Vollbremsung oder Klimacrash?
Das Zeitfenster zur Begrenzung der Klimakatastrophe schließt sich
von Jürgen Tallig
Die Menschheit befindet sich in einer Vielfachkrise und bewegt sich
mit weit offenen Augen Richtung Katastrophe.
Zig Milliarden werden für eine sich ausweitende Spirale der Zerstörung
und des Tötens ausgegeben und fehlen woanders, um Leben zu retten und
zu schützen und die eskalierende Klimakatastrophe einzudämmen.
Wissenschaftler sprechen längst von Alarmstufe Rot, vom
"Klima-Endspiel", einem beispiellosen Artensterben, einem globalen
Notstand, vom vielfachen Überschreiten planetarer Grenzen, von
drohenden Kippprozessen und fordern einen sofortigen Kurswechsel, um
die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens und des
Artenschutzabkommens einzuhalten und eine weitere Eskalation der
globalen Katastrophe zu verhindern.
Doch die zukunftsbedrohende Vielfachkrise der Menschheit verschwindet hinter einem Schleier von symbolischer Politik und wird übertönt vom üblichen Klappern der "Megamaschine" mit seinem Mantra von unendlichem Wachstum und Fortschritt. Die Klimaschreckensmeldungen aus aller Welt und die immer ernsteren Mahnungen und Warnungen der Wissenschaft und der Klimaberichte erreichen immer nur kurz die mediale Oberfläche, um sofort wieder in einem Meer von populistischer Manipulierung, Tagespolitik, Kriegsberichterstattung und kunterbunter Abstumpfung zu versinken.
Optimismus beruht bekanntlich auf Mangel an Information und auf dem
Übermaß an nicht relevanten Informationen. Die Stimmen des fossilen
"Weiter so!" sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht
der Fossillobby scheint ungebrochen.
Weder die Gesellschaft, noch die Politik haben scheinbar den
wirklichen Ernst der Lage begriffen, siehe die Gemeinsame Erklärung
von Wissenschaftlern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur Räumung
von Lützerath [1], geschweige denn, dass man zu einem wirklichen
Kurswechsel bereit wäre. Darauf angesprochen, dass die derzeitige
Politik die Klimaziele missachte (vor allem im Verkehrssektor) und
daher rechtswidrig sei, äußerte Minister Habeck, dass es dann künftig
höhere negative Emissionen geben müsse und offenbarte damit eine
fahrlässige Unkenntnis der naturwissenschaftlichen und juristischen
Faktenlage.
Die Aktivisten der Letzten Generation, mit denen wir solidarisch sein
sollten (obwohl ich die Beschädigung von Kunst ablehne), weisen mit
ihren spektakulären Aktionen vor allem auf die Fortführung einer
rechtswidrigen, unverantwortlichen Verkehrspolitik hin, die
fortwährend gegen die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstößt.
Mittlerweile hat der BUND, der größte Umweltverband Deutschlands,
wegen Nichteinhaltung des Klimaschutzgesetzes Klage gegen die
Bundesregierung [2] beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
eingelegt. Es ist höchste Zeit, zu klären, wer hier eigentlich die
Gesetzesverletzer sind.
Die Reaktion der Bundesregierung auf die Verstöße war allerdings nicht
die zügige Einhaltung des Klimagesetzes. Stattdessen wurde das Gesetz
geändert. Bewertungsgrundlage ist jetzt nur noch das CO2-Gesamtbudget,
sodass sich einzelne Bereiche wie der Verkehr nicht mehr verantworten
müssen. Welch klimapolitischer Offenbarungseid! Das sind
Taschenspielertricks.
