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FOKUS/005: Sikkation - Ein Grund zu fragen (SB)


SIKKATION - EIN GRUND ZU FRAGEN

Zur Reifesteuerung von Kartoffeln, Raps und Weizen

Von Friedrich Haalck, Birgitta Reinken, Schattenblick-Redaktionsteam
Lehe, Stelle im November 2010

Gezeigt wird ein US-Soldat in Schutzanzug und Gasmaske, der Pestizide in ein Feld sprüht.

Titelbild: Zeigt einen US-Soldaten im Schutzanzug beim Pestizid- Einsatz (Al Anbar Provinz, Irak, 16. November 2004). Es ist ein Beispiel dafür, welche Schutzmaßnahmen beim Einsatz mit Pestiziden getroffen werden und beim Umgang mit Pflanzenschutzmitteln nötig wären. Landwirte und vor allem Verbraucher trifft der Kontakt mit Pflanzengiften selten so gut vorbereitet. [20]

Inhalt:

Einleitung:
Erntedank - dank Chemie - da stimmt doch was nicht!

Teil 1
1.          Das Problem
1.1.       Rückstandshöchstgehalte einhalten heißt nicht zwangsläufig
              "rückstandsarm"
1.2.       Sikkation - "Gift auf Lebensmittel"
1.3.       Zuständigkeit und Kontrolle
1.3.1.    Schlußfolgerungen: Peanuts?
1.4.       Die gute Praxis?
1.5.       Zusammenfassung und Schlußfolgerung:
             Ignorieren, vermeiden, Unwissen?
             - Daß nicht sein kann, was nicht sein darf?

Teil 2
2.          Forschung und Korrektur - Fallbeispiele
2.1.       Die Sikkationsmittel...
2.2.       ... ihre Eigenheiten und Unvorhersagbarkeiten
2.2.1.    Systemisch wirksame Herbizide
2.2.2.    Kontaktherbizide oder nur zum Teil systemisch?
2.2.3.    Unsicherheiten in Toxizität und Wirkung
             - Synergistische, kumulative und unvorhersagbare
             bzw. pleiotrope Effekte
2.2.3.1. Glufosinat-Ammonium (Basta/Liberty Link) - Fallstudie 1
2.2.3.2. Wechselwirkung mit den Hilfsstoffen
             - Synergistische Effekte
2.2.4.   Unvorhergesehene Auswirkungen auf Umwelt und Ressourcen
             - Fallstudie 2
2.2.4.1. Verwandte Problemstellung

Fazit


Einleitung

Erntedank - dank Chemie - da stimmt doch was nicht!

Erntezeit - Wer sich noch mit Natur und Ackerscholle verbunden fühlt, die Jahreszeiten am Wechsel der Feldbestellung abliest, den beschleicht in den letzten Jahren ein mulmiges Gefühl. Das vertraute Bild will sich nicht einstellen, die Szenerie wirkt irgendwie falsch. Ein Mißklang aus verheerend wirkenden, verwüsteten, abgestorbenen Kartoffelkulturen, bräunlich trockene, wie "tot" wirkende Rapsfelder und trockengebleichte Getreidebestände, in denen auch dann kein Grün mehr zu sehen ist, wenn es doch eigentlich schon wieder dort wachsen müßte, geben Anlaß zur Sorge. Doch statt extremer Sonneneinstrahlung, chemischer Verätzung durch Luftschadstoffe oder einer neuen Pflanzenkrankheit, wie man vielleicht denken könnte, steckt etwas völlig anderes hinter diesem neuen Ernteambiente, eine Maßnahme des Landwirts, die sich SIKKATION nennt, bei der kurz vor der Feldfruchtreife ein chemisches Pflanzengift über die Felder gesprüht wird, das ein frühzeitiges Welken künstlich einleitet.


Teil 1

1. Das Problem

Laut Umfrageergebnis des Eurobarometer, das von der Europäischen Kommission im Jahr 2006 veröffentlicht wurde, sind 69 Prozent der Deutschen besorgt über Rückstände von Pflanzenschutzmitteln auf Obst und Gemüse. Sie empfinden Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln als Risiko Nummer Eins. Dabei denken sie an den konventionellen Einsatz von Insektiziden, Fungiziden und Herbiziden, die schon seit vielen Jahren medienwirksam diskutiert wurden. Die Sikkation, Abreifebeschleunigung, Reifesteuerung oder das chemische Krautabbrennen bei Kartoffeln ist jedoch vermutlich nicht ganz unabsichtlich wenig publik gemacht worden, denn ein weiterer, nicht besonders einsichtigen Einsatz chemischer Mittel auf potentiellen Lebensmitteln würde wohl bei den wenigsten Verbrauchern auf Akzeptanz oder Gegenliebe stoßen.

Der verdeckte Einsatz von Agrarchemikalien zur Reifesteuerung läßt aber auch Sorgen, die über den eigenen sprichwörtlichen "Tellerrand" hinausgehen, aufkommen: Laut Wortlaut der erst 2009 zuletzt erschienenen deutschen Übersetzung des Weltagrarberichts [1] ist "die Bedeutung der vielfachen Funktionen der Landwirtschaft und deren Verknüpfungen mit anderen globalen Problemen", wie die Verluste der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen, der Klimawandel und die abnehmende Verfügbarkeit von Wasser "neben der Notwendigkeit, genügend Nahrungsmittel für eine ständig wachsende Weltbevölkerung zu erzeugen", längst erkannt worden.

Wie läßt sich in diesem Zusammenhang und angesichts schwindender Ressourcen eine weitere Ackerbaumaßnahme wie die Sikkation rechtfertigen, deren Applikation von Pflanzenschutzmitteln zusätzliche Schadstoffe in die Umwelt bringt, und die auf direkten wie indirekten Wegen die angesprochenen Probleme zusätzlich verstärken muß?

Der am 15. April 2008 vom Weltagrarrat (IAASTD) in Paris vorgelegte und von Unesco und Weltbank in Auftrag gegebene Weltagrarbericht, der von etwa 400 Wissenschaftlern aus 60 den Bericht unterzeichnenden Staaten verfaßt wurde und der den offiziell genehmigten, kritischen Konterpart zur praktizierten globalen Landwirtschaft bildet, läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der Gebrauch von Agrarchemikalien neben anderen Folgeerscheinungen der Landwirtschaft (wie Bodendegradationen auf mehr als 2 Milliarden Hektar fruchtbarem Land weltweit, Erschöpfung der Nährstoffe im Boden, Abnahme der Wasserqualität, zunehmende Versalzung von bewässerten Flächen, Verluste der biologischen Vielfalt und damit ihrer wichtigen, agrarökologischen Funktionen, zunehmende Verschmutzung von Wasserläufen) erhebliche, negative Einflüsse auf die Qualität von Luft, Wasser und Böden mit sich bringt:

Pestizide und Düngemittel wirken sich weltweit negativ auf die Qualität von Luft, Böden und Wasserquellen aus. Der Stickstoffaufwand zum Beispiel, der für den Anbau von Nutzpflanzen getrieben wird, hat zwischen 1961 und 1996 gewaltig zugenommen. Die Schwere der geschilderten Konsequenzen ist recht unterschiedlich in den Regionen der Welt. Dabei spielt auch der Zugang zu Kapital eine Rolle. [1, Seite 176]

Auch gesundheitliche Konsequenzen für Mensch und Tier werden in einem gesonderten Kapitel [1, Seite 155] des Berichts behandelt und stehen aufgrund der Toxizität dieser Produkte ohnehin außer Frage. Daß Pestizide und Agrarchemikalien, von Düngemitteln bis zu den gleichfalls in der Agrarpoduktion eingesetzten Antibiotika und Wachstumshormen, weitere Krankheitsrisiken darstellen, wird deutlich ausgesprochen:

Pestizide und andere Agrarchemikalien stellen ein bedeutendes arbeitsbedingtes individuelles wie auch ein Risiko für die Gesundheit ganzer Gemeinschaften dar. Die ausgelösten Vergiftungen sind insbesondere für empfindliche Menschen gefährlich. Sie führen zu akuten, schleichenden und chronischen Syndromen, zum Beispiel für das Nervensystem, die Atemwege und Fortpflanzungsorgane. Es kommt auch zu Todesfällen und Selbsttötungen durch Agrarchemikalien (Globaler Bericht, Kap. 2 und 3; SSA). Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation besagen, dass es jedes Jahr zu zwei bis fünf Millionen Vergiftungsfällen durch Pestizide und nachfolgend zu etwa 220.000 Todesfällen kommt. Es besteht weithin Einigkeit darüber, dass diese Schätzungen, die auf empirischen Untersuchungen beruhen, zu niedrig liegen [Globaler Bericht, Kap. 2, 3 und 7]. [1, Seite 163]

Daß sich diese Einschätzung nicht nur auf "nicht industrialisierte Länder" beziehen kann, in denen Armut, Mittellosigkeit und Not, Unwissen und fehlende Kontrollen als die Ursachen riskanter Anwendung gesundheitsgefährdender Stoffe, d.h. im fachsprachlichen Konsens "schlechte Praxis" also auch den verzichtbaren Einsatz chemischer Mittel unterstellt werden, und daß maßgebliche Stellen hiervon schon längst Kenntnis genommen haben, zeigt die den obigen Absatz abschließende Bemerkung:

Selbst wenn Pestizide unter Beachtung der Gebrauchsempfehlungen der Hersteller, bei Anwendung guter Praxis und aller Schutzmaßnahmen benutzt werden, lässt sich eine Exposition nicht vollkommen ausschließen, weshalb Risiken, insbesondere bei hoch toxischen Produkten, bestehen bleiben. [1, Seite 163]

Diese kleine Nebenbemerkung stellt letztlich die chemie- und industriegestütze Landwirtschaft infrage sowie die sich auf behördliche Zulassung gründenden Rechtfertigungen, die als "gute fachliche Agrarpraxis" verstanden werden und unter Berücksichtigung aller Auflagen jede Gefahr für Mensch und Natur auszuschließen versprechen. Man kann daraus schon an dieser Stelle ablesen, daß die "gute Praxis", ein Konsens oder Fachcodex zur Sitte der Landarbeit, den jeder Agrarfachmann verstehen soll, letztlich aber wohl von jedermann nach eigenem Gutdünken ausgelegt werden kann, zumindest keine Garantie für den Schutz des Menschen vor Pflanzenschutzmitteln oder anderen Agrarchemikalien darstellt. Die gute Praxis (auf die wir noch kommen werden) nimmt offenbar, mit welcher vorgeschobenen Begründung auch immer, eine Kontamination mit Chemikalien und eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Menschen bewußt in Kauf!

Das sollte wohl reichen, um dem Verbraucher von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und somit potentiell Geschädigten, das Recht zu verschaffen, doch einmal genauer nachzufragen, was vielleicht noch alles nicht gesagt, nicht berücksichtigt oder mehr oder weniger absichtlich ganz übersehen werden mußte, um einen weiteren Chemikalieneintrag in die Natur und auf Agrarprodukte (potentielle Nahrungsmittel) zu gestatten, mit dem möglicherweise die Kontamination von Menschen mit den verwendeten toxischen Schadstoffen in noch größerem Umfang geradezu zwangsläufig herbeigeführt werden muß?

