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KLIMA/607: Kipp-Punkte nicht auf Klimasysteme beschränkt? (SB)


Der Flügelschlag des kosmischen "Federgeistchens"


Sollte es so etwas wie einen Kipp-Punkt bei der Ausdehnung des arktischen Meereises geben, dann sähe sein Effekt wahrscheinlich so aus wie in diesem Winter. Seit Mitte Oktober 2016 wird die bis dahin kleinste Fläche des auf dem Nordpolarmeer und angrenzenden Meeresgebieten schwimmenden Eises aus dem Jahreswechsel 2012/13 deutlich unterschritten, und jenes Jahr lag seinerseits deutlich unter dem Durchschnitt der Jahre 1981 bis 2010. Das geht aus den regelmäßig veröffentlichten Daten des National Snow and Ice Data Center der USA hervor. [1]

Unter einem Kipp-Punkt wird das Überschreiten eines Schwellenwerts in einem Natursystem verstanden, ab dem sich dieses so lange verändert, bis ein gänzlich neuer Zustand erreicht ist, der sich sehr deutlich vom Ausgangswert unterscheidet. Veranschaulichen (und unter Umständen persönlich leidvoll erfahren ...) läßt sich so ein Vorgang besonders gut im Winter auf dem Eis: Rutscht man nur ein klein wenig aus, kann man sich vielleicht noch rechtzeitig auffangen. Aber manchmal auch nicht. Ab einem bestimmten Kipp-Punkt reißt es einem die Füße weg. Man kann machen, was man will, der Sturz kommt unabwendbar.

Erst wenn man aufs Eis kracht, endet der dynamische Vorgang: Ein gänzlich neuer Zustand ist erreicht, nämlich ein liegender - nicht selten begleitet von einer schmerzhaften Erfahrung, angefangen von Prellungen bis hin zu Brüchen. Auch wenn man weiß oder zumindest ahnt, daß ein solcher grundstürzender Kipp-Punkt existiert, vermag man erst im Nachvollzug zu sagen, daß es sich offenbar um einen solchen gehandelt hat.

Für das Überschreiten des Kipp-Punkts "Meereis" gilt das gleiche. Je mehr die weiße, das Sonnenlicht gut reflektierende Eisfläche schrumpft, desto mehr absorbiert umgekehrt das relativ dunkle Meerwasser die Wärme. Irgendwann hat das Nordpolarmeer so viel Wärme aufgenommen, daß die sich im Winter bildende Eisfläche nie wieder die gleiche Größe erreicht wie im Winter des Vorjahres. Bei einem Kipp-Punkt würde sich dieser Trend von Jahr zu Jahr fortsetzen, bis das gesamte Meereis geschmolzen ist.

Aus Satellitenmessungen, die seit einigen Jahrzehnten regelmäßig von der Arktis durchgeführt wurden, geht hervor, daß die Meereisfläche einen sehr klaren Schrumpfungstrend aufweist. Doch so wenig Eis wie in diesem Winter gab es in keinem der Winter in den letzten Jahrzehnten. Da auch das Meereis rund um die Antarktis, wo zur Zeit Sommer herrscht, in diesem Jahr eine relativ geringe Ausdehnung aufweist, spricht die Wissenschaft bereits davon, daß die globale Meereisfläche wohl seit Jahrtausenden nicht mehr so klein war wie heute. [2]

Sollte das arktische Meereis einen Kipp-Punkt enthalten, so sähe er vermutlich genau so aus wie die gegenwärtige Entwicklung im Hohen Norden. Wobei die Erwärmung der Arktis einerseits eine Folge globaler Klimaveränderungen sein dürfte als auch ihr Grund.

Wäre das Unterfangen, einen Kipp-Punkt im voraus exakt bestimmen zu wollen, das heißt, ihn prognostizierbar zu machen, schon zum Scheitern verurteilt, so dürfte dies um so mehr für die gegenseitige Beeinflussung von mehreren Kipp-Punkten gelten. Wird beispielsweise die Arktis wärmer, schmilzt auch der Eispanzer Grönlands. Auch dort nimmt dann die weiße Reflektionsfläche ab und wird entweder von nacktem Felsgestein abgelöst, das die Wärme besonders gut aufnimmt, oder von dunkleren Flächen geschmolzenen Eises auf der Oberfläche.

Da als vorläufige Spitze eines anhaltenden Wärmetrends die Jahre 2014, 2015 und 2016 jeweils die wärmsten Jahre seit Beginn der regelmäßigen meteorologischen Aufzeichnungen waren [3], nährt dies die Annahme, daß sich das verstärkend auch auf eine Reihe anderer Kipp-Punkte auswirkt: Ausbreitung der Wüsten aufgrund der zunehmenden Hitze, Korallensterben als Folge der Versauerung der Meere, Artenschwund als Ergebnis der Verschiebung von Klimazonen, Erosionsbeschleunigung in den gletscher- und permafrostbefreiten Hochgebirgen sind nur einige von zahlreichen Beispielen, bei denen sich die sogenannten Natursysteme gegenseitig beeinflussen können.

