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KLIMA/735: Globale Erwärmung - zahlen müssen die Armen ... (SB)



Als einziger Staat der Erde sind die USA aus dem Klimaschutzübereinkommen von Paris ausgetreten. Mit diesem Schritt unterläuft die US-Regierung die internationalen Bemühungen zur Begrenzung der Erderwärmung gleich in mehrerer Hinsicht. Nicht nur daß sie selber keinen Klimaschutz betreibt, sie erhöht damit auch die Chance, daß Unternehmen, die in Zukunft beispielsweise in der EU unter weitreichenderen Klimaschutzanforderungen produzieren müssen, in den klimapolitischen "Freiraum" USA abwandern. Das wiederum versucht die EU unter anderem dadurch zu verhindern, daß sie von vornherein die betroffene Wirtschaft vor kostenträchtigen Auflagen bewahrt oder hintenherum subventioniert. Auf diese Weise wächst die Gefahr, daß auf beiden Seiten des Atlantiks kein nennenswerter Klimaschutz zustandekommt - zum Vorteil der Wirtschaft hüben wie drüben und Nachteil der von der globalen Erwärmung am stärksten betroffenen Menschen.

Schon seit vielen Jahren wird in der Fachwelt darüber diskutiert, ob das 2005 von der Europäischen Union eingeführte Emissionshandelssystem (EU ETS) zu "Carbon Leakage" führt. Mit dem zu Deutsch "Kohlenstoff-Abfluß" genannten Phänomen ist gemeint, daß Unternehmen ihren Standort oder Teile ihrer Produktion (und damit ihrer Kohlenstoffemissionen) in andere Länder auslagern könnten, sollten die Auflagen aus dem EU ETS so streng sein, daß sich eine Verlagerung betriebswirtschaftlich für sie lohnt. Die Industrie und ihre Verbände haben immer wieder damit gedroht, daß das passieren könnte, und so dazu beigetragen, daß die EU-Kommission ein Bündel von Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Indes bleibt 15 Jahre nach Einführung des EU ETS festzustellen: Carbon Leakage hat in keinem nennenswerten Ausmaß stattgefunden. Das gleiche gilt allerdings auch für den Klimaschutz, zu dem der Emissionshandel bislang nur einen marginalen Beitrag geleistet hat. [1]

Von der vierten Handelsperiode von EU-Emissionszertifikaten, die von 2021 bis 2030 geht, wird erwartet, daß sie endlich eine Trendwende einleitet. Der Preis der Emissionszertifikate ist in den letzten Jahren gestiegen, hat allerdings noch nicht den Wert von 27 Euro pro Tonne CO2-Emissionen erreicht, ab dem überhaupt erst ein Klimaschutzeffekt erwartet wird.

Nun stellt sich die Frage, ob nach der Reform des EU ETS die befürchtete Verlagerung von Industrien eintreten wird. Davon ist Roderik Hömann von der Wirtschaftsvereinigung Stahl überzeugt. In seinem im Internet veröffentlichten Power-point-Vortrag zu der Frage "Kommt Carbon Leakage?" des Energiepolitischen Frühstücks am 14. November 2019 schreibt der Industrievertreter, daß durch den EU ETS der Stahlindustrie in der vierten Handelsperiode massive Kosten durch den Erwerb von Zertifikaten und emissionshandelsbedingte Stromkostensteigerungen "drohen". Deshalb dürfe die Stromkostenkompensation nicht eingeschränkt, sondern müsse im Gegenteil erweitert werden. Das habe "angesichts steigender Zertifikatspreise künftig zunehmend existenzielle Bedeutung". [2]

Jene "Strompreiskompensation" ist eine von mehreren Maßnahmen, mit denen die EU-Kommission ein Abwandern vom Carbon Leakage bedrohter Industriesektoren verhindern will, und sie besagt, daß stromintensive Sektoren wie Stahl- und Aluminiumherstellung oder Kupfer-Recycling für einen Teil der Stromkosten, die aufgrund des EU-Emissionshandels gestiegen sind, kompensiert werden.