Der im Weltagrarbericht dokumentierte "Ist"-Zustand steht zudem in einem eklatanten Widerspruch zu dem erklärten "Soll", d.h. den vermeintlichen Absichten der Europäische Rückstandshöchstgehalts- Verordnung (kurz: EU-RHG-VO) Nr. 396/2005 des Europäischen Parlaments und Rates vom 23. Februar 2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in Lebensmitteln, in deren 36 Punkte umfassenden Begründung für ihren Erlaß u.a. als 5. Grund auch der gesundheitliche Schutz des Verbrauchers angeführt wird:

Da der öffentlichen Gesundheit gemäß der Richtlinie 91/414/EWG des Rates vom 15. Juli 1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (1) Vorrang vor dem Interesse des Pflanzenschutzes einzuräumen ist, muss sichergestellt werden, dass diese Rückstände nicht in Mengen vorhanden sind, die ein inakzeptables Gesundheitsrisiko für Menschen oder gegebenenfalls Tiere darstellen. Die Rückstandshöchstgehalte sollten für jedes Pestizid auf dem niedrigsten erreichbaren Niveau festgesetzt werden, das mit der guten Agrarpraxis vereinbar ist, um besonders gefährdete Gruppen wie Kinder und Ungeborene zu schützen. [2]

Ebenso in Grund Nr. 12:

Die Verwendung dieser Pflanzenschutzmittel sollte insbesondere keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier haben. Pestizidrückstände, die auf die Verwendung von Pflanzenschutzmittel zurückzuführen sind, könnten die Gesundheit von Verbrauchern gefährden. Es empfiehlt sich daher, Vorschriften für die Rückstandshöchstgehalte für zum Verzehr bestimmte Erzeugnisse festzulegen... [2]

Ob sich aber allein durch die EU-weite Festlegung von Rückstandshöchstgehalten für Pestizide, die laut Begründung (22)[2] "kontinuierlich überwacht und angepaßt werden, um neuen Erkenntnissen und Daten Rechnung zu tragen" und "an der unteren analytischen Bestimmungsgrenze festgesetzt werden" eine Gefährdung von Verbrauchern überhaupt verhindern läßt, oder ob nicht durch das ganze Regelwerk aus Verordnungen, Richtlinien-, Zulassungs-, Prüf- und Genehmigungsverfahren der weitere vehemente Pestizid-Einsatz nur rechtlich abgesichert wird, bleibt eine offene Frage, auf die wir noch eingehen müssen.

Die Betonung einer Orientierung an der "unteren Bestimmungsgrenze" könnte man fast als irreführend bezeichnen, wie wir noch sehen werden, denn sie suggeriert, daß die "Obergrenzen" (die Rückstandshöchstgehalte) an den gerade noch analytisch erfaßbaren Mengen ausgerichtet werden. Die Praxis zeigt jedoch, daß der Passus "kontinuierlich überwacht und angepaßt [...], um neuen Erkenntnissen und Daten Rechnung zu tragen", sich weit eher nach den in der Praxis vorgefundenen durchschnittlichen und höheren Pestizidwerten richtet.

Allerdings wären selbst an unteren Bestimmungsgrenzen orientierte Grenzwerte bzw. die analytisch-technische Nichterfaßbarkeit von chemischen Substanzen keine Garantie für die Unbedenklichkeit eines Produkts. Sie sagen bekanntlich nichts über die Toxizität von Stoffen aus und können nicht ausschließen, daß sich ein "nicht nachweisbarer" Stoff nicht vielleicht doch vorhanden und möglicherweise auch in diesen unterschwelligen Dosierungen toxisch ist. Sie können auch nicht verhindern, daß die fraglichen Stoffe in Organismen oder auf dem Weg der Nahrungskette kumulieren (sich anreichern) oder auf anderem Wege oder in Reaktion mit anderen chemischen Stoffen Schaden anrichten können. Höchstgehaltsfestlegungen scheinen hiernach einfach nur den legalen Rahmen dafür zu bieten, daß Umwelt und Natur wie auch der Mensch zum Spiel-oder Schlachtfeld stofflicher Interaktionen von theoretisch mehreren Hundert bis Tausend verschiedener Stoffe werden, die in festgelegten, offiziell noch verträglichen Dosen in den Organismus gelangen können, um dort unkontrolliert miteinander zu reagieren, metabolisiert zu werden oder auch nicht.

Ähnlich sieht es bei den nationalen und EU-weiten Kontrollprogrammen aus, die über die Einhaltung dieser Höchstgehalte wachen und den Verbraucher beruhigen sollen. In denen aber bei näherer Betrachtung nur stichprobenartig die Einhaltung geltender Bestimmungen bestätigt werden soll. Für die meisten EU-weit zugelassenen Pestizide und Pflanzenschutzmittel ist eine Überprüfung der Rückstände in Lebensmitteln zumindest für einen Laien nicht aufzufinden oder auch gar nicht vorgesehen. Unter den letzten Punkt fallen offenbar auch die für die Sikkation zugelassenen Herbizide!

So wurden inzwischen neben den in der Verordnung (EG) 396/2005 festgelegten nationalen Mehrjahreskontrollen zusätzlich mit der Verordnung (EG) Nr.1213/2008 vom 5. Dezember 2008 ein mehrjähriges koordiniertes Kontrollprogramm der Gemeinschaft zur Gewährleistung der Einhaltung der Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf pflanzlichen und tierischen Ursprungs und zur Bewertung der Verbraucherexposition eingeführt, das sich auf die zuvor genannte Verordnung (EG) Nr. 396/2005 stützt. Damit will man, so die Erklärung im Verordnungstext, spezifischen Problemen Rechnung tragen, die sich mit der Einhaltung der Rückstandshöchstgehalte ergeben könnten, wie auch die mögliche Verbraucherexposition (ein Maß für die Menge an Pestizidrückständen, denen ein Verbraucher ausgesetzt ist) genau abzuschätzen und zu bewerten.

Das erste Studium dieser speziellen Verordnung vermittelt den beruhigenden Eindruck, es sei an alles gedacht worden. Bei der genaueren Durchsicht, vor allem einer Zählung von nur 166 Stoffen, die für diese Überprüfung in den kommenden drei Jahren überhaupt vorgeschlagen sind, fällt jedoch auf, daß von allein sieben dem Autor bekannten zur Sikkation zugelassenen Mitteln hier nur ein einziges Mittel (Glyphosat) aufgeführt wird, das dem regelmäßigen Prüfprotokoll unterliegen soll. Wobei Glyphosat auch zu vielen anderen Zwecken eingesetzt wird, es sich somit nicht um ein spezielles Sikkationspräparat handelt. Da scheint es dann auch nicht mehr verwunderlich, daß die zur Sikkation zugelassenen Chemikalien z.B. bei der Überschreitung von fraglichen Grenzwerten bisher nicht gerade auffällig geworden sind!

Außerdem sollte nicht unerwähnt bleiben, daß innerhalb des in VO (EG) Nr. 1213/2008 erlassenen dreijährigen Kontrollprogramms grundsätzlich mit jedem neuen Jahr andere Lebensmittel auf den jeweiligen Schadstoff hin überprüft werden sollen. Bei Glyphosat, dessen Überprüfung ohnehin allein auf Getreide beschränkt bleibt (d.h. sein möglicher Einsatz als Sikkationsmittel in Rapsöl, Erbsen, Futterbohnen und Senf, die damit ebenfalls zur Reifebeschleunigung behandelt werden, wird gar nicht berücksichtigt) heißt das: im Jahr 2009 wird nichts, im Jahr 2010 nur Getreide aus der Gruppe (c) d.h. wahlweise Roggen oder Hafer und im Jahr 2011 nur Getreide aus der Gruppe (a) die überhaupt kein mitteleuropäisches Getreide enthält, bestenfalls Reis untersucht.

Eine wirklich stichhaltige Aussage zu einer Entwicklung von Rückstandsgehalten in bestimmten Lebensmitteln über den Verlauf von drei Jahren scheinen die wechselnden Ausgangsbedingungen des Testverfahrens von vornherein auszuschließen (so läßt sich beispielsweise keine Aussage darüber machen, ob Glyphosatrückstände in Hafer nach drei Jahren zurückgegangen sind, wenn man Hafer nur in einem Jahr auf Glyphosat untersucht. Doch das ist wohl auch gar nicht beabsichtigt).

Das in VO (EG) Nr. 1213/2008 erlassene europaweite Kontrollprogramm läßt somit nur einen sehr allgemeinen, statistischen Überblick über die Menge an "Rückstandshöchstgehaltsüberschreitungen" zu, der zudem sehr lückenhaft ist, da er von ca. 1150 weltweit zugelassenen in Pflanzenschutzmitteln vorkommende Wirkstoffe (davon ca. 650 in Europa und nur ca. 253 in Deutschland) überhaupt nur 166 Pestizidrückstände in Lebensmitteln überprüfen will. [Anm.: Wir sprechen hier nur von reinen Pestizidwirkstoffen. Ebenfalls äußerst toxische Hilfsstoffe in einigen Formulierungen (= Gesamtkomposition des Pflanzenschutzmittels, die ebenfalls zugelassen ist), werden weder in der Rückstandsverordnung VO(EG) Nr. 396/2005 noch in VO (EG) Nr. 1213/2008 berücksichtigt, und doch hinterlassen auch diese Stoffe Rückstände in den Lebensmitteln.]

Zu den möglicherweise durch Sikkation zusätzlich dazukommenden Pestizidrückständen werden in diesem Kontrollprogramm keine Lebensmittel überprüft oder Daten ermittelt, auch nicht, ob mit dieser Anwendung direkt vor der Ernte nicht sehr viel leichter Höchstgehalte erreicht oder überschritten werden könnten, was doch sehr wahrscheinlich erscheint. Um eine möglicherweise stärkere Kontamination von Lebensmitteln durch vermehrt angewendete Agrarpraktiken wie die Sikkation als Trend in steigenden Rückstandswerten überhaupt wahrnehmen zu können, ist eine nur auf bestimmte Schwerpunkte oder Auszüge der Gesamtmenge aller weltweit eingesetzten und in Lebensmitteln vorkommenden Pestizide ausgerichtete Prüfverordnung doch sehr unzureichend.

Noch größer erscheint die Diskrepanz, wenn man den 2010 veröffentlichten, derzeit aktuellsten Jahresbericht von 2008 über Pestizidrückstände der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA = European Food Safety Authority), der im Internet verfügbar ist, studiert. Er ist das erste unmittelbare "Überprüfungs"-Ergebnis dieser neuen Verordnung. Doch obwohl er für jedermann verfügbar im Internet einzusehen ist, läßt sich eben nicht von jedermann nachvollziehen, was hier eigentlich tatsächlich überprüft worden ist.

In diesem speziellen, zudem in englischer Sprache verfaßten Bericht sollen die nationalen wie die EU-weiten Ergebnisse der jährlichen Analysen erstmals auf der neuen 2008 erlassenen Grundlage harmonisierter Höchstgehalte basieren [2]. Außerdem wird darin ein neuer Rekord bei der Anzahl der überprüften Pflanzenschutzmittel und Pestizide gefeiert: Es wurden exakt 78 verschiedene Pestizide in verschiedenen Lebensmitteln gesucht. Das sei viel mehr als in den zurückliegenden Jahren, was den tatsächlichen Wert dieser Erhebung angesichts der oben geschätzten Zahlen zugelassener Mittel doch sehr in Frage stellen sollte.