Gleichzeitig spekuliert man über massive Subventionen für energieintensive Industrien und die Grünen erweisen sich immer mehr als Lobbyisten für Konzerninteressen und nicht als Klimaschützer, - obwohl der Klimawandel längst unübersehbar aus dem Ruder läuft und sich zusehends zu einer lebensbedrohlichen globalen Katastrophe auswächst. "Unser Haus (Erde) brennt!" sagte einst Greta Thunberg, - doch es wird immer noch nicht gelöscht. Mit der Beibehaltung der derzeitigen klimaschädlichen Strukturen und der Fortsetzung eines fossil-mobilen Wachstumskurses wird sogar ständig weiter Öl und Benzin ins Feuer der globalen Klimakatastrophe geschüttet. Welch kriminelle Verblendung!
Die Erderhitzung und der Klimawandel beschleunigen sich immer weiter.
Die neuesten Entwicklungen sind erschreckend. Voriges Jahr erreichte
die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur bereits 1,26 Grad und sie
nimmt mittlerweile bereits um über 0,2 Grad pro Jahrzehnt zu und all
dies beschleunigt sich immer weiter [3].
Asien ächzt dieses Jahr unter einer Hitzewelle (in Indien 45-50 Grad
Celsius) und leidet unter zunehmendem Wassermangel. Die Gletscher des
Himalaya schmelzen rasant.
Doch auch Südeuropa, Nordafrika und die südlichen USA (etwa 110
Millionen Menschen) waren von extremer Hitze betroffen, die teilweise
wochenlang anhielt.
Das führte zu verheerenden, unkontrollierbaren Waldbränden, wie in Griechenland und jüngst auf Hawaii und schon seit Monaten in Kanada. Sie nebelten nicht nur New York und die Ostküste der USA ein, sondern haben inzwischen auch Europa und höhere Luftschichten erreicht, wo der Rauch die Wolkenbildung verändert und die Ozonschicht schädigt. Die zunehmenden Waldbrände im Norden - auch Sibirien und arktische Gebiete sind betroffen - sind eine zusätzliche Bedrohung für das Klima, stellte das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig fest.
Es wird zudem vielfach eine extreme Erwärmung der Meere und Ozeane beobachtet. Darüber hinaus wird inzwischen mit 80%iger Wahrscheinlichkeit mit einer El Niño-Phase gerechnet, einer periodisch wiederkehrenden Wetteranomalie, die die Temperaturen zusätzlich nach oben treibt und für zusätzliche Wetterextreme sorgt.
Während sich Deutschland in diesem Frühjahr und Sommer häufig unter dem Einfluss kalter Luft aus dem Norden befand und es häufigere Niederschläge gab, ist Südeuropa von Hitze und Dürre extrem betroffen. Austrocknende Seen und Flüsse, eine weiter erhöhte Waldbrandgefahr und eine massive Beeinträchtigung der Wasserversorgung und der Landwirtschaft stellen für viele heute schon die Existenzfrage. Und dann gab es wieder verheerende Überflutungen, wie in den Alpen, im Adriaraum und sogar in Skandinavien.
Längst ist das Wetter zum "Un"-Wetter geworden. In Europa hat sich zwischen 1991 und 2021 die Oberflächentemperatur um unglaubliche 0,5 Grad pro Jahrzehnt erhöht. Wir haben jetzt "erst" eine um etwa 1,2 Grad Celsius erhöhte globale Mitteltemperatur erreicht. Was passiert dann bei den zu erwartenden globalen 2,7 oder 3,2 Grad, oder gar bei 4 oder 5 Grad globaler Temperaturerhöhung?
Eine ganz aktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler, mit der
IPCC-Methodik, aber unter Berücksichtigung der neuesten
Forschungsergebnisse [4], kommt zu dem Ergebnis, dass das CO2-Budget
nur noch halb so hoch ist, wie bisher angenommen. Dazu muss man
wissen, dass die IPCC-Berichte des Weltklimarates nur alle sechs Jahre
erscheinen und wesentlich auf konservativen Forschungsergebnissen des
zurückliegenden Zeitraums beruhen, die aber durch das Tempo der
Veränderungen oftmals schon überholt sind.
