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ATOM/436: Tschernobyl gedeckelt - darunter kocht es weiter ... (SB)


Atomathematik: 1 + 1 = 0,5

30 Jahre lang hat Europa mit der Zeitbombe Tschernobyl gelebt, und noch immer ist die Strahlengefahr nicht gebannt


Über den explodierten Meiler 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine wurde diese Woche erfolgreich eine Art überdimensionaler Flugzeughangar gerollt. Die Konstruktion aus 36.000 Tonnen Beton soll verhindern, daß im Falle eines Falles, das heißt, wenn der marode Sarkophag, der in den Monaten nach Beginn der Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 in aller Eile um das völlig zerstörte Reaktorgebäude gelegt wurde, zusammenfällt, keine radioaktiven Staubwolken aufsteigen und abermals die unmittelbar um den Akw-Standort herum, aber auch weiter entfernt liegenden Regionen innerhalb und außerhalb der Ukraine kontaminieren.

Mehr als eine Milliarde Euro an Steuergeldern sind in den Bau des neuen Deckels geflossen. Der hält den Berechnungen zufolge lediglich 100 Jahre. Danach hat man 36.000 Tonnen radioaktiven Beton, der weder im Straßenbau eingesetzt (Fukushima-Variante), noch freigemessen werden kann (Deutschlands Variante), sondern für den ein Endlager gebaut werden muß. Aber das kümmert die hiesige Generation nicht, die von der Atomtechnologie in ihrer zivilen oder militärischen Variante profitiert und diese darum propagiert. Sie schiebt das Problem ihren Enkeln zu. Statistisch gesehen werden diese innerhalb eines Jahrhundert noch vier bis fünf weitere Reaktoren, in denen sich Kernschmelzen ereignet haben, bewältigen müssen.

Den Zieleinlauf der auf Schienen errichteten Schutzhülle des Akw Tschernobyl als großartigen Erfolg zu feiern, ist so, als würde man den Phoenix aus der Asche bejubeln, nur weil er gegenüber seiner völlig zerstörten Umgebung, die für seine Geburt verbrannt werden mußte, groß und prächtig wirkt.

Weder nach dem Tschernobyl-GAU noch nach der dreifachen Kernschmelze von Fukushima am 11. März 2011 sind die politischen Entscheidungsträger zu der Einsicht gelangt, daß die Energieproduktion mittels nuklearer Zeitbomben vielleicht nicht die beste Idee war, die der Mensch entwickelt hat.

Wobei die Atomtechnologie unter dem Damoklesschwert der globalen Erwärmung sogar eine Renaissance erleben könnte. Der Atomlobby ist es gelungen, eine verkürzte Rechnung aufzumachen, die da lautet: 1 + 1 = 0,5. Weil aus den Kühltürmen der Meiler "nur" Wasserdampf entweicht, nicht aber CO2 wie aus Kraftwerken, in denen fossile Energieträger verstromt werden, hält sich hartnäckig das Gerücht, Atomkraftwerke seien "klimafreundlich".

Noch immer hat sich nicht die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Urangewinnung und -anreicherung, der Bau und Betrieb der Atomkraftwerke, der Rückbau und die Endlagerung der radioaktiven Substanzen und nicht zuletzt die Schadenseingrenzung wie nach Tschernobyl und Fukushima gewaltige energetische Aufwände erfordern, die weit, weit über die eigentliche Betriebsdauer der Anlagen hinaus erforderlich sind und Atomkraftwerke eigentlich von vornherein ins klimapolitische Aus katapultieren müßten. Das Erbe der "erfolgreichen", wenngleich befristeten Eindämmung des zerstörten Tschernobyl-Reaktors besteht nunmehr nicht allein in einem komplett zerstörten überdimensionalen Kessel, sondern auch einen entsprechend großen Deckel, der in hundert Jahren eine gefährliche Altlast darstellt.

30. November 2016


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