Darüber hinaus konnte unter den 78 Mitteln kein einziges der sieben erwähnten zur Sikkation oder zum Krautabbrennen zugelassenen Substanzen gefunden werden. Zudem wurde kein Lebensmittel, von Kartoffeln abgesehen, das aus möglicherweise sikkierten Agrarerzeugnissen hergestellt wird, zur Überprüfung vorgesehen.

Dem ersten Eindruck nach läßt sich also auch anhand dieses Jahresberichts nur stichprobenartig die Einhaltung der festgelegten Höchstgehalte an Pestizidrückständen kontrollieren. Bei nur 78 Proben und etwa neun Lebensmitteln kann man nicht einmal von statistischen Werten ausgehen. Mit einer tatsächlichen Beurteilung oder Einschätzung der tatsächlichen Belastung oder der tatsächlich toxischen Beeinträchtigung von Mensch und Umwelt wäre dieses auf zufälligen Proben beruhende Programm überfordert und ist dafür auch offensichtlich nicht ausgelegt. Man fragt sich allerdings, wer denn wohl eine stärkere Pestizidbelastung durch eine relativ neue oder sich verbreitende Agrartechnik wie die Sikkation überhaupt bemerken könnte.


1.1. Rückstandshöchstgehalte einhalten heißt nicht zwangsläufig "rückstandsarm"

Laut Bericht liegen zwar "wünschenswerte" 96,5% der analysierten Proben unter den Rückstandshöchstgehalten von Pestiziden, die für Lebensmittel in der EU festgelegt sind. Demzufolge überschreiten nur 3,5% aller analysierten Proben die gesetzlich festgelegten Rückstandshöchstgehalte. Das bedeutet aber nicht, daß über 90 % aller Lebensmittel wirklich rückstandsfrei wären. Um unter die 96,5% zu fallen, dürften sie theoretisch durchaus sämtliche zugelassenen Chemikalien enthalten, von denen nur die zur Überprüfung vorgesehenen 78 unterhalb des festgelegten MRL-Wertes bzw. RHG-Wertes (MRL= Maximum Residue Level(s) = Deutsch: Rückstandshöchstgehalt RHG) bleiben mußten, um nicht auffällig zu werden.

So dient der Jahresbericht letztlich nur dazu, die beiden erstrebten Ziele für die EU-weite Harmonisierung der Höchstgehalte und der damit erzielten größeren Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit zu bestätigen (was zu diesem Zweck auf eine Angleichung an die jeweils national festgelegten obersten Grenzwerte hinauslaufen muß):

1. Eine wahrscheinliche Abnahme der Höchstgehaltsüberschreitungen

2. bei gleichzeitig unveränderter Rückstandssituation

wie ein die "Harmonisierung der Rückstandshöchstgehalte in der EU" behandelndes Qualitätssicherungsseminar des Bayerischen Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit am 10. Dezember 2008 von Dr. Leena Banspach als Fazit aufschlußreich zusammenfaßt [3].

Wohlgemerkt wird damit keineswegs versprochen oder angedeutet, daß die in Lebensmitteln zu findenden Pestizidrückstände insgesamt jemals zurückgehen könnten! Insgesamt gesehen sind sogar generell viel höhere Werte in Lebensmitteln erlaubt als jemals zuvor! Es wird nur nicht mehr so viele Medienberichte darüber geben, daß aus dem Ausland eingeführtes Obst und Gemüse Pestizidmengen enthält, die hierzulande nicht zugelassen sind oder aber über die zulässige Obergrenze hinausgehen.

Was aber das hier zu behandelnde Thema der "Pflanzenschutzmittel zur Sikkation oder Abreifebeschleunigung" betrifft, muß man sich angesichts dieser offensichtlich klaffenden Lücke in der EU-weiten Gesetzgebung doch fragen, ob die mögliche Gefährdung, die von den fraglichen sieben Mitteln ausgeht, tatsächlich als zu geringfügig und somit vernachlässigbar eingeschätzt werden muß, oder ob dieses Thema einfach noch nicht als besonderes Problem wahrgenommen wurde. Ohne Frage muß bei sikkierten Agrarprodukten (ebenso wie bei dem speziellen Problem pestizidresistenter, genmanipulierter Sorten oder bei der Bekämpfung von Schadorganismen kurz vor der Ernte) mit wesentlich höheren Pestizidrückständen in den daraus gewonnenen Lebensmitteln gerechnet werden, als in Produkten, die ohne Chemieeinsatz natürlich reifen durften.


Sikkation Kartoffeln, Ernte 2010, Gemarkung Kirchspiel Lunden, Schleswig Holstein

Speisekartoffeln:

Speisekartoffeln: links vor der Blüte, 28. Juli 2010, rechts sikkierte Kartoffeln, 16. August 2010

links vor der Blüte, 28. Juli 2010, 15:30 Uhr
rechts sikkierte Kartoffeln 16. August 2010, 14:54 Uhr

Pflanzkartoffeln links und rechts sikkiert mit Rodeprobe, 18.August, 18:15 Uhr

Pflanzkartoffeln links und rechts sikkiert mit Rodeprobe, 18.August 2010, 18:15 Uhr

1.2. Sikkation - "Gift auf Lebensmittel"

Der Begriff läßt sich vom lateinischen Adjektiv siccus (= trocken) ableiten und bedeutet nichts anderes als "trocknen". Das klingt recht harmlos und geschieht auch beim natürlichen Welken, wenn einjährige Pflanzen nach der Fruchtreife absterben, trocknen und ihre Samen bzw. Ackerfrüchte hergeben.

In diesem speziellen Fall agrarverfahrenstechnischer Entgleisung wird noch einmal kurz vor der Ernte auf die fast ausgereifte Feldfrucht, z.B. Kartoffeln, Getreide oder Raps, die nur noch eine mehr oder weniger dicke Wand aus Pflanzenzellen vor Außeneinflüssen schützt, ein jeweils speziell zugelassenes und mit Anwendungsauflagen versehenes Herbizid (= Unkrautvernichtungsmittel, Pflanzengift) in definierten Konzentrationen auf die Pflanzen aufgebracht, damit sie vorher und vor allem gleichzeitig vertrocknen. So setzen die künstlich verdorrten Pflanzenteile dem Ernteprozeß weniger Widerstand entgegen. Die Ernte soll dadurch in mehrfacher Hinsicht rationalisiert werden.

Die eingesetzten Mittel sind Pflanzengifte, die über verschiedene Wirkmechanismen den Pflanzenstoffwechsel beeinflussen und dabei die Blätter der Pflanze innerlich verätzen oder auf anderem Weg z.B. über die Blockade wichtiger Enzyme, Chlorophyll vernichten bzw. den Zerfallsprozeß für Blätter und Stengel einleiten. Die künstlich herbeigeführte Nekrose der Pflanze, d.h. das Absterben, gibt offenbar ein entsprechendes Signal an die Frucht, den Reifungsprozeß abzuschließen, so daß in einem absehbaren Zeitrahmen eine gleichmäßige Erntereife erreicht wird.

Im nebenherein wird der unerwünschte "Beiwuchs" gleich mit vernichtet, so daß es der Landwirt bei der Ernte, je nach Art der Chemikalie nur wenige Tage bis Wochen danach, in verschiedener Hinsicht leichter hat. Dieser soll dabei nicht unwesentlich den Treibstoffverbrauch (also unter ökologischen Aspekten auch Ressourcen) einsparen, aber auch eine "bessere Qualität" einfahren.

Die gefürchteten "Gummischoten" beim Raps wären durch Sikkation kein Thema mehr, bei Kartoffeln lassen sich laut Hersteller nicht nur hervorragende "gleichmäßige Mehligkeit" und sogar ein angeblich "besserer Geschmack" erzielen, sondern vor allem bestimmte Viruskrankheiten vermeiden, da die Schalenfestigkeit und die durch Vertrocknen reißende Versorgungsverbindungen über Stolonen und Kraut auch eine Verbreitung von Krankheitserregern (Viren) über diese Wege unterbindet. Bei Getreide soll das Sikkieren ein gleichmäßiges und vor allem gleichzeitiges Abreifen der Bestände mit höherer Kornqualität garantieren. Niedere Feuchte, weniger Fremdbesatz, höhere Druschleistung, einfachere Unkrautbekämpfung (da bereits alles vertilgt wurde) versprechen nicht nur ein sauberes Endprodukt, sondern sogar eine geringere CO2-Bilanz, die als gewichtiger ökologischer, klimarettender Faktor den Einsatz von toxischen Substanzen in der Umwelt (genauer: von chemischen Mitteln wie Glyphosat (Hauptwirkstoff z.B. in Round up-Produkten), Glufosinat-Ammonium (Basta/Liberty Link), Deiquat oder Diquat (Reglone), Carfentzarone (Shark), Cyanamid (Azodef), Cinidon-ethyl (Lotus) und Pyraflufen (Quickdown), um die geläufigsten zu nennen) rechtfertigen sollen. Auch maximal erreichbare Erträge, die diese Maßnahme verspricht, scheinen angesichts von rund 1 Mrd. unterernährter Menschen auf der Welt durchaus ein gewichtiges Argument für die Sikkation zu sein, das auch eine mögliche Intoxikation rechtfertigt.

Ob sich diese Gründe nicht auf ihre bloße Reklamefunktion relativieren lassen, wenn man die gesamte Energiebilanz berücksichtigt, also auch den für die Produktion von Agrarchemikalien benötigten Ressourcenverbrauch sowie die dabei verbrauchte Energie und die erzeugte CO2-Emission (neben anderen chemischen Schadstoffen, die dabei produziert werden) in Rechnung stellt, bleibt eine offene Frage, die sich immer weniger Landwirte stellen.

Die Nachteile des Verfahrens, sind ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Sie lassen sich mit nicht unerheblichen Mehrkosten für den Chemikalieneinsatz, Korn- bzw. Ernteverluste durch Fahrspuren bei der Überfahrt mit schwerem Gerät (Spritze und Traktor), sowie ein deutlich kleineres Erntefenster, da die Abreife beschleunigt wird, zusammenfassen. Somit kann auch die vermeintlich konzentrierte und erhöhte Funktionalität der Landwirtschaft durch den Einsatz der Mittel durchaus auch beeinträchtigt werden.

Dazu ist bei bestimmten Abreifebeschleunigern die Vermarktung des Ernteguts als Saat- und Braugetreide ausgeschlossen. Totgespritzes "keimt" in der Regel schlecht, was die Voraussetzung für seine Weiterverwendung in diesen speziellen Bereichen ist. Anders gesagt, ist es also nicht das in ausreichend keimungsverhindernden Mengen vorhandene "Gift im Getreide", das man bei dieser Weiterverwendung vermeiden will.

Auch die Entwicklung von resistenten Arten, die jeder weitere Einsatz von Herbiziden (neben ihrer ohnehin in der konventionellen Landwirtschaft unvermeidbaren Anwendung) vorantreibt, erhöht das Negativkonto eines solchen Einsatzes. Und schließlich und nicht unwesentlich wird auch der vermeintlich bessere Geschmack bei Kartoffeln und anderen mit Pestiziden behandelten Agrarprodukten von Gourmets wie auch von Vertretern des ökologischen Anbaus nachvollziehbar bestritten, was den Abnehmerkreis der sikkierten Agrarprodukte weiter einschränken könnte. Genauer gesagt, nimmt die Nachfrage von Produkten aus ökologischem Anbau allein wegen des Arguments wohlschmeckenderer Speisen gerade unter Feinschmeckern immer mehr zu.

