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STANDPUNKT/732: Renaissance der Atomkraft? (Gorleben Rundschau)


Gorleben Rundschau - September/Oktober 2015, 1036/1037

Renaissance der Atomkraft?

Paris - Vom Paradox, wie die Menschheit in ihrem ersten gemeinsamen Kampf, dem Kampf gegen den Klimawandel und damit dem Kampf gegen die Zerstörung der Natur und der menschlichen Lebensgrundlagen durch sie selbst, der schmutzigsten und gefährlichsten aller Möglichkeiten zur Energiegewinnung zu einem zweiten Leben verhelfen könnte.

Ein Kommentar von Henrik Stern


In einigen wenigen Medien war kürzlich zu lesen, dass die Industrie hinter der nuklearen Stromerzeugung weltweit auf dem absteigenden Ast sei. Da wurden Restlaufzeiten bestehender AKWs mit Zahlen geplanter Neubauprojekte zusammengebracht und graphisch in eben jenen Ast überführt, der in Zukunft immer mehr abfällt. Zudem wurde dieses Jahr bekannt, wie tief beispielsweise der größte Atomkonzern, die französische AREVA, im Minus steht, und anderswo geisterten Nachrichten durch die Medienwelt, die das Aussterben von nukleartechnischen Fachkräften betrafen. Sollten wir damit nicht erstmal zufrieden sein und uns in Zeiten des Klimawandels auf das Problem der Kohleverstromung konzentrieren, so wie es die großen Umweltorganisationen zuletzt vorgemacht haben?

Ende November treffen sich Vertreter der Vereinten Nationen (UN) in Paris zur nächsten Klimakonferenz (COP21). Nachdem 2009 in Kopenhagen (COP15) ein Abkommen als Nachfolge für das Kyoto-Protokoll gescheitert ist, wurden in den darauf folgenden Konferenzen zwischen den 195 Vertragsstaaten Allianzen neu- und umgebildet, Gräben ausgelotet, Fronten verschoben und neue Kommunikationsbasen geschaffen. Inzwischen ist man in jenen Kreisen der Meinung, dass der diesjährige Klimagipfel die Entscheidung bringen muss.

Man würde sich damit gemeinsam darauf einigen, den CO2-Ausstoß zu begrenzen und nach und nach soweit runterzufahren, dass die Folgen der Klimaerwärmung für die Menschheit tragbar bleiben. Dabei, und das ist neu, bleibt es jedem Land in gewissen Grenzen selbst überlassen, wie es das angeht. Diesbezüglich stellte die UN bereits im Kyoto-Protokoll unter anderem fest, dass Kernenergie nicht als Lösung zur Reduktion des CO2-Ausstoßes infrage käme.

Es bahnen sich also auf der Basis des zu erwartenden Abkommens weltweit grundlegende energiepolitische Entscheidungen an, die die Weichen für viele Jahrzehnte stellen. Ob diese aus klimapolitischer Sicht ausreichend sein werden, sei zunächst dahingestellt. Diese Entscheidungen werden in Ländern getroffen, deren Priorität es ist, die Energieerzeugung noch erheblich zu steigern, weil sie wirtschaftlich konkurrenzfähig werden wollen und weil große Teile ihrer Bevölkerung noch unterversorgt sind. Diese Entscheidungen werden in Ländern getroffen, deren Bevölkerung sich an eine Überversorgung gewöhnt hat und deren Wirtschaft ihre Vormachtstellung nicht einbüßen will. Diese Entscheidungen werden aber auch in einer Zeit getroffen, in der die nuklearen Industrien immer noch im Besitz ihres machtpolitischen Einflusses sind, in der die Gesetzesgrundlagen immer noch atomfreundlich gestaltet sind und in der in den großen Parteien immer noch Altpolitiker die Fäden ziehen, die an das Wunder unendlicher Energieressourcen glauben. Eine Zeit, in der sich Fronten aufbauen um die Frage, wer durch den Umgang mit nuklearen Ressourcen einer Atombombe einen großen Schritt näher kommen darf und wer nicht, sich aber keiner darüber Gedanken macht, dass er sich mit einem Atomkraftwerk selbst eine tickende Bombe unters Kopfkissen legt.

Was nach all den Klimagipfeln weder in den Köpfen der verantwortlichen Entscheider, noch in denen der verantwortlichen Verursacher oder Verbraucher angekommen ist, ist, dass das große Rennen vorbei ist. Man meint, man könne ewig weiterrennen und müsse zukünftig nur ein wenig auf einen geringeren CO2-Ausstoß achten. Solange sich weiterhin auf diese Weise Konkurrenz- mit Wachstumsdenken paart, wird jedes Mittel recht sein, dem Spagat zwischen viel Energie und wenig CO2 entgegenzukommen. Und genau da sieht die Nuklearindustrie jetzt ihre Chance, den Fuß wieder in die Tür zu bekommen. Sie hat damit ein Argument in der Tasche, dessen Gewicht zunehmend schwerer erscheint.

