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KLIMA/619: Blue Planet Prize an Hans Joachim Schellnhuber (SB)


Zwei-Grad-Grenze, Erdsystemanalyse und Kippelemente

Weitreichende Einflußnahme des PIK-Direktors auf die
internationale Klimapolitik


Einen Nobelpreis für Umwelt gibt es nicht, aber es gibt Preise, die in der Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung ein ähnlich hohes Ansehen genießen. Beispielsweise der Blue Planet Prize, der seit dem Erdgipfel 1992 in Rio jedes Jahr von der Asahi Glass Foundation an zwei herausragende Persönlichkeiten vergeben wird, deren Forschungen wichtige Impulse zur Lösung globaler Umweltprobleme geliefert haben. Der in diesem Jahr zum 26. Mal vergebene Preis geht an den Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Hans Joachim Schellnhuber, und an die Ökosystemforscherin Gretchen Daily von der Universität Stanford, USA. Das teilte die Asahi Glass Foundation am 14. Juni mit. [1] Schellnhuber erhalte den Preis in Höhe von 50 Millionen Yen "für seinen wegweisenden Beitrag zur Etablierung der Zwei-Grad-Grenze der globalen Erwärmung", berichtete das PIK. [2]

Beim Klimagipfel von Paris im Dezember 2015 haben mehr als 90 Staaten zugestimmt, die globale Erwärmung um nicht mehr als zwei Grad, möglichst sogar um nicht mehr als 1,5 Grad steigen zu lassen. Wie er einst diese Grenze entwickelt hat und warum, schildert Schellnhuber in seinem 2015 erschienenen Buch "Selbstverbrennung: Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff". [3]

Demnach hatte er nach einer griffigen Größe gesucht, die das Problem der globalen Erwärmung für Politik und Öffentlichkeit nachvollziehbar macht. Die Zwei-Grad-Grenze bedeutet, daß die global ermittelte Durchschnittstemperatur nicht um mehr als zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit steigt. Schellnhuber hält es nicht für ideal, wenn diese Grenze erreicht, aber nicht überschritten wird, denn auch dann werden noch immer einige Regionen der Erde die Auswirkungen dieser Entwicklung empfindlich zu spüren bekommen. Das heißt, es werden vermehrt Extremwetterereignisse auftreten und der Meeresspiegel wird steigen, so daß nur wenige Dezimeter über dem Meeresspiegel liegende Inseln und Küstenstreifen überflutet werden. Es kommt zur Salzwasserintrusion in Grundwasserschichten, aus denen Menschen ihr Trinkwasser beziehen, und ähnliche, teils katastrophale Entwicklungen mehr.

Die Zwei-Grad-Grenze ist ein Kompromiß. Als sie von Schellnhuber und anderen Klimaforscherinnen und -forschern in die öffentliche Debatte getragen wurde, lag die Welt noch nicht so nah an diesem Wert, daß die Menschen in Verzweiflung gestürzt wären, aber auch nicht so fern, daß es sich die Politik hätte leisten können, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun.

Schellnhuber habe ebenfalls dazu beigetragen, mit der "Erdsystemanalyse" ein neues Forschungsfeld zu etablieren, bei dem mathematische Modelle genutzt werden, um interdisziplinäre Quellen zu integrieren und einen weltumspannenden Blickwinkel zu erzeugen, schreibt die Asahi Glass Foundation. Abgesehen davon hat der Gründer und langjährige Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung das Konzept der Kippelemente maßgeblich mitentwickelt. Dieses besagt, daß sich innerhalb der Erdsysteme Grenzen befinden, bei deren Überschreiten sich selbst verstärkende Prozesse in Gang gesetzt werden, die nicht mehr zu stoppen sind und so lange weiterlaufen, bis ein neues, sehr viel anderes Niveau erreicht ist.

Hierfür ist der Eispanzer von Grönland ein Beispiel. In Folge der globalen Erwärmung schmilzt das Eis im Sommer schneller, die Gletscher gleiten rascher ins Meer, und die Eisoberfläche gerät zunehmend von höheren, kalten in niedrigere, wärmere Luftschichten. Das beschleunigt den Eisverlust. Das PIK rechnet damit, daß der grönländische Eisschild langfristig bereits dann nahezu vollständig abschmelzen wird, wenn die Zwei-Grad-Grenze knapp erreicht wird. "Der völlige Kollaps des Grönländischen Eisschildes würde über Jahrhunderte bis Jahrtausende einen Meeresspiegelanstieg von 7 Metern verursachen", heißt es. [4]


Weltkarte mit weit über einem Dutzend Kippelementen wie 'Arktisches Meereis', 'Grönländischer Eisschild', 'Tropische Korallenriffe', etc. - Schaubild: PIK, 2017. CC-BY-ND 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/de/]

Kippelemente im Erdsystem Schaubild: PIK, 2017. CC-BY-ND 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/de/]

Im "System Erde" verbergen sich viele solcher Kippelemente von globaler Bedeutung. Um so mehr muß es wundern, daß manche Klimaforscher - sogar in Schellnhubers Institut - sich auf die Idee der negativen Emissionen eingelassen haben und dabei in Kauf nehmen, daß die Zwei-Grad-Grenze überschritten werden kann, wenn nur mittels dem gezielten Entziehen von CO2 aus der Atmosphäre bis Ende des Jahrhunderts diese Grenze wieder erreicht wird, sozusagen im Rückwärtsgang.