Es gibt also durchaus vernünftige Gründe, die gegen Sikkation sprechen, und sich darüber hinaus auch wirtschaftlich gegenrechnen lassen, wenn man wirklich alle Vor- und Nachteile als Kostenfaktor berücksichtigt, von dem eher gesundheitlichen Faktor abgesehen, daß sich bei einer zusätzlichen Schadstoffbelastung, zu einem so späten Zeitpunkt der fortgeschrittenen Feldfruchtreife appliziert, eine erhebliche stärkere Pestizid-Belastung von potentiellen Lebensmitteln (s. Wirkung auf Saatgetreide) wohl kaum wegargumentieren läßt.


1.3. Zuständigkeit und Kontrolle

Auch in Fragen der gesetzlichen Regelung dieser Sikkation genannten speziellen Herbizidanwendung handelt es sich - wenn man dem einmal nachgeht - um ein äußerst komplex verstecktes Problem. Die Zuständigkeiten lassen sich, wie auch schon anhand der oben beschriebenen Prüfverfahren bemerkt, nicht so einfach zuordnen.

Der Einsatz von Herbiziden, d.h. Chemikalien, die grundsätzlich Pflanzen vernichten, für Umwelt und Lebewesen zumeist sehr toxisch sind, in Wasserkreisläufe geraten können, und - da sie industriell gefertigt werden - für ihre Herstellung Ressourcen, vor allem große Mengen an Wasser und Energie verbrauchen, wird über verschiedene Gesetzgebungen zum Zwecke der Ertragssteigerung ausdrücklich erlaubt und geregelt. In diesem gesetzlichen Zusammenhang wird außerdem ein für den Verbraucher angeblich "noch vertretbarer" Rückstandshöchstgehalt an diesen Stoffen offiziell in Lebensmitteln geduldet.

So ist die europäische Verordnung (EG) 396/2005 des europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Februar 2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in und auf Lebens- und Futtermitteln pflanzlichen und tierischen Ursprungs (kurz: VO (EG) 396/2005) EU-weit dafür verantwortlich, daß für jede zugelassene Agrarchemikalie (Pflanzenschutzmittel wie Pestizide) sogenannte Rückstandshöchstgehalte festgeschrieben sind, die gewährleisten sollen, daß beim Verbraucher keine akute Gefährdung durch seinen Tagesbedarf an Lebensmitteln ARfD (= Akute Referenzdosis) auftritt, und auch der sogenannte ADI (= "acceptable daily intake", deutsch: vertretbare Tagesdosis, d.h. die tolerierbare Menge eines Stoffes, die ein Mensch ein Leben lang täglich aufnehmen kann, ohne Schaden zu erleiden) nicht überschritten wird. Die aktuellen ADI-Werte kann man beispielsweise beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) erfragen [4]. Diese Werte sollen bei der Ermittlung von Rückstandshöchstgehalten laut BfR als toxikologische Richt- bzw. Grenzwerte fungieren. In einer sogenannten Hintergrundinformation des BfR für Journalisten wird dies folgendermaßen erklärt:

Nach dem so genannten ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable) sollen Rückstandshöchstmengen nur so hoch sein wie nach den Bedürfnissen der guten landwirtschaftlichen Praxis notwendig und nie höher als toxikologisch vertretbar. In umfangreichen Feldstudien wird daher ermittelt, mit welcher Menge und Anwendungshäufigkeit der beabsichtigte Effekt zu erreichen ist. Ein unter diesen Umständen maximal auftretender Rückstand wird nur dann als Rückstands- Höchstmenge für ein landwirtschaftliches Erzeugnis akzeptiert, wenn sichergestellt ist, dass die Konzentration nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis keine schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat. [5]

Falls dieser aufwendige Prozeß noch nicht abgeschlossen und in den Anhängen der oben genannten Verordnung noch kein spezifischer Rückstandshöchstgehalt festgelegt ist, gilt derzeit noch eine pauschale, möglichst niedrige Höchstmenge von 0,01 mg/kg Lebensmittel.

Wie dem Zitat zu entnehmen ist, werden somit die Rückstandshöchstwerte aus den wohlgemerkt höchsten, in der Landwirtschaft vorkommenden Rückstandswerten ermittelt, die allerdings nur dann als "zulässig" akzeptiert und in den Anhängen der Verordnung festgelegt werden "sollen", wenn sie laut neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen im Grenzbereich der ADI und ARfD-Werte liegen. Bei Durchsicht der in den Anlagen II und III aufgeführten Tabellen mit Rückstandshöchstgehalten für Pestizide in verschiedenen Lebensmitteln versteht man somit auch, warum diese in den einzelnen Lebensmitteln sehr unterschiedlich sein können.

Geradezu irritierend ist hingegen die Erkenntnis, daß beispielsweise bei den meisten der hier näher betrachteten, auch für die Sikkation zugelassenen sieben Pestizide in einigen Lebensmitteln so auffallend hohe Rückstandshöchstgehalte erlaubt sind, daß ihr Verzehr die ADI bei weitem übertreffen kann. Anders gesagt schüren die gefundenen Werte den bereits geäußerten Zweifel, daß sich die Bestimmung von Rückstandshöchstwerten (also den offiziell erlaubten Obergrenzen) überhaupt an irgendetwas anderem orientiert, als den höchsten Rückstandswerten, die gewöhnlich in den entsprechenden Lebensmitteln zu finden sind. Immerhin handelt es sich immer noch um Toxizitäten, deren gesundheitliche Relevanz nicht zwangsläufig auf den Verzehr dieser Lebensmittel zurückzuführen ist, falls jemand daran u.U. erkranken sollte.

Glufosinat-Ammonium hat beispielsweise einen ADI-Wert von 0,021mg/kg Körpergewicht. Bei einem 70 kg schweren Erwachsenen wären diese Menge nach der Aufnahme von nur 1,47 mg erreicht.

Als RHG sind in Hafer, Weizen und Gerste sowie Erbsen allerdings schon 0,1mg/kg erlaubt, in Kartoffeln sogar 0,3mg/kg in Bohnen 2mg/kg und in Raps weitere 5mg/kg. Die Überschreitung der ADI läßt sich durch eine abwechslungsreiche Kost aus diesen ballaststoffreichen "gesunden" Grundnahrungsmitteln kaum vermeiden.

Diquat, das am stärksten toxische, zur Sikkation zugelassene Mittel mit dem geringsten täglichen Toleranzwert von nur 0,002 mg/kg Körpergewicht (0,14 mg /70 kg) übertrifft diese Diskrepanz noch, indem EU-weit offiziell bei Weizen 0,05mg/kg, bei Leinsamen 5mg/kg, Hafer 2mg/kg und bei Gerste sogar 10mg/kg als RHG zugelassen sind.

Dabei wurden hier beispielhaft nur die Rückstandsgrenzen für Lebensmittel nachgeschlagen, für die den Landwirten die Sikkation empfohlen wird, um die Erntebedingungen zu verbessern. Man könnte die Liste auch mit den weiteren Sikkationsmitteln oder anderen Pestiziden beliebig fortsetzen.

Allein diese Zahlen lassen einen zweifeln, daß mit den neuen Rückstandsregelungen bzw. mit der Überprüfung dieser Werte in kontrollierten Programmen oder Berichten etwas anderes als Verbraucherberuhigung betrieben werden soll. Zumal die Frage, wer denn nun eigentlich für die Aufklärung solcher Diskrepanzen zuständig ist, für Nicht-Rechtskundler eine kaum zu bewältigende Aufgabe darstellt.

Für die Festlegung der geltenden Höchstmengen bzw. zulässigen Rückstandshöchstgehalte für Pflanzenschutzmittel ist letztlich die Zulassungsbehörde verantwortlich. Das ist in Deutschland das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Beteiligt am Zulassungsverfahren sind aber auch weitere öffentliche Einrichtungen: Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bewertet gesundheitliche Risiken von Pflanzenschutzmitteln für den Menschen, das Umweltbundesamt (UBA) bewertet den Einfluß von Pflanzenschutzmitteln auf die Umwelt und das Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen (Julius Kühn-Institut, JKI) ihre Wirkung auf Pflanzen. Darüber hinaus beteiligt sich die chemische Industrie mit Forschungsaufträgen und wissenschaftlichen Ergebnissen. Die Bewertungsgrundsätze für die Abschätzung von ADI und ARfD werden auf europäischer und internationaler Ebene (FAO/WHO) festgelegt.

Für die Einhaltung der geltenden Höchstmengen sind aber ausschließlich Produzenten und Händler von Lebensmitteln verantwortlich. Ob sie ihrer Verpflichtung nachkommen, sollen die amtlichen Überwachungsbehörden der Bundesländer überprüfen. Nicht ermittelbar war jedoch, ob sie das auch tun, und wie weit diese Überwachung geht.

In diesem Dickicht aus Wirtschaft, Forschung, öffentlichen Einrichtungen und Behörden und ihren jeweiligen vorrangigen Interessen lassen sich Zuständigkeiten leicht von einem Bereich in den anderen überantworten. Doch die Beschäftigung damit würde zu sehr vom eigentlichen Thema abschweifen [einen allgemeinen Überblick siehe: 5].

Ohnehin wäre die gewissermaßen behördlich geregelte ADI, also die vermeintlich "nicht gesundheitsschädliche Intoxikation", die vom Gesetzgeber für zumutbar gehalten wird, für sich schon eine Streitfrage. Denn darüber, ob ein Stoff in der vorgeschriebenen Rückstandshöchstmenge tatsächlich keinen Schaden anrichtet oder spätere Schäden nur nicht auf diese Ursache zurückgeführt werden können, kann nie mit Sicherheit entschieden werden. Oft lassen sich toxische Zusammenhänge erst Jahre nach der Zulassung eines Stoffes erkennen, zumal bei seinem Eintrag in Umwelt oder Organismen mit weiteren synthetischen oder natürlichen Substanzen zu rechnen ist, die, abhängig von der jeweiligen Menge, unterschiedliche Wechselwirkungen zeigen können, die man einfach nicht voraussagen kann. [Gerade bei den hier thematisierten Sikkationsmitteln sind schon mehrfach unvorhergesehene "Überraschungen" aufgetreten, auf die im folgenden noch eingegangen werden soll s.u.].

Bei der Sicherheitsbeurteilung einer chemischen Substanz wird nun in den meisten Fällen von Einzelsubstanzen ausgegangen, deren akute Toxizität wie auch ihre Wirkung nach längerer bis lebenslanger Exposition mittels Laborversuchen und Feldversuchen abgeschätzt und hochgerechnet wird. Die auf diese Weise geschätzte Toxizität kann sich allerdings, auch wenn sie in den Mengen ihrer Exposition geringfügig und tolerierbar erscheint, angesichts 1150 weltweit zugelassener mehr oder weniger toxischer Pflanzenschutzmittel erheblich aufsummieren, vor allem dann, wenn sich der Mensch wie empfohlen "vielseitig" ernährt, so daß er auch mit vielen weiteren unterschiedlichen Pflanzenschutzmitteln in Berührung kommt.

