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LAIRE/219: An der Schwelle zum "Klima-GAU" (SB)


400 ppm - das Klima schert sich nicht um hehre Versprechungen



Seit Jahren warnen Wissenschaftler davor, daß sich die Erde unaufhaltsam weiter erwärmen wird, sollte der Anteil des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid (CO2) an der Atmosphäre 400 ppm übersteigen. Jüngste Meßergebnisse zeigen, daß diese Schwelle praktisch schon erreicht ist.

"400 ppm" hat sich zu einer Chiffre der Klimaforschung entwickelt. Dabei steht das ppm für die englische Bezeichnung "parts per million" und bedeutet "Teile auf eine Million". In einer anderen Schreibweise sind das 0,0004 Prozent. Der Anteil des CO2 an der Erdatmosphäre ist also extrem gering, und doch übt er einen entscheidenden Einfluß auf die globale Durchschnittstemperatur aus. Kohlenstoffdioxid ist nicht das einzige sogenannte Treibhausgas, das die kurzwellige Sonneneinstrahlung hindurchläßt, aber die von der Erde reflektierte, langwellige Strahlung aufhält, es gilt aber als das wichtigste.

Zur Eröffnung einer am Freitag zu Ende gehenden Klimakonferenz ("Second session of the Ad Hoc Working Group on the Durban Platform for Enhanced Action") in Bonn sagte Christiana Figueres, Leiterin des UN Framework Convention on Climate Change (UNFCCC), daß in der Vorwoche am Mauna Loa Observatorium in Hawaii ein CO2-Wert von 399,72 ppm registriert wurde. Bei den Verhandlungen für ein neues Klimaschutzabkommen dürfe keine Zeit verschwendet werden. [1]

Forscher rechnen damit, daß die 400-ppm-Schwelle an der Meßstation auf Hawaii noch in diesem Monat erreicht wird. Auf einer Arktisstation wurde sie bereits im vergangenen Jahr einen Monat lang überschritten; kurzzeitig galt das auch für andere Meßstationen. Doch die Messungen von Hawaii werden weltweit als Referenzgröße genommen, weil die Station in 3400 Meter Höhe liegt und somit von menschlichen Einflüssen und der Vegetation weitgehend unberührt bleibt. Außerdem handelt es sich hier um die weltweit erste Station, in der regelmäßig und bis heute nahezu durchgängig der CO2-Gehalt der Atmosphäre erfaßt wird.

Saisonal bedingt nimmt die CO2-Konzentration im Sommer etwas ab, weil die Pflanzen das Treibhausgas absorbieren und unter anderem in ihren Blattaufbau einbinden. Zwar bereitet sich zur selben Zeit die Vegetation auf der Südhalbkugel auf den Herbst und Winter vor, wobei CO2 wieder abgegeben wird, doch ist der Einfluß der Pflanzen der Nordhalbkugel auf die globale CO2-Konzentration ausgeprägter, weil es südlich des Äquators weniger Landmasse gibt, auf denen Pflanzen wachsen können.

Das Überschreiten der 400-ppm-Schwelle bedeutet in der Lesart der Klimaforscher nicht, daß ab dann alles vorbei ist und die Erde unabweislich auf eine gewaltige Katastrophe zusteuert. Die Unsicherheit, wo der Kippunkt für solch eine Entwicklung liegt, ist viel zu groß, als daß sich ein Experte ernsthaft zu einer derartigen Prognose hinreißen ließe. Aber irgendwo zwischen 400 und 450 ppm dürfte die Schwelle liegen, ab der die globale Durchschnittstemperatur um 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter steigt. Diese Temperatur ist die zentrale Bezugsgröße für die internationale Klimaschutzpolitik und gilt als Schwellenwert, ab dem das Klimasystem umgekrempelt wird und beispielsweise gänzlich neue Klimazonen entstehen.

Die Unsicherheit hinsichtlich der Schwellenwerte ist naturgemäß groß, weil noch nie im Laufe der Menschheitsgeschichte solche Verhältnisse geherrscht haben. Sämtliche Simulationen, mit denen sie nachgestellt werden, reichen nicht aus. Eigentlich müßte man eine zweite Erde als Referenzgröße haben, um vorherzusagen, wie das zukünftige Klima aussieht. Dennoch ist die 400-ppm-Grenze nicht nur von symbolischer Bedeutung, denn hinter diesem Wert stehen konkrete Veränderungen der Luftzusammensetzung, der Temperaturen und des Klimas und in der Folge natürlich auch der soziökonomischen Verhältnisse.

