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LAIRE/141: Boehringer legt Grundstein für Tierimpfstoffzentrum in Hannover (SB)


Über Massentierhaltung und die Haltung von Menschenmassen zum Zwecke ihrer Verwertung


Pro Jahr werden weltweit rund 250 Millionen Tonnen Fleisch produziert. Daß dafür zahllose Tiere getötet werden, wird damit begründet, daß Fleisch ein wertvolles, wenn nicht unverzichtbares Lebensmittel ist. Pro Jahr sterben je nach Einschätzung 15 bis 30 Millionen Menschen an Hunger. Eine Steigerung der Fleischproduktion, wie sie von Experten prognostiziert wird, würde an dieser Zahl nichts ändern - das Fleisch ist nicht für die Hungernden bestimmt.

Der massenhafte Tod unter Tieren und Menschen geht auf das gleiche Verwertungsinteresse an Leben zurück, wobei die Ausgrenzung der verhungernden Menschen aus der Gesellschaft eine Facette im breiten Spektrum übergreifender Verfügungsformen bildet, in denen die menschliche Physis - ebenfalls mit endgültigem Resultat, wenngleich über den Zeitraum eines Arbeitslebens oder des Daseins in der Arbeitslosigkeit gestreckt - final vernutzt wird. Der Unterschied zwischen dem Zerlegen eines Tieres in seine Bestandteile bei der Schlachtung und dem Zerfall und Verschleiß des menschlichen Körpers im Zuge von fremdnützigen Interessen dienenden Arbeitsformen ist vom Ergebnis her viel geringer, als es der solcherart unterworfene Mensch wissen möchte. Der unmittelbare Verzehr tierischen und der unumkehrbare Verbrauch menschlichen Lebens stehen in keinem antagonistischen Verhältnis zueinander.

Die eingangs genannten Fleischmengen könnten niemals ohne eine industrielle Massentierhaltung produziert werden. Zu dieser Form der Tierverwertung gehört zwingend eine komplexe Infrastruktur der Zu- und Nachbereitung, wie zum Beispiel die Aufzucht und Mast von Tieren zumeist in fabrikähnlichen Großbetrieben, die Produktion von Tierfutter wie Soja, das häufig in umweltschädigender Monokultur angebaut wird, und die Herstellung von Dünger, um überhaupt genügend Tierfutter produzieren zu können. Unumgänglich sind darüber hinaus die Aufrechterhaltung globaler Warenströme, über die Futter aus landwirtschaftlichen Produktionsregionen (bspw. Soja aus den USA und Brasilien) über viele tausend Kilometer zu den Massentierhaltungsställen (bspw. in Dänemark, Niederlande, Deutschland) bringen, sowie der Betrieb von Großschlachtereien und deren Anbindung an Lebensmittelketten.

Ein ebenfalls unverzichtbarer Bestandteil der auf permanente Steigerung der Profite zielenden industriellen Fleischerzeugung ist die Bewahrung der Tiergesundheit. Hebt die Zucht zum Beispiel von Hühnern darauf ab, daß ihnen eine breite, fleischige Brust wächst, so wie beim Turbohuhn Cobb 500, dann muß die Pharmazie die Mittel bereitstellen, damit das Herz des Huhns die enorme körperliche Mehrbelastung bewältigt - zumindest für die lediglich in wenigen Wochen zu bemessende Lebenszeit, die dem Huhn beschieden sind. Darüber hinaus sind Hühner, Schweine, Rinder und andere Lebewesen aus der Massentierhaltung wahre Chemiecocktails, weil sie ein vergleichsweise schwaches Immunsystem besitzen und sich Krankheiten in den Ställen rasant ausbreiten können. Als Folge des hohen Durchsatzes an Tieren und der dichten infrastrukturellen Verflechtung der fleischerzeugenden Betriebe müssen bei Krankheitsausbrüchen oftmals ganze Regionen unter Quarantäne gestellt und die darin lebenden Tiere, ob infiziert oder nicht, getötet werden. Das ist einer der Gründe, warum dem Impfen innerhalb der tierärztlichen Behandlung eine herausragende Bedeutung zukommt.

In Hannover wurde am Montag der Grundstein für ein Tierversuchslabor gelegt, in dem die Firma Boehringer Impfexperimente an bis zu 1000 Schweinen durchführen will. Später sollen noch Plätze für Rinder geschaffen werden. Weder örtliche Bürgerinitiativen noch die Besetzung des Baugrundstücks durch eine Gruppe von Tierbefreiern noch diverse Klagen vor Gericht, von denen einige weiterhin anhängig sind, vermochten das Projekt zu stoppen. Hier in Kirchrode, nahe der Tierärztlichen Hochschule Hannover, trifft die berechtigte Sorge der Anwohner, daß trotz der Sicherheitsmaßnahmen gefährliche Erreger aus dem Labor entweichen können, auf das grundsätzliche Nein der Tierbefreierinnen und -befreier zur qualvollen Behandlung von Tieren und ihre Tötung im Namen der Wissenschaft.