Die hieraus erwachsenden möglicherweise kumulativen oder synergistischen Effekte, werden zwar durchaus als Problem wahrgenommen und auch schon in der oben erwähnten Verordnung (EG) 396/2005 unter den eingangs genannten Gründen für die neue Verordnung anformuliert,

(6) Es ist auch wichtig, daß weitere Arbeiten durchgeführt werden, um Methoden zur Erfassung kumulativer und synergistischer Wirkungen zu entwickeln. Im Hinblick auf die Exposition von Personen gegenüber Wirkstoffkombinationen und deren kumulative und mögliche aggregierte und synergistische Auswirkung auf die menschliche Gesundheit sind Rückstandshöchstgehalte [...] festzusetzen,... [2]

doch dabei bleibt es dann auch. Denn wie bereits dargestellt, sollen genau diese Probleme, d.h. die Exposition des europäischen Verbrauchers gegenüber diesen Rückständen durch die Ernährung (d.h. seine Einnahme der fraglichen Chemikalien in Form kontaminierter Lebensmittel) wie auch kumulative und synergistische Wirkungen (d.h. Anreicherung und Wechselwirkung der Stoffe untereinander) in den jährlichen nationalen wie EU-weiten Kontrollprogrammen, die in der Rückstandsverordnung der EU vorgesehen sind, berücksichtigt werden [siehe auch: (8) VO (EG) Nr. 1213/2008 über ein mehrjähriges koordiniertes Kontrollprogramm der Gemeinschaft]. In der derzeitigen Praxis (siehe oben "Das Problem"), die gerade mal 78 Wirkstoffe in genau 9 verschiedenen Lebensmitteln europaweit prüft, von denen insgesamt nur 11.610 Proben untersucht wurden, bleibt das ein frommer Wunsch. Schließlich werden nicht einmal sämtliche Wirkstoffe erfaßt oder überprüft, mit denen der Verbraucher durch Lebensmittel in Berührung kommt.

Nach wie vor müssen sich die Behörden die Frage gefallen lassen, ob der Umfang der Programme, d.h. die darin geforderten Proben oder die Analysen selbst, Ungeklärtheiten wie beispielsweise die Möglichkeit von Wechselwirkungen wirklich aufdecken können, oder ob man als Verbraucher davon ausgehen darf, daß der ganze Komplex an Regelungen, einschließlich seiner Undurchsichtigkeit allein das Problem einer ubiquitären und nicht zu verhindernden schleichenden Vergiftung des Menschen mit Pflanzenschutzmitteln nur verschleiern helfen soll.


1.3.1. Peanuts?

Angesichts eines offenbar ohnehin offiziell geduldeten, täglichen Kontaminationsrisikos mit theoretisch mindestens 0,01mg x 1150 verschiedenen, weltweit gebräuchlichen Pflanzenschutzmitteln pro Kilogramm aufgenommener Nahrungsmittel, die theoretisch als unvermeidlich betrachtet werden dürfen, scheinen die etwa sieben zur Sikkation zugelassenen und verwendeten Pflanzenschutzmittel als "vernachlässigbar" unbedeutend bzw. als "peanuts" eingeschätzt und behandelt zu werden.

Verändert man jedoch den Blickwinkel, sieht es schon anders aus: Aus den wenigen Fakten, die in dem aktuellen EFSA-Jahresbericht 2008 für Kartoffeln veröffentlicht wurden (in denen nicht nach Sikkationsmitteln bzw. Chemikalien zum Krautabbrennen gesucht wurde), geht hervor, daß von den 78 überhaupt geprüften schon allein 23 verschiedene Agrarchemikalien nachweisbar in Kartoffeln vorkommen.

Dabei handelt es sich um die folgende beeindruckende Liste, bei der Chlorpropham, ein Mittel, das als sogenannter Mitosehemmer in den Pflanzenzellen der Kartoffel das Keimen unterbindet, eine besonders auffällige Position einnimmt, da es kurz nach der Ernte angewendet wird:

Chlorpropham (in 21% aller Proben gefunden)
Dithiocarbamat
Metalaxyl
Imidacloprid
Azoxystrobin
Chlorpyrifos
Imazalil
Thiabendazol
Diphenylamin
Malathion
Oxamyl
Carbaryl
Endosulfan
Methomyl
Methiocarb
Methamidophos
Vinclozolin
Tebuconazol
Dichlofluanid
Deltamethrin
Dimethoat
Fenitrothion
Pirimiphos-methyl

Diese Liste ist nicht vollständig, da nicht alle für Kartoffeln zugelassenen Pflanzenschutzmittel untersucht wurden. Darunter fallen auch noch zumindest sechs für das Kartoffelkrautabrennen zugelassene Sikkationsmittel [angemerkt: das siebte Mittel, Glyphosat, ist nicht für Kartoffeln, wohl aber zur Sikkation von Getreide, Raps, u.ä. zugelassen]. Diese werden kurz vor der Ernte angewendet, stehen also ebenfalls in ähnlich dichter Berührung mit dem Agrarprodukt, wie das erwähnte Chlorpropham:

Carfentzarone
Cyanamid
Cinidon-ethyl
Diquat
Glufosinat-Ammonium
Pyraflufen

Ließe sich also z.B. nur bei Kartoffeln auf eine Sikkation verzichten, würde das schon ein Sechstel der bekannten, an Kartoffeln verwendeten Mittel einsparen, die in das Agrarerzeugnis gelangen können.

Bei den darüber hinaus durchgeführten Mehrfachbelastungsproben, die ebenfalls in dem Jahresbericht 2008 dokumentiert sind, wurden bei Kartoffeln in allen Proben nie mehr als drei Pflanzenschutzmittel gleichzeitig festgestellt. Das bedeutet nicht, daß nur drei Stoffe darin enthalten sind. Es bedeutet, daß von den 23 untersuchten Stoffen garantiert 20 unter der Nachweisgrenze liegen. Darüber hinaus könnten theoretisch aber auch alle die vorkommen, nach denen man gar nicht gesucht hat. Angesichts dieser drei offiziell tolerierbaren Rückstände in Kartoffeln würde aber ebenfalls ein Verzicht auf die chemisch eingeleitete Reife den Umfang der möglichen Pestizidbelastung nur bei dem Agrarerzeugnis "Kartoffeln" rein rechnerisch sogar auf ein Viertel reduzieren.


1.4. Die gute Praxis?

Im Zusammenhang mit der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln wird immer wieder die "gute Agrarpraxis" oder "gute fachliche Praxis" betont, ein sittlicher Konsens über eine wohlanständige Landwirtschaft, die als Berufsethos vorausgesetzt wird, und den Agrarfachleute, Landwirte wie Facharbeiter, aber auch Menschen, die auf dem Land groß geworden sind, gewissermaßen mit der Muttermilch eingeflößt bekommen, der letztlich aber individuell sehr unterschiedlich auslegbar bleibt. Im allgemeinen versteht man darunter:

- den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln nur, wenn es unter Beachtung der Schadensschwellen notwendig ist

- die Wahl des geeigneten Mittels

- die Anwendung nur mit geeigneten Geräten

- keine Überschreitung der zugelassenen Aufwandmenge

- die Beachtung aller in der Gebrauchsanweisung genannten Vorsichtsmaßnahmen

sowie

- die Einhaltung der vorgeschriebenen Wartezeiten

Allein schon der erste Punkt, die nachweisliche Unverzichtbarkeit für die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, "nur wenn sie unbedingt notwendig sind", läßt einen Interpretationsspielraum zu, der dem Landwirt überlassen bleibt. Ob sich die Notwendigkeit z.B. nur auf den akuten Notfall bezieht, wie ein Laie glauben könnte, oder von statistischen Erhebungen ausgegangen wird, die den optimalen Ertrag versprechen, sich also auch die "Unverzichtbarkeit" am wirtschaftlichen Erfolg orientiert, wird in dem Begriff nicht festgelegt und macht ihn endlos dehnbar.

Von einem auf sittlichem oder moralischen Codex basierendem Begriff ausgehend, der die unnötige Belastung des potentiellen Verbrauchers vor Augen hätte, ließe sich mit "guter fachlicher Praxis" der Einsatz der Sikkation nicht rechtfertigen. Denn zunächst ist nicht von der Hand zu weisen, daß zum Zwecke der "Abreifesteuerung" im Gegensatz zu sonst üblicher "fachlicher Praxis" der Schädlings- bzw. Unkrautbekämpfung Pflanzenschutzmittel auf ausgewachsene Nutzpflanzen gesprüht werden, die kurz vor der Ernte stehen, demzufolge, nur durch Pflanzenwände geschützt, schon die fast fertigen Agrarprodukte, somit potentielle Lebensmittel wie Brotgetreide, Kartoffeln, ölhaltige Rapssamen (Rapsöl für Pflanzenmagarine) enthalten.

Kritischen Verbrauchern stellt sich angesichts dieser Fakten die Frage, ob auf diese Weise nicht darüber hinaus schon das oberste Gebot einer weiteren "guten fachlichen Praxis", nämlich die für den "Umgang mit Chemikalien", umgangen wird, die vorschreibt, sämtliche Chemikalien von "Nahrungsmitteln, Getränken und Futtermitteln fernzuhalten", wie sich in den Zulassungen für Pestizide oder Pflanzenschutzmittel und auf jeder in den Handel gebrachten Gebrauchsanweisung auf der Verpackung eines Mittels nachlesen läßt. Nebenbei bemerkt kreuzt sich an dieser Stelle der fachgerechte Umgang mit Chemikalien mit der unterstellten Anwendung "Guter Agrarpraxis", zu der auch das Einhalten von Gebrauchsanweisungen gehört (s.o.).

Selbst wenn beim Umgang mit der konzentrierten Sprühflüssigkeit von anderen Voraussetzungen ausgegangen wird als beim Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln auf dem Feld und selbst wenn beim Umgang mit Chemikalien in erster Linie an direkte Vergiftung z.B. des Pausenbrotes eines Chemiearbeiters gedacht wird oder daran, daß Chemikalien nicht neben Lebensmitteln im Küchenschrank aufbewahrt werden sollen, damit die Müslischachtel nicht mit E 605 verwechselt werden kann, scheint diese Unterscheidung doch angesichts der Tatsache, daß in diesem speziellen Fall der Anwendung doch zumeist potentielle Lebensmittel damit direkt kontaminiert werden, auch wenn Kartoffeln, Raps und Weizen als Pflanzen laut EU-Definition (siehe Artikel 2c), Verordnung (EG) Nr.178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002) bis zum Zeitpunkt ihrer Ernte noch keine Lebensmittel sind, ebenso unlogisch und widersprüchlich zu sein, wie die erwähnte EU-Definition, die diese Unterscheidung erlaubt. Denn so heißt es noch zu Beginn des Artikels 2, VO (EG) Nr. 178/2002:

Im Sinne dieser Verordnung sind "Lebensmittel" alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden. [6]

Ausnahmen bilden dann im weiteren Verlauf der Definition:

Nicht zu "Lebensmitteln" gehören [6]:

a) Futtermittel,
b) lebende Tiere, soweit sie nicht für das Inverkehrbringen zum menschlichen Verzehr hergerichtet worden sind,
c) Pflanzen vor dem Ernten,
d) Arzneimittel im Sinne der Richtlinien 65/65/EWG (1) und 92/73/EWG (2) des Rates,
e) kosmetische Mittel im Sinne der Richtlinie 76/768/EWG (3) des Rates,
f) Tabak und Tabakerzeugnisse im Sinne der Richtlinie 89/622/EWG (4) des Rates,
g) Betäubungsmittel und psychotrope Stoffe im Sinne des Einheitsübereinkommens der Vereinten Nationen über Suchtstoffe, 1961, und des Übereinkommens der Vereinten Nationen über psychotrope Stoffe, 1971,
h) Rückstände und Kontaminanten.