Streng genommen haben die Menschen schon künstliches Geoengineering betrieben, als sie begannen, Feuer zu machen. Ein global bemerkenswerter Effekt trat allerdings erst mit der Industrialisierung vor 150 bis 200 Jahren ein. Heute weiß man um die Folgen des Verbrennens fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) für das Erdklima und versucht, den Trend aufzuhalten oder sogar umzukehren. Auch das ist Geoengineering. Als akzeptabler Wert gilt eine CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre von 350 ppm. Aber allen Absichtserklärungen von Politikern und ausgeklügelten Energieeinsparkonzepten der Ingenieure zum Trotz ist nicht zu erkennen, daß dieser Wert jemals wieder erreicht werden könnte. Jedenfalls nicht, ohne daß nicht viele Menschen deswegen erhebliche Einbußen in der Lebensqualität hinnehmen müßten.

In Schwellenländern wie Indien und China beispielsweise, in denen rund ein Drittel der Menschheit lebt, findet zur Zeit eine "nachholende Entwicklung" der Industrialisierung statt. Die Regierungen beider Länder bemühen sich zwar um die Einhaltung von Umweltschutzauflagen, aber gleichzeitig fördern sie das Wirtschaftswachstum - mit der hinlänglich bekannten Folge des Anstiegs der Treibhausgasemissionen.

Die Pro-Kopf-CO2-Emissionen insbesondere von China nähern sich eher den Werten der Industrieländer an, als daß es diesen umgekehrt gelänge, ihre CO2-Emissionen zu senken. Die Weltbank und andere Institutionen sprechen bereits davon, daß bis Ende des Jahrhunderts die globale Durchschnittstemperatur um vier oder fünf Grad Celsius steigen könnte. Die aktuellen Meßdaten von Hawaii weisen in eben diese Richtung.

Keine Unsicherheit haben Wissenschaftler hinsichtlich der Prognose, daß der Klimawandel gravierende Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben haben wird. Dafür gibt es aktuelle Vorbilder. Beispielsweise sind laut einem UN-Bericht in südlichen und zentralen Landesteilen Somalias, wo die von existentiellen Nöten bestimmten Lebensverhältnisse durch eine kaum aufzudröselnde Gemengelage aus klimatischen, historischen, geopolitischen und sozioökonomischen Faktoren bestimmt werden, zwischen 2010 und 2012 rund 258.000 Menschen zusätzlich aufgrund der "Notsituation" als Folge von Dürren, hohen Nahrungsmittelpreisen, verringerter humanitärer Hilfe und bewaffneten Konflikten gestorben. [2]

Lebensverhältnisse wie im Somalia der Gegenwart ermöglichen einen Blick auf die Zukunft einer Welt, die von neun Milliarden Menschen bevölkert wird, in der die globale Durchschnittstemperatur um mehrere Grad höher liegt als heute und in der die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Wasser, Getreide und Energie für eine Vielzahl von Menschen kein Teil ihrer Lebenswirklichkeit ist.

Zugleich steht Somalia aber auch stellvertretend dafür, daß man den Klimawandel nicht zu bemühen braucht, um festzustellen, daß der Mensch des Menschen Feind ist und viele mit ihrer Überlebensnot alleingelassen werden. Da genügt ein Blick auf die Realität von heute:

Beispiel 1: Weltweit sterben mehr Menschen aufgrund gefährlicher und gesundheitlich ruinöser Arbeitsverhältnisse (nicht nur in baufälligen Fabriggebäuden in Bangladesch!) als aufgrund von Kriegen und bewaffneten Konflikten.

Beispiel 2: Jeder siebte Mensch hat nicht genügend zu essen; jeden Tag verhungern mehrere zehntausend Menschen auf der Welt.

Beispiel 3: Weltweit befinden sich mindestens 42,5 Millionen Menschen auf der Flucht.

Der Klimawandel, genauer gesagt, der Umgang des Menschen mit dem Klimawandel, dürfte diese, an drei Beispielen aufgezeigte allgemeine Lage der Menschheit noch verschärfen, wahrscheinlich sogar in einem beträchtlichen Ausmaß.

Doch einmal angenommen, die Klimaschützer hätten wider Erwarten Erfolg und die Erderwärmung würde abgewendet, dann sähe die Welt so aus wie die heutige oder vielleicht so wie vor einigen Jahrzehnten. Ist das wünschenswert? Ganz sicher nicht aus Sicht der vielen Menschen, zu deren Lasten der privilegierte Teil der Menschheit sein Überleben sichert.

Wird nicht in der Klimadebatte, so wie sie vorwiegend geführt wird, unterschlagen, daß die Ausgangsbedingungen für die geradezu dystopischen Entwürfe der "Klimawarner" in der Vergesellschaftung gegründet sind, die es ermöglicht, daß sich ein Mensch über den anderen erheben kann?


Fußnoten:

[1] https://unfccc.int/files/press/releases/application/pdf/20132904_adp_open.pdf

[2] http://www.fews.net/docs/Publications/Somalia_Mortality_Estimates_Final_Report_1May2013_upload.pdf

2. Mai 2013