Als Prof. Schellnhuber im vergangenen Jahr auf der Leipziger Buchmesse vom Schattenblick gefragt wurde, wie er zu dem Konzept der negativen Emissionen stehe angesichts der Gefahr, daß dadurch Kippelemente überschritten werden, antwortete er:

"Ich halte das aus zwei Gründen für eine hochriskante Strategie. Erstens, rein physikalisch betrachtet, könnten viele Prozesse irreversibel sein; man kann sie dann nicht mehr zurückdrehen. Wir haben in einer Forschungsarbeit, an der ich beteiligt war, gezeigt, daß man sogar die Ozeanversauerung, die ein Nebenprodukt der Erderwärmung ist, möglicherweise über Jahrtausende nicht mehr umkehren kann, selbst wenn wir den überschüssigen Kohlenstoff aus der Atmosphäre entfernen würden. Der zweite Grund ist vielleicht sogar noch gewichtiger: Damit hat man eine wunderbare Ausrede geschaffen, nichts zu tun und weiterzumachen wie bisher, in dem Vertrauen darauf, daß wir später sozusagen eine End-of-the-pipe-, in diesem Fall eine gigantische Gegenmaßnahme in Gang setzen." [5]

Die Idee, mittels negativer Emissionen doch noch die Klimaziele zu erreichen, fand bereits im 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) aus dem Jahr 2014 Eingang und gewinnt seitdem mehr und mehr Zuspruch. Vielleicht auch deswegen, weil in den letzten drei Jahren die CO2-Emissionen deutlich gestiegen, die Eisschmelzen sowohl in der Arktis als auch der Westantarktis vorangeschritten und sogar die bis dahin als stabil gegoltenen ostantarktischen Gletscher in Bewegung geraten sind.

Womöglich geht die Idee der negativen Emissionen als hoffnungsträchtige "Lösung" des Klimawandels auf einen sich in der Forschung breitmachenden "Realismus" zurück, wonach eine Minderung von CO2-Emissionen, um unterhalb der Zwei-Grad-Grenze zu bleiben, sowieso nicht mehr zu schaffen ist. Doch jetzt, da sich die US-Regierung nicht einmal an das unverbindliche Klimaabkommen von Paris halten will, könnte dieser "Realismus" zur Akzeptanz von noch weitreichenderen Maßnahmen der Klimabeeinflussung mit technologischen Mitteln, des sogenannten Geoengineerings bzw. Climate Engineering, beitragen. Der diesjährige Gewinner des Blue Planet Prize jedenfalls hat "den ganzen Geoengineering-Diskurs immer als extrem gefährlich angesehen" und prognostiziert, daß sich "das Schicksal unserer Hochzivilisation (...) in den nächsten hundert Jahren entscheiden" wird.

Schellnhuber zieht den Begriff "Transformation" dem der "Revolution" vor. An dieser Stelle ist jedoch zu fragen, ob die Geschwindigkeit einer transformativen Wandlung der gesellschaftlichen Realität genügt? Seine Erwartung dürfte nicht nur deshalb unerfüllt bleiben, weil sich innerhalb des zurückliegenden Jahres die Schere zwischen dem, was laut der in der Klimaforschung verbreiteten Einschätzung zum Klimaschutz erforderlich ist, und dem, was dafür getan wird, weiter geöffnet hat. Der Direktor des PIK läßt auch die Interessen der vorherrschenden Kräfte der Gesellschaft außer Acht, wenn er meint, ihnen mit einer "Transformation" Klauen und Zähne ziehen zu können.

In Abwandlung des obigen Zitats bleibt somit abschließend festzustellen: Für viele Menschen, genauer gesagt, "gegen" sie, hat sich das vermeintliche "Schicksal" jener "Hochzivilisation" schon jetzt entschieden. Die wohlhabenden Nationen sind nicht bereit, mehr als nur einen Tropfen auf den heißen Stein aufzubringen, um die von Dürre heimgesuchten Menschen in der Sahelzone und anderen Weltregionen in ihrem Existenzkampf zu unterstützen.


Ausgebleichte Knochen eines Tierskeletts im sandigen, vollkommen vegetationsfreien Wüstenboden - Foto: P.R. Binter, public domain

Durch die globale Erwärmung werden gänzlich neue, lebensunwirtliche Klimazonen entstehen.
Hurghada, Ägypten, 26. Dezember 2006
Foto: P.R. Binter, public domain


Fußnoten:

[1] http://www.af-info.or.jp/blog/b-info_en/announcing-the-winners-for-2017-blue-planet-prize.html

[2] https://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/weltweit-wichtigster-umweltpreis-fuer-potsdamer-klimaforscher-schellnhuber

[3] Eine Schattenblick-Rezension des Buchs "Selbstverbrennung" von H. J. Schellnhuber finden Sie hier:
http://schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar653.html

[4] https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente/kippelemente

[5] http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0050.html


14. Juni 2017


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