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KLIMA/654: CO2 - unerwartete Geschwindigkeiten ... (SB)



New York, London, Jakarta, Tokio, Mumbai, New Orleans ... diese und viele weitere Metropolen liegen am Meer und würden mindestens teilweise überspült, sollte der Meeresspiegel um mehrere Meter steigen. Und das wird er, denn die Erde wird in Zukunft noch weniger Wärme in den Weltraum zurückstrahlen als in der Vergangenheit.

Der Planet heizt sich auf, das hat unter anderem eine Wärmeausdehnung der Meere zur Folge. Zeitgleich damit wird auch die Gletscherschmelze verstärkt, wodurch das zuvor landgebundene Wasser - also Schnee und Eis auf der Antarktis und Grönland, in den Hochgebirgen und allgemein den polaren Breiten - ins Meer fließt und dessen Volumen erhöht. Beide Faktoren tragen zur Zeit etwa gleich stark zum Meeresspiegelanstieg von drei Millimetern pro Jahr bei. Da der Trend zunimmt, wird bis Ende dieses Jahrhunderts das Meer einen halben bis einen Meter höher steigen als heute. Das ist noch moderat gerechnet.

Das Jahr 2100 wird in der Klimaforschung gern als Eckpunkt gewählt, um besser rechnen zu können, weil dann die sowieso schon riesige Datenmenge noch handhabbar ist. Außerdem lassen sich die wissenschaftlichen Resultate besser der Gesellschaft, respektive der Politik, vermitteln.

Eine internationale Gruppe aus mehreren Dutzend Forscherinnen und Forschern hat einen anderen Weg eingeschlagen und über dieses Jahrhundert hinausgeblickt. Sie berichtete kürzlich im Wissenschaftsjournal "Nature Geoscience" [1], daß der Meeresspiegel weltweit um sechs Meter anschwellen könnte, selbst wenn das im Klimaschutzabkommen von Paris festgelegte Ziel eingehalten und die globale Erwärmung um nicht mehr als zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen würde.

Das würde nicht in diesem Jahrhundert, sondern in den nächsten Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden geschehen, aber nach Ansicht der Forschergruppe wird der Effekt unvermeidlich eintreten. Hergeleitet wird diese Annahme vor allem aus drei wärmeren Phasen der Erdgeschichte, in denen die Temperaturen über denen der vorindustriellen Zeit lagen. "Obwohl solche Warmzeiten anders zustandekamen als beim zukünftigen anthropogenen Wandel, können solche Phasen Einblicke in mögliche zukünftige Klimafolgen und Ökosystem-Feedbacks liefern", heißt es.

Von der bloßen Menge an anthropogenen Treibhausgasemissionen, bei denen das Zwei-Grad-Ziel noch nicht überschritten wird, erwartet die Forschergruppe kein davongaloppierendes Klima. Jedoch hat in der Vergangenheit eine globale Erwärmung um ein bis zwei Grad in Kombination mit einer starken "polaren Verstärkung" die Klimazonen und die räumliche Verteilung von Land- und Meeresökosystemen verschoben. Die Folge: Grönland und Antarktis verzeichneten signifikante Eismassenverluste.

Mit "polarer Verstärkung" ist der Rückkopplungseffekt gemeint, wonach im Nordpolarmeer die eisfreien, dunklen Meeresflächen tendenziell Sonnenlicht absorbieren, während die weißen Eisflächen das Licht reflektieren. Die arktische Meereisfläche ist in den letzten rund dreißig Jahren um die Hälfte geschrumpft - dementsprechend wurde vom Meer mehr Wärme aufgenommen, was wiederum die Eisschmelze beschleunigt hat.

Bei der aktuellen Studie wurde die erdgeschichtliche Zeit des Atlantikums (engl.: Holocene thermal maximum - HTM) vor 5.000 bis 9.000 Jahren, das letzte sogenannte Interglazial vor 116.000 bis 129.000 Jahren und das mittlere Pliozän vor drei bis 3,3 Millionen Jahren zum Vergleich herangezogen. Die Wissenschaft geht davon aus, daß die ersten beiden Perioden durch Verschiebungen des Erdorbits ausgelöst wurden, die Erwärmungsphase im mittleren Pliozän dagegen wird auf einen höheren CO2-Gehalt der Erdatmosphäre zurückgeführt, wie er auch heute registriert wird. In allen drei Fällen hat sich die Erde sehr viel langsamer erwärmt, als wir es heute als Folge menschengemachter Treibhausgasemissionen, die vor allem bei der Verbrennung fossiler Energieträger Erdöl, Erdgas und Kohle entstehen, erleben.