Weiterhin muss man wissen, dass das in den IPCC-Berichten ermittelte
CO2- Budget, Grundlage der internationalen und nationalen Klimapolitik
ist und die Höhe der tolerierbaren Restemissionen vorgibt. Kritiker
dieser fragwürdigen und teils höchst spekulativen Berechnungen, nennen
dies die Erteilung der "Lizenz zum Klimakillen". Nicht zu Unrecht.
Hier wird die Möglichkeit zur CO2-Rückholung in großem Stil fest
einkalkuliert, obwohl diese rein spekulativ und kaum umsetzbar ist.
Nach den neuesten Forschungsergebnissen müsste eigentlich bei der nächsten UN-Weltklimakonferenz, der COP 28 im November, ein neues, strengeres CO2-Budget beschlossen werden. Auch die Bundesregierung müsste dann, bei einem nur noch halb so hohen Budget, laut Klimaschutzgesetz ihre Klimaziele- und Maßnahmen erheblich verschärfen. Doch sie hält ja nicht einmal die derzeitigen, völlig ungenügenden Verpflichtungen ein, da Wirtschaftswachstum und Profit absoluten Vorrang haben.
Inzwischen können wir die Klimakatastrophe nicht mehr verhindern sondern nur noch verlangsamen und begrenzen, - doch wir beschleunigen sie immer weiter.
Weshalb zeigen sich die EU und Deutschland (selbst mit grüner
Regierungsbeteiligung) unfähig und unwillig die notwendigen Maßnahmen
einzuleiten, obwohl man doch gleichzeitig hunderte von Milliarden Euro
für dubiose Corona-"Wiederaufbauprogramme", für Aufrüstung und für
Energiesubventionen ausgibt, die man offenbar als systemrelevant
betrachtet? Die rechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz missachtet
man hingegen und macht sich damit sogar strafbar.
In der Logik des kapitalistischen Wachstumssystems ist Klimaschutz
offenbar nicht "systemrelevant", sondern systembedrohend, da er ein
schnelles "Weniger", statt des beständigen "Immer mehr" erfordert, das
ja die Grundlage für das Funktionieren des ganzen Systems ist.
Es gibt offenbar einen antagonistischen Widerspruch zwischen den dominanten Gegenwartsinteressen, die vorwiegend Wachstums, Profit- und Konsuminteressen sind und den Interessen der jungen Generation, der Ärmeren, der Bauern, des Südens und der kommenden Generationen an der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Zukunft.
Wir werden die Klimakatastrophe jetzt begrenzen oder wir werden sie
überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann
verselbständigt hat und selbst verstärkt.
Das meint ganz konkret den auftauenden Permafrost, das schwindende
Meereis, die brennenden Wälder, - alles Verstärkungen der
Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in diesen
Budgetzahlenspielereien gar nicht berücksichtigt werden.
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe
unterwegs. Laut einer aktuellen Studie der
Weltmeteorologieorganisation WMO [5], könnte eine Erderwärmung von 1,5
Grad bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre erreicht sein und damit
eine eskalierende Klimakettenreaktion drohen.
Die weitere Verschärfung der Klimakatastrophe bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO2 die ausgestoßen wird, führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. 2022 gab es in Europa bereits 60000 Hitzetote, in Deutschland waren es 8000 und das ist erst der Anfang. Jede weitere Tonne CO2 destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, - deshalb muss Schluss sein mit dem Kohle-und Autowahnsinn,- das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie den Tod. Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.
Hier hat die "Letzte Generation", in letzter Zeit den Staffelstab
übernommen und sehr mutig und phantasievoll das Thema wieder nach
vorne gebracht. Und keinesfalls nur mit Klebeaktionen, wie uns die
bürgerlichen Medien weismachen wollen, sondern mit einer Vielzahl
unterschiedlichster Aktionsformen.
