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ATOM/435: Tschernobyl-Schutzhülle angerollt (SB)


Tschernobyl unter dem (Koch-)Deckel

Der zermürbte Sarkophag um das zerstörte Reaktorgebäude und die geschmolzenen Brennstäbe soll einen neuen Schutzmantel erhalten


Ein "unkontrollierter Leistungsanstieg" in einem der vier Blöcke des Kernkraftwerks Tschernobyl bei der Stadt Prypjat am 26. April 1986 hat die bisher schwerste Katastrophe in der Geschichte der zivilen Atomenergienutzung ausgelöst. Was bei der militärischen Nutzung der Kernspaltung erwünscht ist - größtmögliche Zerstörung dank plötzlichen "Leistungsanstiegs" -, soll bei der zivilen Variante tunlichst vermieden werden. Das gelingt jedoch nicht immer. Hatten die Lobbyisten der Atomenergie ursprünglich behauptet, daß statistisch nur einmal in einer Million Jahren mit einem größten anzunehmenden Unfall (GAU), wie er sich im Akw Tschernobyl ereignete, zu rechnen sei, so kommt man inzwischen auf eine Wahrscheinlichkeit von 25 Jahren. Eine krasse, überaus folgenschwere, für die Anhänger der Atomenergie jedoch äußerst nützliche Fehleinschätzung. Ansonsten wären die Gesellschaften möglicherweise nie der Idee gefolgt, auf diese Weise Energie zu produzieren, also mittels der Atomspaltung Dinge in Bewegung setzen zu wollen.


Foto: MaikD77, freigegeben als CC-BY-SA-4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Rechts im Bild der neue Schutzmantel, im Hintergrund links der Sarkophag. Akw Tschernobyl, 21. Oktober 2016.
Foto: MaikD77, freigegeben als CC-BY-SA-4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en] via Wikimedia Commons

Zu welchen Fehleinschätzungen die sogenannten Experten der Nukleartechnologie sonst noch gelangt sind, erfährt man in der Regel erst, wenn die Folgen eingetreten sind. Wenn nun am heutigen Donnerstag die auf Kunststoffschienen errichtete neue Schutzhülle für den zerstörten Block 4 des Akw Tschernobyl gestartet ist, um sich bis etwa Ende des Monats über den alten Betonsarkophag zu schieben, können damit durchaus vollkommen neue Probleme geschaffen worden sein, deren Konsequenzen man ebenfalls nicht abgesehen hat.

Der neue, 110 Meter hohe Schutzmantel hat das Aussehen eines bogenförmigen Flugzeughangars. Im Innern unter der Decke der 25.000 Tonnen schweren Konstruktion befinden sich Kräne, mit deren Hilfe die Brennstäbe aus dem explodierten Kraftwerksblock herausgeholt und der Reaktor samt Sarkophag zurückgebaut werden sollen. Irgendwann. Das müßte innerhalb der nächsten 100 Jahre geschehen, denn auf diese Frist ist die Lebensdauer der neuen Hülle bemessen. Den Zeitgewinn hat man sich mit 2,1 Milliarden Euro erkauft. Weil nicht damit gerechnet werden kann, bis zur voraussichtlichen Zerrüttung auch dieser Schutzhülle im Jahre 2116 die noch immer dort lagernden rund 200 Tonnen hochradioaktiven Spaltmaterials zu bergen, dürften die Kinder und Kindeskinder der heutigen Generation ihrerseits einen noch viel größeren Schutzmantel um die neue Konstruktion bauen müssen ...

Im Deutschlandfunk wird der leitende Ingenieur des Stahlmantelprojekts, Wolodymyr Kaschtanow, mit den Worten zitiert: "Die Konstruktion entspricht höchsten Anforderungen. Sie hält einem Erdbeben der Stärke sechs stand und einem Tornado der Stufe drei. In der Ukraine wurde bisher kein Objekt nach so strengen Richtlinien gebaut." [1]

Wie gesagt, die Geschichte der Atomenergie ist eine Geschichte der Fehleinschätzungen, und so stellt sich beispielsweise die Frage, ob denn die neue Schutzhülle auch für den Fall eines Zusammentreffens sowohl eines starken Tornados als auch eines starken Erdbebens hält. Oder werden später einmal, wenn die Konstruktion kollabiert ist, Ingenieure beteuern, daß niemand mit einem Zusammentreffen zweier Extremereignisse rechnen konnte?

