEMA
Nutzungsfreier Wald
»Eine Riesenherausforderung«


Deutschland hat sich in der Nationalen Biodiversitätsstrategie das Ziel gesetzt, bis 2020 insgesamt fünf Prozent seiner Waldflächen dauerhaft der natürlichen Entwicklung zu überlassen. Im Bundesamt für Naturschutz als oberster Fachbehörde begleitet Dr. Manfred Klein die Umsetzung dieses Ziels.

Herr Dr. Klein, was genau sind »Wälder mit natürlicher Waldentwicklung«?

Das sind die derzeit noch zu kleinen Bereiche unseres Waldes, wo die Natur ihren freien Lauf nehmen kann. Gekennzeichnet sind sie durch Charakterarten vor allem bei Insekten, Totholzbewohnern und Pilzen, die in normalen Wirtschaftswäldern kaum noch vorkommen oder bereits ausgestorben sind. Typisch sind auch dynamische Prozesse, die nur hier möglich sind.

Warum brauchen wir solche Wälder? Reicht es nicht, den Wald ökologisch zu bewirtschaften?

Natürliche Prozesse zu sichern ist laut Naturschutzgesetz ein Wert per se. Wir können so die Evolution beobachten, was in gelenkten Ökosystemen unmöglich ist. Sichtbar wird das an einer Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten sowie Entwicklungsstadien, die außerhalb solcher Gebiete heute unbekannt sind. Wie behilft sich die Natur selbst? Diese Anschauung ist für Forstwirtschaftler und Naturschützer gleichermaßen aufregend.

Die Forstwirtschaft argumentiert bisweilen, dass Wälder ohne ihre Nutzung und Pflege überaltern, instabil und anfällig für Krankheiten werden.

Hier spiegelt schon die Wortwahl eine rein ökonomische Betrachtung. Ein Wald-Ökosystem kann ja nicht überaltern, hier können sich nur verschiedene Altersstadien ablösen. Diese Sichtweise ist geprägt von einem naturfernen Ausgangswald. Ein Fichtenforst kann in der ersten Phase nach einer Nutzungsaufgabe sehr wohl instabil werden. Doch dann wird sich natürlich ein stabileres, artenreicheres Waldökosystem aufbauen.

Wie viel Wald ist in Deutschland bereits dauerhaft aus der Nutzung genommen?

Wir schätzen ein bis zwei Prozent, je nachdem, wie wir z. B. den Status der Nationalparkwälder einschätzen. Diese Zahl hoffen wir in den nächsten zwei Jahren wissenschaftlich unterfüttern zu können, als Basis für unsere Zielgröße »5% nutzungsfreie Wälder«.

Bindet dieses Ziel die Bundesregierung rechtlich?

Hierzu hat sich der Bund im Rahmen der Nationalen Biodiversitätsstrategie selbstverpflichtet - und damit die Internationale Konvention für biologische Vielfalt umgesetzt. Es gibt zwar keine Sanktionsmechanismen für Staaten, die dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Doch die nationale Verpflichtung basiert auf einem Beschluss des ganzen Kabinetts, und darauf kann man sich berufen.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich bezüglich nutzungsfreier Wälder da?

Da ist Deutschland sicher kein Vorbild, obgleich etliche Länder noch weniger Wald ungenutzt lassen.

Sind die 5% eine sinnvolle Zielmarke? Wäre die biologische Vielfalt unserer Wälder damit dauerhaft gesichert?

Wie so oft bei politischen Normsetzungen wird diese Zahl nicht allen Anforderungen gerecht. Es ist aber vorläufig auch müßig, über eine exakte Prozentzahl zu streiten. Von den 5% sind wir weit entfernt, dort wollen wir erst einmal hin. Die Bilanz wird dann zeigen, ob wir damit eine Trendwende zugunsten der biologischen Vielfalt erreichen.

Wie groß sollte eine natürliche Entwicklungszone sein?

Als moderne Richtgröße bei Naturwaldreservaten gelten mindestens 20 Hektar, um möglichst alle Waldzyklen darin beobachten zu können. Im Rahmen des 5%-Ziels müssen wir neben der Größe auch die Wertigkeit, die Verteilung und Vernetzung solcher Gebiete in Deutschland diskutieren. Allein mit zwei neuen großen Wald-Nationalparken etwa wäre das Ziel nicht erreicht, wir möchten die Vielfalt der Wälder auf ganzer Fläche fördern. Dafür müssen wir im Dialog mit den Ländern, der Forstwirtschaft und den Naturschutzverbänden eine Strategie entwickeln - ein länger währender Prozess.

Welche Rolle spielt der öffentliche Wald bei der Umsetzung dieses Ziels?

Der hat hier sicher eine Vorbildfunktion. So kann der Bund etwa das großteils bewaldete Nationale Naturerbe hier miteinbringen, so weit er direkten Zugriff hat. Die Rahmenbedingungen sind in den letzten Jahren nicht besser geworden, die Forstwirtschaft unterliegt immer mehr kurzsichtigen ökonomischen Zwängen. Insofern steht die Politik vor der Riesenherausforderung, sektorale Strategien unter einen Hut zu bringen. Neben dem Klimawandel ist der Schwund der Biodiversität ein gleichrangiges Problem unseres Jahrhunderts und unserer Gesellschaft. Wenn uns eine Lösung nicht im Wald gelingt - einem der noch naturnähesten Nutzungssysteme -, wie soll uns das erst in anderen Ökosystemen gelingen? Interview: Severin Zillich


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Quelle:
BUNDmagazin 3/2010, S. 14
Herausgeber:
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
Friends of the Earth Germany
Am Köllnischen Park 1, 10179 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2010