Somit scheint hier (mit Punkt c) per Definition eine Lücke geschaffen zu sein, die das Versprühen von Pflanzenschutzmitteln auf fast fertige Agrarprodukte und somit potentielle Lebensmittel nicht als Gifteintrag in Lebensmittel auffaßt, da man die möglichen Pestizid- Belastungen von Lebensmitteln mit der bereits erwähnten Europäischen Rückstandshöchstgehalts-Verordnung (VO(EG) Nr. 396/2005) des Europäischen Parlaments und Rates vom 23. Februar 2005 ausreichend berücksichtigt zu haben glaubt. Und in dieser wird von "guter Agrarpraxis" und dementsprechend konventionellem Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft nach dem so genannten ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable), d.h. soviel Pestizide wie notwendig aber nie höher als toxikologisch vertretbar, ausgegangen [5].

Schon aus den soweit dargestellten Widersprüchlichkeiten scheint doch die Hauptfrage dieser Arbeit, ob die Sicherheitsbestimmungen aus dem Lebensmittelrecht, insbesondere das Vorsorgeprinzip (siehe Artikel 7, Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 [6]) ausreichend sind, um eine potentiell gesundheitsbeeinträchtigende Rückstandsbelastung als Folge der Sikkation, kurz bevor Kartoffeln, Raps und Weizen zu Lebensmitteln werden, auszuschließen, keineswegs zufriedenstellend zu beantworten.



*


Bei einer gründlichen Durchsicht des zuständigen Regelwerks der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wie auch des letzten in diesem Jahr veröffentlichten EU-weiten Jahresberichts von 2008 über Pestizidrückstände in Lebensmitteln, mehren sich die Anhaltspunkte dafür, daß das Thema Sikkation, d.h. das Sprühen bestimmter Pflanzenschutzmittel zu einem sehr späten Zeitpunkt vor der Ernte auf die Ackerpflanze, bei dem also ähnlich wie bei Schädlingsbekämpfungsmitteln (z.B. Insektiziden) eine Kontamination des späteren Lebensmittels mit den Toxinen oder deren Abbauprodukten sehr wahrscheinlich ist, nicht als zusätzliche Schadstoffbelastung von Lebensmitteln wahrgenommen wird.

Zwar werden die zugelassenen sieben Sikkationsmittel (Carfentzarone, Cyanamid, Cinidon-ethyl, Diquat, Glufosinat-Ammonium, Glyphosat, Pyraflufen) in den Anhängen II und III der EU-Rückstandsverordnung Nr. 396/2005 in einigen Lebensmitteln Rückstandhöchstgehalte zugeordnet, wobei es sich nicht zwangsläufig um sikkierte Agrarerzeugnisse handeln muß. Auffällig ist allerdings schon, daß besonders die für das Sikkieren vorgesehenen Produkte wie Bohnen, Erbsen, Lupinen, Raps, und Getreide wie Gerste, Hafer, Roggen und Weizen besonders hohe Rückstandshöchstgehalte (Obergrenzen) für die fraglichen Mittel zugestanden bekommen haben. Während z.B. bei Glyphosat normalerweise die untere Bestimmungsgrenze (0,1 mg/kg) mit dem Rückstandshöchstgehalt gleichgesetzt wird, was sein Vorkommen in Beeren- oder Zitrusfrüchten betrifft, erhöhen sich seine RHG-Werte bei Hülsenfrüchten wie Bohnen schon auf 2 mg/kg, bei Erbsen, Lupinen und Raps, wie auch bei Roggen und Weizen sogar auf 10 mg/kg, während bei Gerste und Hafer sogar 20 mg/kg erlaubt werden! Letztere würden bei einem vorstellbaren Eßverhalten - wie auch schon in den zuvor dargestellten Beispielen - die angeblich zugrunde gelegten ADI- Grenzwerte übersteigen.

Im EFSA-Jahresbericht 2008 wird der Begriff Sikkation (bzw. engl. desiccation) ebenfalls nicht erwähnt. Weder die überprüften 78 Agrarchemikalien (ohnehin nur ein kleiner Ausschnitt angesichts 670 in der EU gebräuchlichen Mittel), noch die Auswahl der überprüften Lebensmittel (genauer: Bohnen ohne Hülsen, Karotten, Gurken, Mandarinen, Orangen, Birnen, Kartoffeln, Reis und Spinat, von denen nur Bohnen und Kartoffeln sikkiert werden) lassen eine Aussage über die möglicherweise dabei zur Sikkation verwendeten Mittel zu.

Man beachte außerdem, daß 2008 zwar das häufig sikkierte Agrarerzeugnis "Kartoffel" zur Prüfgruppe gehört, sich aber keines der sechs zum "Kartoffelkrautabbrennen" zugelassenen Mittel noch das Sikkationsmittel Glyphosat unter den 78 überprüften Agrarchemikalien befindet, die als gesundheitsbeeinträchtigend eingeschätzt werden. In den darauffolgenden Jahren 2009 und 2010 sollen andere Ernährungsgrundlagen überprüft werden, die Kartoffel ist dann nicht mehr darunter. So daß der spezielle Fall der Kartoffelsikkation auch in den kommenden Jahren nicht thematisiert werden wird.


1.5. Ignorieren, vermeiden, Unwissen? - Daß nicht sein kann, was nicht sein darf?

Das offensichtliche Ignorieren einer gängigen Agrarpraxis wie die Sikkation läßt verschiedene Schlüsse zu, über die man nur Vermutungen aussprechen kann. Eine Möglichkeit wäre, daß man das Problem einfach nicht als solches erkennen will, weil das u.U. agrarwirtschaftliche und wirtschaftliche Konsequenzen nach sich zu ziehen droht, deren Ausmaße für den gesamten agrarindustriellen Komplex mehr gefürchtet werden, als die möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen von ohnehin mit Pflanzenschutzmitteln geschädigten Verbrauchern.

Eine weitere wäre, daß die von der Sikkation ausgehende Kontamination von Lebensmitteln mit Pflanzenschutzmitteln als vergleichsweise geringfügig und im Sinne der noch vertretbaren täglichen Schadstoffkontamination (ADI, s.o.) nicht besonders schädlich eingeschätzt wird. Doch abgesehen davon, daß hier noch zu prüfen wäre, inwiefern solch künstlich festgelegte Grenzwerte tatsächlich eine Gefährdung des Menschen ausschließen können, stehen möglicherweise auch noch nicht absehbaren toxikologischen Zusammenhänge wie die schon erwähnten kumulativen oder synergistischen, aber auch pleiotropen oder anderen umweltrelevanten Effekte in der bisherigen Einschätzung zur Berücksichtigung aus. Daß entgegen anderslautender Behauptung bei der Festlegung von Rückstandshöchstgehalten in der Praxis wohl kaum ADI- Werte zur Grundlage genommen werden, konnten wir bereits feststellen. Darüber hinaus zeigen die erlaubten hohen Rückstandswerte bei zur Sikkation zugelassenen Pestiziden und üblicherweise sikkierten Agrarerzeugnissen, daß möglicherweise die längst praktizierte Sikkation diese Höchstwerte schon zu verantworten hat, auch wenn von offizieller Seite aus das Thema Sikkation offenbar verdrängt wird.

Die letzte ebenfalls denkbare Möglichkeit bestände darin, daß man das Thema Sikkation nur deshalb verdrängt, weil man die Praxis ohnehin für "nicht erforderlich" hält und somit auch nicht als eine im Sinne "guter landwirtschaftlicher Praxis" angebrachte Applikation betrachtet.

Genauer: Die in der VO (EG) Nr. 396/2005 aufgeführten Höchstgehalte an Pestizidrückständen ("MRL" oder "RHG") in oder auf Lebensmitteln und Futtermitteln sollen die Anwendung "guter landwirtschaftlicher Praxis" voraussetzen, d.h. man geht davon aus, daß zugelassene Pestizide in der niedrigsten Menge, die für einen wirksamen Pflanzenschutz notwendig ist, auch nur dann verwendet werden, wenn sie wirklich erforderlich sind. Wie bereits beschrieben, handelt es sich hierbei um einen äußerst willkürlich auslegbaren Fach-Codex, der aber von den zuständigen Behörden so interpretiert werden könnte, daß die Sikkation, d.h. die direkte Applikation von Pflanzenschutzmitteln auf Lebensmittel als ein Vorgriff auf natürliche Prozesse als durchaus "vermeidbar und nicht erforderlich" betrachtet wird.

Auf diese Weise würde in dem gesetzlichen Rahmen nicht nur das Thema, sondern auch die durchaus aktuelle, zugelassene Agrarpraxis im bewährten Sinn "daß nicht sein kann, was nicht sein darf" komplett ignoriert.

Die Entscheidung darüber, ob es im Rahmen guter Agrarpraxis für den Verbraucher zumutbar ist, Pflanzengifte auf fast fertige Agrarerzeugnisse zu sprühen, also zu sikkieren, wird auf diese Weise aus allen zuständigen Bereichen unausgesprochen erfolgreich verdrängt bzw. verlagert [s.o. "Zuständigkeit und Kontrolle"] und bleibt somit letztlich der Zulassungsbehörde überlassen, die das Risiko aufgrund der zumeist von der chemischen Industrie vorgelegten wissenschaftlichen Berichte und Versuchsprotokolle abschätzen muß.

Wie leicht in Forschungsberichten potentielle Gefahren übersehen werden können, weil sie nicht dem Forschungsauftrag entsprechen, hat sich in der Vergangenheit schon in den unterschiedlichsten Bereichen, in denen chemische Mittel zum Einsatz kommen, immer wieder gezeigt; die u.a. auch dann erst dazu geführt haben, daß gesetzliche Regelungen für den Verkehr mit Chemikalien geschaffen oder verschärft worden sind. In jeder neuen chemischen Substanz und unabhängig von ihrem Einsatzbereich lauert ein unverhersagbares potentielles Risiko für Mensch und Umwelt. Und das wird gewöhnlich erst dann mit Regelungen eingeschränkt, wenn eine Schädigung unübersehbar geworden ist.

Eins von zahlreichen Beispielen ist sicher der bekannte Fall des Schlafmittels Thalidomid (besser bekannt als Contergan), das anfänglich als völlig harmlos und gänzlich nebenwirkungsfrei galt, später jedoch mit schweren Mißbildungen in Verbindung gebracht werden mußte, wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt der Schwangerschaft eingenommen worden war.

Als die Gruppe der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (sogenannte "FCKWs") als ideale, inerte Treibgase (inert heißt: ohne Wirkung auf das Sprühgut) in Verkehr gebracht wurden, die keine Wechselwirkung zum wie auch immer gearteten Sprühgut zeigten, ließ sich auch nicht erahnen, das nur ein einziges Molekül davon ausreicht, um in der Troposphäre pausenlos Ozon zu zerstören, da es sich immer wieder selbst erneuert, also beinahe wie ein Zerstörungs-Katalysator wirkt.