Die Beobachtungen früherer Erwärmungsperioden lassen vermuten, daß einige Verstärkungsmechanismen existieren, die nur unzureichend in die Klimamodelle Eingang gefunden haben, und mit einem langfristigen Erwärmungstrend einhergehen, sagte einer der Leitautoren, Prof. Hubertus Fischer von der Universität Bern, laut dem "Guardian" [2]. Das wiederum lasse vermuten, daß die Menge an CO2, das noch emittiert werden darf, ohne daß das Zwei-Grad-Ziel übertroffen wird, sehr viel kleiner ist als vermutet. Daher bleibe nur eine sehr kurze Spanne für Irrtümer, um die Vereinbarungen von Paris einzuhalten, so Fischer.

Obwohl die Arktis zu den Weltregionen zählt, die bislang die stärkste Erwärmung verzeichnen und dies auch in den entsprechenden Klimasimulationen berücksichtigt wird, behauptet die Forschergruppe nun, daß der Temperaturanstieg in der Arktis wahrscheinlich zwei- bis dreimal so schnell stattfinden wird wie angenommen. Selbst wenn die CO2-Emissionen zurückgefahren werden, würde der Erwärmungstrend noch Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende anhalten, angetrieben durch die Eisverluste in der Arktis und langfristige Rückkopplungsmechanismen. Abschließend heißt es in der Studie:

"Angesichts der existierenden Unsicherheit unterstreicht unsere Untersuchung (...) die Wichtigkeit, daß die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Erwärmung (...) begrenzt werden, damit Folgen wie der Ausfall von Ernährungs- und Ökosystemen, Eisverluste und Überflutung weiträumiger Küstengebiete, in denen ein Großteil der Weltbevölkerung und Infrastruktur angesiedelt ist, verringert werden."

Die aktuellen Hitzerekorde, die aus Nordsibirien gemeldet werden, haben keine Beweiskraft für die Behauptung der Forschergruppe, daß sich die Polarregion erheblich stärker erwärmt als vermutet. Zumal in den zurückliegenden Jahren aus Sibirien sogar eine Rekordkälte gemeldet wurde. Eher schon unterstreichen solche rekordverdächtigen Extremwetter am Band, daß das Klima allmählich aus den Fugen zu geraten scheint, was in diesem Fall beinahe wörtlich zu verstehen ist. Jedenfalls schwingt der Jetstream, jene kräftige Windströmung, die sich in acht bis zwölf Kilometer Höhe um den Erdball windet, in den letzten Jahren kräftiger aus, seine Mäander werden größer. Das kann zur Folge haben, daß beispielsweise warme Luft in Richtung Nordpol und umgekehrt kalte Luft nach Europa verfrachtet wird und dabei die Wetterlage tagelang stabil bleibt. Darüber berichteten im vergangenen Jahr die Klimaforscher Michael Mann (Penn State University), Stefan Rahmstorf (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung) und Kollegen im Wissenschaftsjournal "Scientific Reports" [3].

In Anbetracht der doch eher zögerlichen Haltung vieler Regierungen, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, um auch nur das Klimaschutzabkommen von Paris einzuhalten, dürfte man auch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, daß das Meer in einigen Jahrhunderten oder Jahrtausenden sechs Meter höher sein wird als heute, wohl niemanden zu irgendwelchen Reaktionen bewegen. Es hat sich zwar in der Berichterstattung durchgesetzt, aber eigentlich dürfte das Abkommen von Paris gar nicht Maß aller Dinge sein, denn die darin festgehaltenen nationalen Zusagen für CO2-Einsparungen laufen auf eine Welt hinaus, die bei drei bis vier Grad über dem vorindustriellen Niveau ankommt.


Fußnoten:

[1] https://www.nature.com/articles/s41561-018-0146-0

[2] https://www.theguardian.com/environment/2018/jul/06/global-temperature-rises-could-be-double-those-predicted-by-climate-modelling

[3] https://www.nature.com/articles/srep45242.pdf

9. Juli 2018


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