Dass Atomstrom als grün und bisweilen gar als CO2-frei beworben wird, ist neben der schreienden Lüge ein Fehler, der seine Verfechter angreifbar macht und die Problematik an die Oberfläche spülen könnte. So wurde gerade der französische Stromkonzern EDF, der im Übrigen ein Hauptsponsor des kommenden Klimagipfels ist, gezwungen, eine solche Werbung zurückzuziehen. Hoffentlich mit allen negativen medialen Konsequenzen und einem breiten aufklärerischen Effekt. Dabei lässt es sich nicht leugnen, dass Atomstrom über seine gesamte Produktionskette nur ungefähr ein Fünftel des CO2-Ausstoßes von Kohle und Gas verursacht. Genau da liegt der Knackpunkt.

Das Ganze derart reduziert zu betrachten, ist mehr als gefährlich und natürlich völlig falsch, denn die Tatsache, dass Uran ein fossiler, endlicher Brennstoff ist, unterscheidet ihn negativ von den erneuerbaren Energien, ebenso wie die CO2-Werte, die bei Letzteren nochmals bis zu Faktor 10 niedriger liegen. Aber werden diese Argumente berücksichtigt? Werden die altbekannten Gefahren der Atomenergie bedacht? Die Probleme mit der Entsorgung, die weltweit ungelöst sind? Die Gesamtkosten, die weiterhin durch versteckte Subventionen verschleiert werden? Und überhaupt: Muss eine Diskussion neu eröffnet werden, wenn in altbekannten Argumenten schon Ausschlusskriterien im Überfluss vorhanden sind?

Das aber steht jetzt zu befürchten, und es ist ja nicht unbekannt, wie Politik manchmal funktioniert, gerade wenn eine Lobby in ihrem vermeintlich letzten Gefecht nochmal auf Hochtouren kommt. Es stellt sich also die Frage, wie man einen "abfallenden Ast" prognostizieren kann kurz bevor die Karten neu gemischt werden? Und es wird neu gemischt werden, wenn selbst die oben angeführte, eigentlich selbstverständliche Aussage der UN zur Untauglichkeit der Atomenergie in einem Papier steht, dessen Text noch dieses Jahr wieder zur Diskussion gestellt wird. Um zu verdeutlichen, was in dieser Textarbeit, die auf internationaler Ebene auch zwischen den Gipfeln vorangetrieben wird, vor sich geht, mag ein Detail dienen, das auf amerikanischen Druck hin geändert wurde: In einer Textpassage ist ein Ziel von "erneuerbare" auf "saubere" Energie geändert worden, mit der löblichen Intention, ein noch härteres Kriterium zu definieren und den Bereich der Biokraftstoffe besser ausschließen zu können. Manche/-r mag sich an Kräfte erinnern, die schon seit langem versuchen, die Kernenergie als sauber zu definieren. Und doch wurde mit der Textänderung ein weiteres Hintertürchen einen Spalt geöffnet.

Die massiven staatlichen Subventionen, die die EU für den Neubau des AKW Hinkley Point in Großbritannien genehmigt hat, zeigen, in welche Richtung die Tendenz geht. Solche Entscheidungen haben nicht nur Strahlkraft auf andere europäische Länder, sondern auch auf den Rest der Welt. Wo das selbsternannte Vorbild deutscher Politik seine Interessen in Europa sonst mit der Macht des Stärkeren durchzusetzen weiß, gibt es sich gerade in diesem Punkt mehr als zurückhaltend und offenbart damit, wie sehr es schmerzt, seine atompolitischen Interessen dem Willen des Volkes geopfert zu haben.

Um zu demonstrieren, dass echter Klimaschutz nur ohne Atomkraft möglich ist, fährt die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg zur großen Klima-Demo am 12. Dezember nach Paris. Informationen auf der letzten Seite dieser Ausgabe, telefonisch im BI-Büro (05841-5684), oder im Internet.

weitere Infos im Internet unter:
www.gorleben-rundschau.de

www.bi-luechow-dannenberg.de/paris
www.wiseinternational.org/campaign

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Quelle:
Gorleben Rundschau - September/Oktober 2015, Seite 12-13
Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.
Rosenstr. 20, 29439 Lüchow
Tel. 05841/46 84, Fax: 05841/31 97
E-Mail: redaktion@gorleben-rundschau.de
Internet: www.gorleben-rundschau.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2015

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