Und selbst Benzol wurde noch viele Jahre nach seiner Entdeckung für ein so harmloses, aber effizientes Lösungsmittel gehalten, daß sich Chemiker damit die Hände wuschen. Erst viel später kam man darauf, daß es krebserregend ist.

Bis heute reißt die Kette der vermeintlichen "Wundermittel" nicht ab, die sich bei genauerer Betrachtung dann doch als wesentlich schädlicher erweisen als vorausgesagt. Das gilt auch im Falle der Pflanzenschutzmittel (s.u.).

Halten wir also fest: Die Sikkation scheint offensichtlich, wie bisher dargestellt, die Kontamination von Lebensmitteln mit einem nicht unerheblichen Anteil an Pflanzenschutzmitteln zu fördern, der ohnehin schon in Lebensmitteln recht groß ist.

Die einzige wirkliche Sicherheit, daß von chemischen Stoffen, die zwangsläufig mit der Nahrung aufgenommen werden müssen, keine Gefahr ausgehen kann, wäre demzufolge der komplette Verzicht auf ihre Anwendung. Im Falle des mit Sikkationsmitteln eingeleiteten künstlichen Welkprozesses, zumal vor dem Hintergrund einer europaweiten Ignoranz der Substanzen zu diesem Zweck, scheint eine solche Null-Lösung durchaus möglich zu sein


Sikkation Raps und Weizen, Ernte 2010, Gemarkung Kirchspiel Lunden, Schleswig Holstein

Die Bilder zeigen das gleiche Feld, einmal sikkiert, dann nach der Ernte, ein trauriger Anblick Die Bilder zeigen das gleiche Feld, einmal sikkiert, dann nach der Ernte, ein trauriger Anblick

Fahrspur Raps sikkiert, Aufnahme am 27. Juli 2010, 15:29 Uhr;
dasselbe Feld nach der Ernte, Aufnahme am 16. August 15:59 Uhr, rechts vorn die Wirkung der Herbizide.

Ein Weizenfeld vor der Sikkation, dann kurz vor dem Dreschen, kein grünes Hälmchen zeigt sich. Alles wirkt vertrocknet. Ein Weizenfeld vor der Sikkation, dann kurz vor dem Dreschen, kein grünes Hälmchen zeigt sich. Alles wirkt vertrocknet.

Fahrspur im Weizenfeld vor Sikkation. 28. Juli 2010, 15:30 Uhr und dieselbe Spur direkt vor dem Dreschen, 21. August 2010, 15:59 Uhr, in der Fahrspur ist der durch Herbizide völlig "un"krautfreie, sterile Boden zu sehen.

*

Teil 2

2. Forschung und Korrektur - Fallbeispiele

Haben wir bisher die Widersprüche betrachtet, die von den offiziell festgelegten toxikologischen Grenz- und Toleranzwerten, Höchst- bzw. Obergrenzen ausgehen, sollten wir nun einen kurzen Blick in den Forschungsbereich tun, aus dem diese Werte für die jeweiligen Stoffe normalerweise hervorgehen. Es geht darum, der Frage nachzugehen bzw. sich ein Bild davon zu verschaffen, wie sicher wissenschaftliche Einschätzungen sein können und ob sich damit letztlich überhaupt gesundheitliche bzw. toxikologische Gefährdungen ausschließen lassen.

Nun sorgt die Vielzahl zugelassener Pflanzenschutzmittel (die Schwarze Liste von Greenpeace nennt 1150 verwendete Pflanzenschutzmittel weltweit [7]) bzw. von in der Landwirtschaft zugelassener Agrarchemikalien, für eine an Ohnmacht grenzende Verwirrung bei den Verbrauchern, die mit der Bewertung unterschiedlicher Wirkmechanismen auf den pflanzlichen oder tierischen Stoffwechsel sowie der unterschiedlichen Toxizität einzelner Produkte schlicht überfordert sind. Und dies kommt durchaus den Werbestrategien der Chemieproduzenten entgegen, die ihre Produkte immer noch mit Attributen wie "biologisch abbaubar" oder "harmlos wie Kochsalz" auszeichnen. Wobei weder die eine noch die andere Behauptung in einer natürlichen Umgebung einer Überprüfung stand halten könnte, wie wir im folgenden sehen werden.

Abgesehen davon kann selbst harmloses Kochsalz in entsprechenden Konzentrationen oder bestimmten Applikationen durchaus toxisch wirken. Man denke nur an die osmotische Wirkung von Salzkonzentrationen, die die isotonische übersteigen, welche die Blutkörperchen schrumpeln läßt. Das klingt weit hergeholt, ist aber mit scheinbar oder nach wissenschaftlicher Einschätzung nur gering oder mittelmäßig toxischen Substanzen durchaus vergleichbar. Denn auch diese können in ihrer Wirkung durch ebenfalls geringfügige äußere Veränderungen, z.B. eine zusätzliche, an sich harmlose Hilfssubstanz, die gleichzeitig in der Herbizidrezeptur vorkommt, die man in die Umwelt freisetzt, oder andere hinzukommende äußere Einflüsse wie Luftfeuchtigkeit, Regen, Sonneneinwirkung u.ä., unverhältnismäßig stark modifiziert, d.h. verstärkt bzw. ins Negative verkehrt werden.

Letzteres ist bei Pflanzenschutzmitteln in der Regel bekannt und unter den Anwendungsbedingungen oder -empfehlungen verzeichnet. So sollen laut Hersteller

äußere Faktoren die Wirksamkeit von Basta vor allem während der Anwendung oder in der Phase unmittelbar danach verstärken beziehungsweise beschleunigen: hohe relative Luftfeuchte, hohe Temperaturen, intensive Lichteinstrahlung und heftiger Regen. [8]

Dagegen gilt Glyphosat bereits eine Stunde nach Anwendung als "regenfest".

Die Wechselwirkungen zu anderen chemischen Substanzen, auf die ein Pflanzenschutzmittel im Verlauf seiner Anwendung treffen kann, können noch deutlichere Unterschiede ausprägen. Nebenbei bemerkt, aber nicht unwesentlich für die Gesamtaussage, werden die für manche Herbizide notwendigen Hilfsstoffe, die in der Regel selbst eine dosisabhängige Toxizität besitzen, in keiner Weise in der zuständigen Rückstandsverordnung oder ihren Anlagen für die Rückstandhöchstwerte berücksichtigt. Sie werden bei der Einschätzung einer möglichen Gefährdung daher erst dann berücksichtigt, wenn sich deutliche synergistische Effekte mit dem Wirkstoff abzeichnen.

Die Substanz oder eine ihrer Abbauprodukte bzw. Metaboliten, die zufällig mit der Nahrung aufgenommen wird, kann aber allein schon im menschlichen oder tierischen Organismus auf unterschiedlichste Stoffwechselprodukte oder unvorhergesehen absichtlich eingenommene Substanzen wie Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine oder auch andere unabsichtlich zugeführte Stoffe wie Säuren (Tafelessig) bzw. weitere Rückstände aus anderen Lebensmitteln treffen, die ihre durch Laboruntersuchungen erwartete und nachgewiesene Harmlosigkeit ins Gegenteil verkehren können.

Auch die vermeintlich "biologische Abbaubarkeit" hält nicht immer das, was sie verspricht. Zwar werden manche Produkte durchaus in der Natur (z.B. durch Bodenorganismen) abgebaut und sind dann mit entsprechenden Identifikationsnachweisen nicht mehr auffindbar. Das dann entstandene Abbauprodukt ist aber häufig nicht wesentlich weniger toxisch oder kann sogar reversibel unter Umständen in das ursprüngliche Produkt zurückgewandelt werden, wenn es nur geringfügig verändert wurde.

Darüber hinaus kann es durch seine Umwandlung auch eine andere Form von Wirksamkeit auf Umwelt und Organismen erlangen, die ebenfalls nicht wünschenswert ist. So läßt sich denken, daß das eigentliche Toxin längst nicht mehr nachweisbar, der Stoff offiziell als "abgebaut" gelten, aber das ebenfalls toxische Abbauprodukt auf seine spezielle, oftmals nicht wahrgenommene oder berücksichtigte Weise wirksam bleiben kann.

Es ist in der Regel bei wissenschaftlichen Experimenten üblich, sie unter isolierten Bedingungen mit definierten Einzelsubstanzen auszuführen, die unter den wissenschaftlich wiederholbaren Bedingungen gezielt mit anderen Verbindungen zur Reaktion gebracht und die Wirkungen daraus beobachtet werden. Aus diesen isolierten Ergebnissen müssen dann sämtliche Voraussagen über das Verhalten eines freigesetzten Stoffes extrapoliert und übertragen werden. Damit ist die Wissenschaft gewöhnlich überfordert. Mit den Ergebnissen wird jedoch gemeinhin so umgegangen, als hätte man an alle Eventualitäten gedacht, und damit ein falscher Eindruck - auch bezüglich seiner Sicherheit für den Verbraucher - erweckt.

Aus Gründen wie diesen scheint es unerläßlich, nicht nur die beim Sikkieren eingesetzten und zugelassenen Giftstoffe, sondern auch ihre Abbauprodukte in und außerhalb der Pflanze, sowie ihre genaue Wirkung in der Pflanze zu verstehen, wenn man ihren möglichen Eintrag in Lebensmittel und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, überhaupt abschätzen will.

Dies im einzelnen zu verfolgen, scheint ein durchaus lohnendes Unterfangen, dem wir uns gerne widmen würden. Allerdings würde es den veranschlagten Umfang dieser Arbeit doch erheblich übersteigen, so daß wir es bei einigen Beispielen aus der Geschichte dieser Pflanzenschutzmittel belassen werden, die aber die eingangs geschilderte Unsicherheit über den Stand der Wissenschaft doch ausreichend deutlich werden lassen.

Dazu kommen weitere offene Fragen zum Thema Sikkation, denen wir im folgenden nachgehen werden:

Gibt es Untersuchungen darüber, die die Verteilung der Pflanzengifte in den Pflanzen belegen und eine Schädigung für den Verbraucher tatsächlich auch bei dieser besonderen Anwendung ausschließen können?

Und was könnte der zusätzliche Chemikalieneintrag in die Natur angesichts des ohnehin vermeintlich "notwendigen Einsatzes" an Agrarchemikalien weltweit in einem größeren Rahmen wie im einzelnen für Umwelt, Wasser und Ressourcen, Mensch und Tier bedeuten?

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2.1. Die Sikkationsmittel...

Die bekanntesten Sikkationsmittel sind Glyphosat (Hauptwirkstoff z.B. in Round up-Produkten), Glufosinat-Ammonium (Basta/Liberty Link), Deiquat oder Diquat (Reglone), Carfentzarone (Shark) und Pyroaflufen (Quickdown). Seltener werden Cyanamid (Alzodef) oder Cinidon-ethyl (Lotus) eingesetzt. Das schließt nicht aus, daß darüber hinaus weitere Produkte (möglicherweise im Ausland) eingesetzt werden und somit ebenfalls in hierzulande vertriebenen Lebensmitteln zu finden sind.