Die am Europäischen Emissionshandelssystem beteiligten Anlagen sind für rund 50 Prozent der industriellen Treibhausgasemissionen der EU verantwortlich. Der Emissionshandel gilt nach wie vor als wichtigstes Instrument des Klimaschutzes. Daß bislang keine Verlagerung der Industrien stattgefunden hat, geht unter anderem auf die Sonderregelungen wie die Stromkostenkompensation zurück, die von der EU beschlossen wurden und die im wesentlichen auch nach 2021 ihre Gültigkeit beibehalten.

Der Emissionshandel funktioniert nach dem Konzept des "Cap and Trade". Die EU hat die Menge an CO2, die in einer bestimmten Handelsperiode emittiert werden darf, gedeckelt (cap). Ein Unternehmen, das mehr für den Klimaschutz tut, als gefordert wird, darf CO2-Zertifikate verkaufen; wer dagegen seine Verpflichtungen nicht einhält, muß sie dazukaufen (trade). Theoretisch sollte dieses System bewirken, daß die Klimaschutzvorgaben mittels marktwirtschaftlicher Mechanismen erfüllt werden und die größten Emittenten die höchsten Kosten haben, also geneigt sein werden, Energie einzusparen, um CO2-Emissionen zu vermeiden. Der Emissionshandel gilt vor allem deshalb als wichtigstes Instrument des Klimaschutzes, weil in absehbaren Schritten ganz genau festgelegt werden kann, bis wann wieviel CO2 emittiert werden darf, damit die globale Erwärmung um deutlich unter zwei Grad, möglichst nur 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit steigt, so wie es im Übereinkommen von Paris vereinbart worden war.

Das EU ETS wurde an das 1997 beschlossene internationale Klimaschutzprotokoll von Kyoto angepaßt, so das Unternehmen auch externe Emissionsminderungsgutschriften, sogenannte Offsets, erwerben dürfen. Beispielsweise durften sie den Bau eines mutmaßlich sauberen Kohlkraftwerks finanzieren, wo ansonsten - angeblich! - ein weniger umweltfreundliches Kohlekraftwerk gebaut worden wäre. Rechnerisch ergibt das eine CO2-Minderung. Mit diesem hier nur beispielhaft wiedergegebenen Mechanismus wurde allerdings beträchtlich Schindluder getrieben, angefangen vom Ausnutzen bestehender Lücken im System bis zu handfesten Betrügereien. Klimaschutz fand daraufhin nur auf dem Papier statt, und die Unternehmen haben sich freigekauft.

Hierzu nur ein Beispiel: Der weltweite wirtschaftliche Einbruch vor gut zehn Jahren hatte den Effekt, daß die Zementindustrie ihre verschiedenen Standorte aufrecht erhielt, auch wenn es aus betriebswirtschaftlicher Sicht effizienter gewesen wäre, einige von ihnen zu schließen. Da aber die kostenlose Zuteilung von CO2-Zertifikaten daran gebunden ist, daß die Anlagen einsatzfähig sind, konnten auf diese Weise erhebliche Einnahmen generiert werden, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)schreibt:

"Zwischen 2009 und 2012 belief sich der daraus gezogene Nutzen auf weit über eine Milliarde Euro. Die Gewinne flossen in das Gesamtbudget der jeweiligen Unternehmen und nicht in Projekte zur Erhöhung der Effizienz oder Reduzierung der Emissionen." [3]

Die negativen Folgen für das Klima waren beträchtlich, denn das EU ETS hat sogar eine Erhöhung der Treibhausgasemissionen zumindest in diesem Sektor bewirkt:

"Seit 2013 sehen die Zuteilungsvorschriften zum Beispiel vor, dass 50 Prozent des historischen Wertes der Geschäftsaktivität erreicht werden müssen, um im nächsten Jahr die volle kostenlose Zuteilung zu erhalten. Solche Schwellenwerte für die Geschäftsaktivität schufen Anreize, die Produktion über mehrere Anlagen zu verteilen, um weiterhin die volle kostenlose Zuteilung zu erhalten. Dies führte zu ineffizienter Produktion, wodurch im Jahr 2012 etwa 5,2 Millionen Tonnen zusätzliches CO2 emittiert wurden."