Wie aber verhält es sich mit Kipp-Punkten, die sozusagen über die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen hinausgehen? Ist es ausgeschlossen, daß die Phase besonders starker Erdbeben, die seit ungefähr 15 Jahren registriert werden, eine Art seismischen Kipp-Punkt markiert, der wiederum mit klimatischen Veränderungen korrespondiert? So wurden sechs der 17 stärksten Erdbeben, die zwischen 1900 und 2014 auftraten, in dem relativ kurzen Zeitraum ab dem Jahr 2000 aufgezeichnet. [4]

Bedenkt man, daß Erdbeben einander über den halben Erdball hinweg beeinflussen und daß kleinere Erdbeben Auslöser von Megabeben sein können, wäre zu fragen, ob nicht die globale Erwärmung die aktuelle Häufung seismischer Extremereignisse mitverursacht hat. Das ist weniger abwegig, als man vermuten könnte. Zum Beispiel hat der Massenverlust des grönländischen Eises von jährlich 34 Milliarden Tonnen in den 1990er Jahren auf jährlich rund 215 Milliarden Tonnen zwischen 2002 und 2011 zugenommen. [5]

Im gleichen Zeitraum hat sich die Erdbebenhäufigkeit in Grönland verdoppelt. [6] Die nach und nach vom Gewicht des Eispanzers an dieser Stelle entlastete Erdkruste hebt sich, vergleichbar mit Skandinavien, das sich ebenfalls seit dem Ende der Eiszeit hebt. Andere Gebiete der Erde sinken ab. Durch beide Bewegungsrichtungen können Erdbeben ausgelöst werden. Schlägt sich also die Entlastung der Landmassen vom Eis tektonisch nieder und existieren hier Grenzwerte, ab denen vermehrt Erdbeben und Vulkanismus ausgelöst werden?

Unter einer ähnlichen Fragestellung könnte man auch kosmische Phänomene und ihren potentiellen Einfluß auf Kipp-Punkte in den Erdsystemen untersuchen. Dabei wäre nicht nur an einen Asteroideneinschlag zu denken, wie er der verbreiteten Vorstellung zufolge vor 65 Millionen Jahren zum Aussterben der Dinosaurier beigetragen hat, sondern beispielsweise auch an Veränderungen der kosmischen Strahlung. Um an dieser Stelle einem naheliegenden Mißverständnis vorzugreifen: Hier geht es nicht darum, den menschengemachten Anteil an der globalen Erwärmung in Zweifel zu ziehen. Die CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger seit Beginn des Industriezeitalters korrelieren allzu eng mit der globalen Erwärmung.

Doch wenn kosmische Strahlung die Bildung von Aerosol-Partikeln beeinflußt [7] und sie auch im Verdacht steht, Blitze auszulösen [8], zumindest theoretisch Gammastrahlenausbrüche das Leben auf der Erde auslöschen könnten, wenn sie sich nur nahe genug ereignen (innerhalb von 3000 Lichtjahren Entfernung) [9], dann würde aus wissenschaftlicher Sicht die hier nur angedeutete Vermutung, daß in den Natursystemen weitaus mehr und anders geartete Kipp-Punkte existieren, als haltlose Spekulation bezeichnet. Das macht jedoch nichts, hat doch die Wissenschaft mehr als einmal demonstriert, daß sie den Ereignissen hinterherläuft.

Laut einer astrobiologischen Vorstellung ist das Leben auf der Erde einzigartig. Verschiedene kosmische Bedingungen sind genau so gefaßt, daß irdisches Leben überhaupt entstehen konnte. Liegt somit die Vermutung nicht nahe, daß dieses zunichte gemacht werden könnte, sobald ein klein wenig an einer der "Stellschrauben" gedreht wird? Eine allererste Konsequenz aus dieser Frage könnte darin bestehen, die Warnungen der Klimaforschung in Richtung Politik und Gesellschaft ernst zu nehmen, daß ein Überschreiten von Kipp-Punkten unbedingt vermieden und die klimarelevanten Emissionen deutlich verringert werden sollten. Nicht schaden kann dabei sicherlich, die eigenen Denkvoraussetzungen und wissenschaftlichen Modelle mehr als bisher zu hinterfragen.


Fußnoten:

[1] http://nsidc.org/arcticseaicenews/

[2] https://www.newscientist.com/article/2118093-global-sea-ice-is-at-lowest-level-ever-recorded/

[3] https://www.piqd.de/klimawandel/temperatur-rekord-jetzt-offiziell-2016-war-1-1-grad-warmer-als-vor-kapitalismusbeginn

[4] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/151030/umfrage/staerkste-erdbeben-weltweit-seit-1900/

[5] http://www.oekosystem-erde.de/html/klimawandel-02.html

[6] http://www.3sat.de/page/?source=/nano/news/64723/index.html

[7] https://www.klimafakten.de/behauptungen/behauptung-kosmische-strahlung-verursacht-den-klimawandel

[8] http://www.spektrum.de/news/gewitter-verstehen-mit-weltraumwellen/1343494

[9] http://www.wissenschaft.de/archiv/-/journal_content/56/12054/1026953/Nochmal-davongekommen:-Kosmische-Gammastrahlen-keine-Gefahr-f%C3%BCr-Leben-auf-der-Erde/

20. Januar 2017


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