Zum Beispiel die Beteiligung an den Protesten gegen die
Tesla-Autofabrik bei Erkner und das TVO-Straßenbauprojekt in der
Wuhlheide. Oder das symbolische Abdrehen der Öl- und Gasversorgung
etwa an der Raffinerie Schwedt. Oder die Blockade des Hamburger Hafens
sowie von Golfplätzen. Oder die farbliche "Verschönerung" von
Ampel-Parteizentralen und RWE-Büros sowie eines Privatjets auf Sylt. Auch
andere Gruppen wie "Extinction Rebellion" orientieren sich neu, wie
die Besetzung des Berliner Hotels Adlon und das Entrollen eines großen
Transparents "Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten" zeigten.
Das geht schon alles in die richtige Richtung, wird aber gerne
totgeschwiegen. Unterstützung kommt von Bürgermeistern,
Museumsdirektoren, Wissenschaftlern. So manche altkluge Kritik sollte
hier nicht an die Aktivisten gehen, sondern an die Besserwisser, die
sich lieber zurücklehnen und zuschauen, obwohl sie doch auch die
Letzte Generation sind.
"Es rettet uns kein höheres Wesen" und auch kein imaginäres Subjekt
der ökologischen Wende aus dem Süden. Von dort werden sogar bald
Dutzende und hunderte Millionen Klimaflüchtlinge nach Norden
aufbrechen, weil ihre Heimat unbewohnbar geworden ist.
Die Zeit wird knapp und die Klimawende muss vor allem und zuerst im
Norden stattfinden.
Karikatur: Gerhard Mester, via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0
Ein "Weiter so" scheint aber vielen immer noch das geringere Übel.
Groß sind die interessegeleiteten Trägheitskräfte in der Gesellschaft
und bei jedem Einzelnen, eingeübte Routinen von Pflichterfüllung und
vorauseilendem Gehorsam.
"Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft." wie
der französische Philosoph Baudrillard treffend formulierte. Unsere
derzeitige Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht nur imperial,
sondern zerstörerisch und bedeutet faktisch einen permanenten Krieg
gegen das Klima, die Biosphäre und andere Kulturen, wird aber
nachwievor als fortschrittlich, rational und alternativlos dargestellt
und verteidigt. Doch wir sind nicht die Vernünftigen, - wir
Biedermänner sind die Brandstifter...
Und so werden wir wahnsinnig Vernünftigen die Welt in den Abgrund der
Klimahölle befördern, nicht aus böser Absicht, sondern aus Trägheit
und Bequemlichkeit, aus Gewohnheit und Pflichtgefühl, weil wir nicht
bereit sind unsere gewohnte Komfortzone zu verlassen, - auch wenn wir
schon den Rauch und die Hitze des großen Feuers spüren.
"Wie man die Trägheit der Herzen und Strukturen noch rechtzeitig
überwinden kann, ist inzwischen eine Überlebensfrage..." schrieb
ich bereits 2017.
Jeder Krieg geht vorbei, jedoch die Klimakatastrophe beginnt gerade erst und wird eine lebensbedrohliche Dynamik entfalten, die das Überleben der Menschheit gefährdet. Das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln.
Der Autor war 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig
Weitere Informationen unter:
www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com
Der Artikel ist in Kurzfassung in der Berliner Umweltzeitung "Der Rabe
Ralf", August/September 2023 (S.12-13) erschienen:
https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/aktuelle-ausgabe/klimacrash/
Zur Ausgaben-Übersicht
https://www.grueneliga-berlin.de/publikationen/der-rabe-ralf/archiv/jahrgang-2023/
Links:
[1] http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/meinung/umsp1215.html
[2] https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/materialien/pdfs/Klageschrift_Klimaschutz_24012023.pdf
[3] https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/erde-erwaermt-sich-schneller/
[4] https://www.energiezukunft.eu/klimawandel/erde-erwaermt-sich-schneller/
[5] https://library.wmo.int/index.php?lvl=notice_display&id=22083#.Y5HsjMuZMY0
siehe auch:
www.scharf-links.de/debatte/oekologiedebatte/vollbremsung-oder-klimacrash
*
Quelle:
Jürgen Tallig, 24. August 2023
mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 25. August 2023
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