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ATOM/315: Stärkere Verstrahlung durch Windscale-Unfall errechnet (SB)


Viele Strahlenopfer auch ohne Kernwaffenexplosion

Vor 50 Jahren brannte der britische Kernreaktor Windscale I


Die genaue Berechnung der Menge, Ausbreitung und vor allem der biologischen Wirkung eines radioaktiven Fallouts ist nicht einfach, deshalb haben schon mehrere Forschergruppen die Strahlenbelastung nach der Havarie des ersten britischen Atomkraftwerks Windscale am 10. Oktober 1957 berechnet. Es fällt allerdings auf, daß ausgerechnet die jüngste Berechnung, die die gründlichste zu sein scheint, als Ergebnis die höchsten Strahlenwerte herausbekommen hat.

In einem von zwei der mit Graphit moderierten Windscale-Reaktoren war im Zuge von Wartungsarbeiten ein Feuer ausgebrochen und hatte 2000 Tonnen Graphit und rund zehn Tonnen Uran in Brand gesetzt. Die Techniker reagierten verstört, schließlich löschten sie die Flammen mit Wasser. Denn sie wußten nicht, was sie taten, könnte man ergänzen, denn genau das hätte zur Explosion führen können. Davon wurde Windscale verschont. Dafür flossen größere Mengen verstrahltes Löschwasser in die Umgebung, und es entwich eine große radioaktive Wolke aus dem luftgekühlten Reaktor ins Freie und legte sich über weite Teile Großbritanniens und Nordeuropas. Größere radioaktive Emissionen entwichen ab ungefähr 15.00 Uhr des 10. Oktober 1957 bis zum Mittag des folgenden Tages.

Die Menge des Fallouts sei doppelt so hoch wie bislang angenommen und habe erheblich mehr Krebsfälle ausgelöst, berichtete BBC News (6.10.2007) unter Berufung auf einen Fachartikel im Journal "Atmospheric Environment" (Volume 41, Issue 18, June 2007, Pages 3904-3920), der bereits im Januar dieses Jahres online veröffentlicht wurde.

John Garland, ehemaliger Mitarbeiter der britischen Atomenergiebehörde, und Richard Wakeford, Gastprofessor an der Universität von Manchester, haben die nach dem Unfall erfaßten Daten über die radioaktive Belastung der Luft und Vegetation noch einmal analysiert und mit ihren Computermodellen abgeglichen. Sie wollten herausfinden, wie sich die radioaktive Wolke unter den damals herrschenden Wetterbedingungen und sehr wechselhaften Winden wahrscheinlich ausgebreitet hat.

Die beiden Forscher erklärten, daß beim Windscale-Unfall neben den kurzlebigen Jod-, Tellur- und Xenon-Isotopen auch Cäsium, Polonium und eine kleine Menge Plutonium freigesetzt wurden. Die Wolke habe sich von Windscale aus weiter nach Osten verbreitet als angenommen, schrieben die Forscher. Und weil annähernd doppelt so viel Radioaktivität in die Umwelt gelangt war, nehmen die Forscher an, daß dies auch die Krebsrate erhöht haben müsse. Statt ungefähr 200 zusätzliche Krebsfälle, wie bislang vermutet, gehen die Forscher von 240 zusätzlichen Krebsfällen aus. Ein Großteil der radioaktiven Substanzen habe sich mittlerweile abgebaut, lediglich kleinere Mengen Cäsium und Plutonium seien verblieben. Bis heute ist der stillgelegte Reaktor nicht vollständig abgebaut. Er wurde abgeschirmt und strahlt weiter vor sich hin.

Im Gegensatz zu den USA hat Großbritannien bislang noch keine Nuklearbombe in feindlicher Absicht in einem anderen Land gezündet, so heißt es. Allerdings haben die Briten wie auch die anderen ständigen Mitgliedsländer des UN-Sicherheitsrats oberirdische und unterirdische Kernwaffenversuche durchgeführt und dadurch ganze Landschaften (die Briten in Nordamerika, Australien und Pazifik) radioaktiv verseucht.

In den beiden Windscale-Reaktoren sollte Material für Kernwaffen produziert werden. Die Uran- und die Plutoniumbombe, die von den USA 1945 über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden und hunderttausenden Menschen das Leben gekostet haben, müssen aus Sicht der mit dem Zerstörungshandwerk betrauten Militärs eine Offenbarung gewesen sein. Großbritannien hat zwar bislang keine Kernwaffe in einem kriegerischen Akt gezündet - und doch sind dem Streben nach der Bombe bereits mehrere hundert Menschen zum Opfer gefallen.

9. Oktober 2007