Das Klima angeheizt haben auch die oben erwähnten Offsets. Sie führten in der 2. Handelsperiode (2008 - 2012) zu einer regelrechten Inflation an Emissionsgutschriften. Die EU-Kommission hatte damals zum Beispiel für Deutschland 453 Mio. Zertifikate anerkannt. Die wurden von der Bundesregierung auf die am Emissionshandel beteiligten Unternehmen aufgeteilt. Hinzu kamen aber nun 440 Mio. Zertifikate aufgrund jener zwielichtigen Offsets. Dieses Überangebot sowie die Weltwirtschaftskrise trugen zum drastischen Preisverfall der CO2-Zertifikate bei.

Der Preis für ein CO2-Zertifikat wäre wohl auf Null abgesackt, wenn sich nicht viele Unternehmen reichlich mit den billigen CO2-Zertifikaten eingedeckt hätten, um sie in der 3. Handelsperiode einzulösen oder für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben, sobald der Preis steigt. Auf dem Kohlenstoffmarkt wird diese Vorratshaltung "hedging" genannt. Zudem haben auch Spekulanten, die selber keine Emissionen mindern müssen, das Geschäftsfeld für sich entdeckt. Gegen den Miß- bzw. Gebrauch der Offsets wurden seitens der EU-Kommission etliche Gegenregulationen verhängt, so daß von der vierten Handelsperiode keine vergleichbaren "Auswüchse" zu erwarten sind.

Um Carbon Leakage zu verhindern, waren anfangs die gefährdeten Industriezweige vollständig von der Versteigerung ausgenommen. Zwar wird die Zahl der beteiligten Industriesektoren von 175 in der dritten Handelsperiode auf 44 in der vorläufigen Carbon-Leakage-Liste für den Zeitraum 2021 - 2030 verringert [4], aber zugleich verringert man damit nach wie vor den Klimaschutzeffekt des Emissionshandels. Die erste Carbon-Leakage-Liste, die 2009 zusammengestellt worden war, hatte noch 60 Prozent der Industriezweige, die für 95 Prozent der Industrieemissionen standen, erfaßt. In einen Hintergrundpapier des WWF aus dem Jahr 2014 heißt es dazu:

"Das überschätzte Risiko der CO2-Verlagerung führt also de facto zu einer fast vollständigen kostenlosen Zuteilung von Verschmutzungsrechten an die auf der Carbon Leakage-Liste stehenden Industriesektoren." [5]

Die Internetseite CarbonMarketWatch.org machte im März 2016 in einer Kurzstudie darauf aufmerksam, daß das Europäische Emissionshandelssystems nicht nur nichts für den Klimaschutz gebracht hat, sondern daß die beteiligten Unternehmen massiv von der Androhung eines Carbon-Leakage-Effekts profitiert haben:

"Energieintensive Unternehmen in Deutschland erzielten in den Jahren 2008-2014 mehr als 4,5 Milliarden Euro aus dem EU ETS. Die Unternehmen in Deutschland, denen es gelungen ist, aus dem Kohlendioxidmarkt der EU den meisten Profit zu schlagen, sind ThyssenKrupp (673 Mio. Euro), ArcelorMittal (585 Mio. Euro), Hüttenwerke (389 Mio. Euro) und Rogesa (277 Mio. Euro). Die Rechnung übernehmen die europäischen Steuerzahler, da die Regierungen auf Einkommen verzichten und Einnahmen aus einer Versteigerung dieser Emissionszertifikate einbüßen." [6]

Obgleich bereits ab Beginn der dritten Handelsperiode Emissionszertifikate versteigert werden, wurde ein bedeutender Teil weiterhin kostenlos abgegeben, und zwar in einem Ausmaß, das den Bedarf der beteiligten Unternehmen übertraf. Die Folge: Niemand war ernsthaft gezwungen, signifikante CO2-Einsparungen vorzunehmen. Das Überangebot an Emissionsgutschriften hatte zur Folge, daß Unternehmen kaum dazu bewegt wurden, Energie zu sparen. Das soll sich zwar in der vierten Handelsperiode des EU ETS ändern, unter anderem weil Zertifikate stetig vom Markt genommen werden und ihr Wert deshalb steigen dürfte, aber ein Teil der Zertifikate wird weiterhin kostenlos vergeben.

