Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → MEINUNGEN

LAIRE/169: "Naturkatastrophe" - Verschleierung der menschlichen Verantwortung (SB)


Anmerkungen zum Begriff der Naturkatastrophe aus Anlaß der verheerenden Ereignisse in Japan


Die Bezeichnung "Naturkatastrophe" für das Erdbeben und den anschließenden Tsunami am 11. März 2011 in Japan verschleiert mehr, als daß sie die Wirkzusammenhänge zu erhellen vermag. Bei der üblichen Unterscheidung in menschliche oder technische Katastrophe auf der einen Seite und natürliche Katastrophe auf der anderen wird unterschlagen, daß jede Katastrophe an Schäden für die Menschen bemessen wird. Eine Ausnahme hierzu bildet zwar die wissenschaftliche Betrachtung beispielsweise eines gewaltigen Erdrutsches oder Vulkanausbruchs in der Erdfrühzeit, als es noch keine Menschen gab, aber selbst solche Beschreibungen zielen letztlich auf Erkenntnisgewinn zu Ereignissen, denen sich potentiell der Mensch ausgesetzt sehen könnte.

Indem die Erklärung geliefert wird, daß der Havarie des Atomkraftwerks Fukushima I an der japanischen Ostküste ein Erdbeben der Stärke 9,0 auf der Richterskala und ein zehn Meter hoher Tsunami vorausgingen, wird unterschlagen, daß solche Ereignisse erst dann zu einer Katastrophe werden, weil Menschen und ihre Umgestaltung der sogenannten Natur beträchtlichen Schaden genommen haben. Mit dieser Tage häufig zu vernehmenden Formulierungen wie "die Natur hat zurückgeschlagen", menschliche Hybris oder Forderungen nach mehr Demut und Ehrfurcht vor der Natur wird jeweils eine höhere Instanz formuliert, die zerstörerischen Einfluß auf die menschliche Sphäre genommen hat. Man könnte von einer modernen Variante von Naturreligion sprechen, und Vertreter der Regierung, Wissenschaft, Medien und Wirtschaft sind ihre Priester. Denn indem sie von einer Naturkatastrophe sprechen, ignorieren sie die menschliche Beteiligung und letztlich Verantwortung an dem Ereignis.

Selbstverständlich lag es außerhalb der menschlichen Fähigkeiten, das Erdbeben oder das Entstehen des Tsunamis zu verhindern, aber ohne die konkrete Entscheidung von Menschen, Atomkraftwerke an die Küste zu bauen oder an der Küste zu siedeln, wäre es zu keiner Katastrophe gekommen.

Damit sollen nicht die Zwänge geleugnet werden, in die die Mitglieder einer Gesellschaft durch zahllose Entscheidungen von Generationen an Vorfahren hineinmanövriert wurden. Wer in der weitgehend zerstörten Stadt Sengai gewohnt hat, wurde Opfer von Kräften, die außerhalb seines Zugriffs liegen. Mit dem denkbaren Einwand, daß niemand gezwungen ist, in tsunamigefährdeten Regionen zu wohnen, machte man es sich einfach. Aber man machte es sich gleichfalls zu einfach, wenn man den Begriff Naturkatastrophe verwendet, ohne dabei zu reflektieren, daß er ohne menschliches Zutun gar nicht existierte. Jede Naturkatastrophe wäre somit Folge benennbarer menschlicher Maßnahmen.

Drei Beispiele mögen dies beleuchten: In den Jahren 1876-79 und 1896-1900 wurden Indien und China von Dürren heimgesucht, denen Dutzende Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Wissenschaft hat auch eine Erklärung parat: El-Niño. Eine Klima-Umkehr globalen Ausmaßes, ein natürliches Phänomen. Doch zur Naturkatastrophe wurden die Dürren erst aufgrund menschlicher Entscheidungen, an vorderster Stelle die der britischen Vizekönige Lytton, Elgin und Curzon ungeachtet des Nahrungsmangels in Indien die Getreideexporte ins britische Kernland ungebremst fortzuführen, wie der Autor Mike Davis in dem Buch "Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter" (Verlag Assoziation A) kenntnisreich erläutert.

Im August, September 2005 fegte der Hurrikan Katrina über die US-Golfküste hinweg. Rund 1800 Menschen vor allem mit afroamerikanischen Hintergrund und in ärmeren Regionen von New Orleans wohnend starben. Alle Opfer einer Naturkatastrophe? Nein, sondern vorwiegend Opfer ökonomischen Kalküls, was unter anderem zur Folge hatte, daß zwei Stichkanäle nicht ausreichend gegen den Wasserdruck gesichert waren, so daß die niedrig gelegene Stadt größtenteils überflutet wurde. Dabei war zuvor in mehreren Studien wie die der Federal Emergency Management Agency und des United States Army Corps of Engineers vor der Gefahr eines direkten Treffers der Stadt durch einen Hurrikan gewarnt worden. Zudem wurden möglicherweise dabei auch in dieser Zeit Afroamerikaner von Sicherheitskräften und Bürgerwehren aus rassistischen Motiven erschossen. Es wäre zynisch, so etwas einem sozialen Kollateralschaden zu zu sprechen.

Die aktuelle "Naturkatastrophe" von Japan führt auch deshalb zu weltweiten Erschütterungen, weil die Behörden es zuließen, daß Atomkraftwerke an die Küste gesetzt werden, ohne ausreichenden Schutz gegen Tsunamis, die in Japan keine Seltenheit sind. Sowohl die Wahl der Standorte wie auch generell der Bau von Atomkraftwerken im Erdbebengebiet sind menschliche Entscheidungen. Japan hat nach dem zweiten Weltkrieg die Entscheidung getroffen, dem westlichen Wachstumsmodell zu folgen, und war darin überaus erfolgreich. Das Hochindustrieland hat jedoch einen hohen Energiebedarf, der unter anderem von mehr als 50 Atomkraftwerken gestillt wird. Die mit dieser Technologie verbundenen Gefahren wurden von den politischen Entscheidungsträgern in Kauf genommen.

Der gemeinsame Nenner der drei Beispiele für "Naturkatastrophen" besteht darin, daß die Ereignisse im erheblichen Umfang von Menschen verstärkt wurden, mal aufgrund des Imperialismus der Briten, mal aufgrund von Sparmaßnahmen in Verbindung mit einer sozialrassistischen Einstellung in den USA, mal aufgrund der ökonomischen Verwertungslogik eines Industriestaats wie Japan. Wenn nicht die Unversehrtheit menschlichen Lebens im Zentrum der Entscheidungen einer Gesellschaft steht, sondern das Abschöpfen des von Arbeitern geleisteten Mehrwerts im Rahmen des profitorientierten Wirtschaftssystems, ist der unumkehrbare Verbrauch physischer Potentiale mit der Folge von motorischen Einschränkungen, Krankheiten, frühzeitigem Ableben vorprogrammiert.

Indem sich der Mensch der Natur gegenüberstellt, schafft er eine höhere Instanz, der er einerseits etwas abzutrotzen glaubt, die ihn aber auch vermeintlich schicksalhaft in Form einer Katastrophe heimsuchen kann. Dadurch bleiben die vorherrschenden Produktionsverhältnisse, die ein soziales Oben und Unten erzeugen, unhinterfragt. Woraus umgekehrt folgt, daß ein schadensmildernder Umgang mit Naturkatastrophen darin besteht, sich der geradezu tabuisierten Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen zu stellen.

18. März 2011