Bei der Entwicklung neuer Impfstoffe sind die Forscher darauf angewiesen, Grenzen zu überschreiten, indem sie beispielsweise mit viralen Bestandteilen hantieren, wie sie es in der Form bislang noch nicht versucht haben. Weil das sehr wohl mit Risiken für die unmittelbar Beteiligten wie auch die Umgebung verbunden ist, ergreift das Unternehmen grundsätzliche Schutzmaßnahmen und bereitet sich auch auf Notfälle vor. Ein immer wieder bestätigter Erfahrungswert besagt jedoch, daß der Mensch bislang keine Technologie entwickelt hat, die wirklich sicher ist, seien es Atomkraftwerke, Chemiefabriken, Ölbohrplattformen oder Schokoladenfabriken. Unfälle passieren überall. Wenn in letztgenannter Fabrik zu viele Haselnußsplitter in die Schokolade gemischt werden oder die kakaohaltige Masse versehentlich überkocht, wenn ein Fenster zu Bruch geht oder ein Lastwagen das Eingangstor rammt, sind solche Unfälle bedauerlich, aber relativ folgenarm für die Umgebung. Anders sieht es womöglich bei dem Atomkraftwerk, der chemischen Anlage, der Ölbohrplattform und auch dem Labor für die Erforschung von Tierimpfstoffen aus. Ein Unfall kann weitreichende Folgen zeitigen.

In der Massentierhaltung werden die Tiere auf so engem Raum gehalten, daß sie verendeten, würden sie nicht geimpft und zeit ihres kurzen Daseins als wandelnde Fleischerzeuger mit der Eigenart zur starken Vermehrung laufend pharmazeutisch behandelt. Der Vergleich solch angezüchteten raschen Wachstums mit dem von Krebszellen drängt sich auf. Aus der Sicht Boehringers macht der über 40 Millionen Euro teure Bau eines Tierversuchslabors ökonomisch Sinn. Der Fleischverzehr nimmt weltweit zu, gleichzeitig findet eine strukturelle Veränderung der landwirtschaftlichen Produktion statt, weg von kleinbäuerlichen Betrieben, hin zur industriellen Massentierhaltung. Der Markt brummt und damit auch der Bedarf an tiermedizinischen Produkten. Je mehr sich eine Zuchtlinie wie das Turbohuhn Cobb 500 auf der ganzen Welt ausbreitet, desto größer die Chance, daß die pharmazeutischen Abwehrmaßnahmen von Krankheitserregern überwunden und desto größer die angerichteten Schäden werden. Auch nimmt das Risiko einer Entstehung von Zoonosen, also der Übertragung von Tierinfektionen auf den Menschen, zu.

Die sogenannte Schweinegrippe 2009 in Mexiko und den USA, die eigentlich keine klassische Schweineinfluenza war und deren Entstehungsgeschichte nicht abschließend geklärt ist, hat die Öffentlichkeit darauf aufmerksam gemacht, auf welch potentiell gefährlichen Voraussetzungen der Konsum von Fleisch aus der Massentierhaltung beruht. Diese Gefahr wird durch das neue Impfversuchslabor nicht gelindert, sondern verstärkt, da es Beherrschbarkeit verspricht.

Die Forschungseinrichtung wird gebaut, damit die Massentierhaltung überhaupt "funktioniert"; sie nimmt einen festen Platz innerhalb der Strukturen für die Tötung und Verwertung von Tieren ein. Boehringer tätigt seine Investition aus einem einzigen Grund, es ist der gleiche, weswegen überall in der vorherrschenden Wirtschaftsordnung investiert wird: Ankurbelung des Verbrauchs, Expansion, Einstreichen des von anderen erarbeiteten Mehrwerts und dessen Akkumulation. Von welchen Motiven auch immer die einzelnen motiviert wurden, die bei der Grundsteinlegung des Impfstoffversuchszentrums oder in der Vergangenheit gegen die Anlage demonstriert haben, der Protest an sich wirft grundsätzliche Fragen hinsichtlich der besitzergreifenden Produktionsverhältnisse auf, in der Tiere zur Schlachtbank und Menschen zum Fließband geführt werden.

5. Oktober 2010