Insgesamt ist das System zu langsam. Die Frist läuft ab, in der noch verhindert werden kann, daß aufgrund der globalen Erwärmung in den Natursystemen Schwellenwerte überschritten werden, die weitreichende Folgen wie beispielsweise sich selbst verstärkende Prozesse von globaler Bedeutung auslösen. Das Verschwinden des arktischen Meereises, das Abtauen der Eismassen Grönlands und der Westantarktis, der Verlust des Amazonas-Regenwalds sind hierfür einige Beispiele.

Bisher hat es kein Carbon Leakage gegeben, weil die vielen Ausnahmen, Entlastungen und Kompensationen dies verhindert haben. Sollten diese nach und nach wegfallen, wie von der EU-Kommission vorgesehen, könnte sich die Lage ändern. Die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump wären ein potentielles Auswanderungsland für derartige "Industriemigranten". Wohingegen China ein eigenes Emissionshandelssystem aufbaut, was möglicherweise mit dem EU ETS kompatibel gemacht wird.

Abschließend bleibt festzustellen, daß in den früheren Handelsperioden die bloße Androhung von "Carbon Leakage" Klimaschutzeffekte weitgehend verhindert hat und in der kommenden vierten Handelsperiode Klimaschutz entweder noch immer verwässert oder aber durch Abwanderung von Industrien verhindert werden wird. Sollte Carbon Leakage eintreten, wäre der EU ETS sogar Auslöser für eine globale Zunahme an CO2-Emissionen, weil die Klimaschutzauflagen beispielsweise in den USA - zumindest auf Bundesebene und in einer Reihe von Bundesstaaten - weniger restriktiv sind als in der EU.

Eine generelle Reduzierung der Produktion, wie es für den Klimaschutz erforderlich wäre, ist weder für die EU-Kommission noch die Industrie ein Thema. Die Idee vom Wachstum beherrscht auch in Zeiten kontinentweiter Brände und Dauerhöchsttemperaturen die Debatte. Den Preis für das Versäumnis, in der dringend gebotenen Zeit relevante Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, bezahlen die Armen. Auf der Strecke bleiben die Länder des Globalen Südens sowie innerhalb der reichen Staaten das Prekariat aus Arbeitslosen und Geringverdienenden, auf denen die Hauptlast des Klimaschutzes liegen wird, weil sie im Verhältnis zu ihren Einnahmen am meisten für den Klimaschutz bezahlen werden. Die Unternehmen erhöhen die Preise, die Armen zahlen die Zeche. Sollten die USA bei ihrer America-First-Politik bleiben und sich nach 2021 endgültig vom internationalen Klimaschutz verabschieden, wären sie ein typisches "Einwanderungsland" für energieintensive Unternehmen. Auch das könnte für den in unternehmerischen Vorteilskategorien denkenden US-Präsidenten Donald Trump ein Grund gewesen sein, das Übereinkommen von Paris zu versenken.


Fußnoten:

[1] Näheres zum bisherigen Scheitern des Europäischen Emissionshandelssystem unter:
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/umkl-734.html

[2] http://www.energiedialog2050.de/BASE/DOWNLOADS/WV%20Stahl_Energiepolitisches%20Fr%C3%BChst%C3%BCck%2014.11.2019.pdf

[3] https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.510974.de/15-29-3.pdf

[4] https://www.bihk.de/newsletter/ihk-muenchen/2018/07/Neue-Carbon-Leakage-Liste-CL-2021-2030-.html

[5] http://mobil.wwf.de/fileadmin/user_upload/Bilder/WWF_Hintergrundpapier_Carbon_Leakage_im_EU_ETS_FINAL.pdf

[6] https://carbonmarketwatch.org/wp-content/uploads/2016/03/Carbon-leakage-myth-buster_Germany_WEB_Deutsch.pdf

30. Dezember 2019


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