Dem neuen Sarkophag drohen noch andere Gefahren. Beispielsweise wird die Region regelmäßig von Waldbränden heimgesucht. Das Akw selbst blieb davon bislang verschont, jedoch nicht die verstrahlten Gebiete in der Umgebung. So ist davon auszugehen, daß sich einige Radionuklide des radioaktiven Fallouts von vor dreißig Jahren erneut auf den Weg gemacht haben. Doch wie feuersicher wäre das Akw im Ernstfall? Und wie sicher ist die neue Schutzhülle gegenüber Flugzeugabstürzen?


Blick von einem Hausdach in Pripyat über Plattenbäume mit hohen Bäumen dazwischen auf den Reaktor von Tschernobyl am Stadtrand - Foto: Jason Minshull, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

Prypjat, 2005 oder früher: Die Treibhausgasemissionen, die in den Aufbau der 1986 aufgegebenen, 50.000 Einwohner zählenden Stadt gesteckt wurden, tauchen in den Klimabilanzen der Atomlobby nicht auf.
Foto: Jason Minshull, freigegeben als public domain via Wikimedia Commons

In der Ostukraine wird gekämpft, teils unter Einsatz von Artillerie. Was wäre in dem unwahrscheinlichen Fall, daß sich die Fronten nach Nordwesten in Richtung Tschernobyl verlagerten und die Konstruktion von einer Granate getroffen wird - würde sie halten? Das Problem ist dann vielleicht nicht so sehr der Granatenbeschuß selbst, sondern ein möglicher Kollaps des Stahlmantels. Was passiert, wenn auch nur Teile davon auf den brüchigen Betonsarg fallen und dieser wiederum die Nuklearbrennstäbe unter sich begräbt? Besteht dann die Gefahr eines Brandes oder gar einer erneuten Explosion?

Es könnte sich als verhängnisvoll erweisen, den maroden Betonsarg mit einem Stahlmantel zu versehen, ebenso wie es sich als verhängnisvoll erweisen könnte, das nicht zu tun. Eine Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gibt. Wohl aber könnte man daraus lernen und für die Zukunft die Finger von der Atomspaltung lassen. Aber selbst die Ukraine strebt den Bau neuer Atomkraftwerke an, und die Europäische Union scheint bereit zu sein, sie dabei zu unterstützen. [2] In anderen Ländern werden sowieso neue Akws gebaut, zumal die Mär ihrer Klimafreundlichkeit offenbar nicht aus der Welt zu schaffen ist. Und den Brennstoff für die Akws liefert in einem nicht unerheblichen Umfang das "Atomausstiegsland" Deutschland.

Die Ukraine hat den "Helden" von damals, den sogenannten Liquidatoren, die das nukleare Feuer zu löschen versucht und unter Einsatz ihres Lebens, ihrer Gesundheit und der ihrer Kinder schließlich eine notdürftige Betonhülle um den Reaktor 4 gebaut haben, Orden verliehen, Denkmäler errichtet und eine Sonderrente zugestanden. Die hat allerdings in vielen Fällen nicht gereicht, um auch nur die notwendigen Medikamente zu bezahlen. Das berichtete die am 27. April 1986 aus Prypjat evakuierte Tatjana Semenchuk gegenüber dem Schattenblick. [3] Nun wurde den "Helden" von einst die Sonderrente gestrichen. Ob auch ihre Medaillen als "Liquidatoren von Tschernobyl" wieder einkassiert werden, ist nicht bekannt ...


Skulptur mit vier behelmten Feuerwehrmännern, die gemeinsam zwei Feuerwehrschläuche an den Einsatzort, den Rest eines zerstörten Gebäudes, bringen - Foto: stahlmandesign, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

Tschernobyl-Monument zu Ehren der Feuerwehrmänner, 10. April 2006 Foto: stahlmandesign, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/30-jahre-nach-atomkatastrophe-tschernobyl-wird-eingesargt.697.de.html?dram:article_id=370317

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-akw-101.html

[3] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html


3. November 2016


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