Alle diese Mittel sind, da es sich um chemische Mittel handelt, ab einer gewissen Dosierung toxisch und gesundheitsschädlich. Seit Paracelsus ('Alle Substanzen sind Gifte; es gibt keine, die kein Gift wäre. Allein die richtige Dosis unterscheidet das Gift vom Heilmittel' - 1493-1541) weiß man, daß es für beinahe jede Substanz (selbst für Zucker) eine tödliche Dosis gibt, wie auch in Abstufungen geringere Dosen mit mehr oder weniger reversibler gesundheitsschädigender Wirkung.

Daß diese kleineren Mengen durchaus über Pestizidrückstände in Nahrungsmitteln eingenommen werden können, und sich dieses Risiko durch Praktiken wie die Sikkation erhöht, haben wir längst festgestellt. Weder die Verordnung über Höchstgehalte von Pestizidrückständen in oder auf Lebensmitteln noch die von offizieller Stelle festgelegten Rückstandshöchstgehalte (MRL oder RHG) und tolerierbare Tagesdosen können verhindern, daß genau das passiert. Auch daß im Zuge der Sikkation die ohnehin fraglichen Werte [s.o.], zumindest aber die beiden jeweiligen toxikologischen Grenzwerte (d.h. den ADI und die ARfD) sehr viel schneller erreicht werden können, weil auf verschiedene Agrarerzeugnisse ein zusätzliches Mal im Jahr Herbizide appliziert werden, scheint außer Frage zu sein. Darüber hinaus erhöht natürlich jeder zusätzliche Herbizideinsatz in der Folge den Gesamteintrag von Pflanzenschutzmittelrückständen im Gesamtpool der Lebensmittel und somit für den Verbraucher die Wahrscheinlichkeit, daß sich bei einer vielseitigen Ernährung Rückstände von Pflanzenschutzmitteln der gleichen Art (z.B. von dem vielseitig eingesetzten Glyphosat) in seinem Organismus bis an die toxischen Grenzen addieren.

Da wir in den bereits dargestellten Widersprüchen zu diesem Problem feststellen mußten, daß Sikkation als zusätzliche Anwendung in den Verordnungen, Richtlinien und Gesetzen, die den möglichen Eintrag von PSM in Lebensmitteln regeln, gar nicht thematisiert oder wahrgenommen wird, wohl aber bei üblicherweise häufig sikkierten Lebensmitteln ein beträchtlicher Anstieg des jeweils ermittelten Rückstandshöchstwerts zu verzeichnen ist, könnte man vermuten bzw. schlußfolgern, daß die Einhaltung dieser Rückstandshöchstgehalte einfach durch die Anhebung des Wertes bei entsprechenden Funden in Lebensmitteln geregelt wird. Denn auch das gibt die hier nun schon häufig zitierte Verordnung (EG) Nr. 396/2005 in einem ihrer Eingangs angeführten Gründe vor:

(22) Rückstandshöchstgehalte für Pestizide sollen kontinuierlich überwacht und angepaßt werden, [...] [2]

Eine Übersicht der jeweils veröffentlichten LD50-Werte, d.h. Wirkstoffkonzentrationen, bei denen im Tierversuch 50% der Population nach der Gabe gestorben ist, zeigt allerdings eindrücklich, daß es sich bei diesen Mitteln durchaus um giftige Substanzen handelt, die auch z.B. in punkto Toxizität durchaus mit den 78 Stoffen vergleichbar sind, deren Rückstandsgehalte in Lebensmitteln im aktuellen EFSA Jahresbericht 2008 überprüft werden sollten.


Akute Toxizität von Sikkationsmitteln


Herbizid    


Wirkstoff    


LD50 Ratte      


LD50 Vogel


LC50 Forelle 


Roundup     

Glyphosat    
5.600          
>4.600   
86         

Basta

Glufosinat
2.000          
>2.000   
710         

Reglone

Diquat
230-440        


>100 in 96h 

Shark


Carfentzarone

>2.000         

>2.250   

16ppm = 0,016
  in 96h

Quickdown


Pyraflufen

4.238 (oral)    
>2.000 (dermal)  



6,59 in 96h


Alzodef

Cyanamid
125-300         


180 in 96h 

Lotus


Cinidon-ethyl

>2.000 (oral)   
>4.000 (dermal) 



39 in 96h 


- LD 50/LC 50 = Konzentration, bei der 50 % der Testorganismen abgestorben sind
- Alle Angaben beziehen sich auf mg/kg Körpergewicht (LD 50) bzw. mg/l Wasser (Umwelt LC 50)
  ppm = Parts per Million, 1ppm = ca 0,001 mg in 1000 ml bzw. 1 Liter
[Tabelle aus den Angaben der einzelnen aktuellen Sicherheitsdatenblättern, d.h. Angaben der Hersteller bzw. Zulassungsdaten zusammengestellt]

Diese Daten über die akute Toxizität, die aus Versuchsreihen mit Labortieren entnommen wurden, sind auch nur ein sehr grober Anhaltspunkt dafür, daß für den Menschen und andere höhere Organismen ein ähnliches Verhältnis von Toxin und Körpergewicht bestehen muß, das erheblich schädigend oder tödlich wirken kann.

Bekanntlich können Ratten viele Gifte in sehr viel höheren Dosen überleben als der Mensch. Während beispielsweise schon 200 mg/kg Cyanamid für ein Schwein tödlich sind, überleben 50% einer Rattenpopulation diese Menge. Darüber hinaus werden auch andere Gefahren, die von Chemikalien ausgehen können, wie die krebserregende, erbgutschädigende, hormonähnliche oder zu Mißbildungen in der Schwangerschaft führende Wirkung, die häufig sogar dosisunabhängig sind, mit diesen Zahlen nicht erfaßt. Ebensowenig individuelle Unterschiede bei Lebewesen, höheren Organismen einer Spezies.

Ebenfalls können die toxikologischen Werte nicht erklären, warum beispielsweise diese sieben Referenzsubstanzen für die Sikkation im EFSA-Jahresbericht 2008 keine Aufmerksamkeit finden. Sie sind nicht wesentlich weniger toxisch als andere Pestizide, die darin enthalten sind.

So wird dem in 21% aller Kartoffelproben gefundenen Chlorpropham, dem sich der fragliche Bericht mehrfach widmet (s.o."Zuständigkeit und Kontrolle"), eine mit den oben angegebenen Daten vergleichbare akute Toxizität von 5.000 - 7.000 mg/kg (Ratte) zugeschrieben. Die akute Toxizität der meisten hierzulande zugelassenen Sikkationsmittel, die auf das Kartoffelkraut gesprüht werden, wäre aber eindeutig größer als die von Chlorpropham, das EU-weit als brisant eingestuft wird.


2.2. ... ihre Eigenheiten und Unvorhersagbarkeiten

Auch die Frage, ob nicht manche Sikkationsmittel eher, schneller oder dauerhafter in potentielle Lebensmittel gelangen können als andere, muß man nach Prüfung ihrer Besonderheiten mit "ja" beantworten.

Alle für die Sikkation zugelassenen Pflanzenschutzmittel wirken auf unterschiedliche Weise auf den Stoffwechsel der Pflanze, den sie an verschiedenen Punkten stören oder unterbrechen, was in jedem Fall ein Absterben der Pflanze zur Folge hat. Dabei sollen manche Stoffe (sogenannte Kontaktherbizide wie Basta und Reglone) nur lokal, an der Stelle des Auftrags, also nicht "systemisch" in der ganzen Pflanze wirken. Systemisch bedeutet genauer gesagt, daß die Mittel an dem Punkt ihres Auftreffens in die Pflanze dringen, sich aber von dort über das Leitsystem in alle Bereiche verteilen. Bei dem viel verwendeten Glyphosat (besser bekannt als Round up in seinen verschiedenen Formulierungen bzw. mit Lösungsmitteln und Hilfsmitteln versehenen Handelsmischungen) ist genau das der Fall. Der Hersteller wirbt sogar mit dem Slogan: "Absolut wirksam bis in die Wurzelspitzen". [9]


2.2.1. Systemisch wirksame Herbizide

Gerade Glyphosat wird breit angewendet, d.h. abgesehen von Kartoffeln (dafür ist es nicht zugelassen) nimmt man es zur Sikkation von Getreide (Weizen), Erbsen, Bohnen (zur Futtergewinnung) Brassica- und Senf-Arten (z.B. Winter-, Sommerraps, Senf, ausgenommen zur Saatguterzeugung), sowie Lein (Öllein, Genehmigung nach Paragraph 18a). Die jeweiligen Feldfrüchte werden zwangsläufig mit Glyphosat kontaminiert. Denn das garantiert sogar der Hersteller: Es muß nicht einmal mit den Wurzeln aufgenommen werden, sondern dringt durch grüne Pflanzenteile in die Pflanze ein und verteilt sich von dort überall hin.

Erst wenn Welkerscheinungen und Nekrosen das Pflanzengewebe für Wasser und damit auch für wasserlösliche Nährstoffe und Wirkstoffe undurchdringbar machen, kann sich das wasserlösliche Glyphosat nicht mehr so gut verteilen. Möglicherweise empfiehlt aus diesem Grund der Hersteller die Anwendung erst bei einer bereits fortgeschrittenen Vorreife.

Die tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (ADI) ist mit 0,3 mg/kg Körpergewicht für Glyphosat ungewöhnlich hoch. Ein erwachsener Mensch (ca. 70 Kg) "darf" danach täglich 21mg Glyphosat konsumieren, ohne Schaden zu erleiden. Glyphosat kommt weltweit immer mehr zum Einsatz, vor allem, seit 1996 genetisch verändertes Saatgut wie glyphosatresistente Sojabohnen (Handelsname: Roundup Ready) von Monsanto eingeführt wurden, die dem Bauern erlauben, das gleichnamige Pflanzengift (Roundup) durchgängig während des Anbau- und Ernteprozesses einzusetzen. Das hat die weltweite Verbreitung des Herbizids erheblich gefördert, aber auch seinen Eintrag in Lebensmittel.

Wie schon zuvor erwähnt fällt auf, daß z.B. mit Glyphosat sikkierten Produkten wie Bohnen, Erbsen, Lupinen, Raps, Getreide wie Gerste, Hafer, Roggen und Weizen besonders hohe Rückstandshöchstgehalte in Anhang II und III der VO (EG) 396/2005 erlaubt werden. Wer viel "gesundes" Müsli (Hafer und Gerste RHG 20mg/kg) Brot (Roggen und Weizen RHG je 10 mg/kg), Hülsenfrüchte (Erbsen RHG 10, Bohnen 2 mg/kg) zu sich nimmt, kommt - auch wenn 1 kg Haferflocken pro Tag zunächst vielleicht undenkbar erscheinen - durch sikkierte Lebensmittel möglicherweise seinem tolerierbaren täglichen Grenzwert sehr schnell näher.

Und unter den oben beschriebenen Voraussetzungen einer schnellen systemischen Verteilung des wasserlöslichen Produkts in der Pflanze kann die Praxis des Sikkierens zu einem späten Zeitpunkt der Pflanzenreife, in der schon Getreidekörner ausgebildet sind, die Glyphosatkonzentrationen in Lebensmitteln wesentlich erhöhen.


2.2.2. Kontaktherbizide oder nur zum Teil systemisch?

Im Gegensatz zu Glyphosat gelten Glufosinat (Basta) und Diquat (Reglone) als Kontaktherbizide, die nur auf das Pflanzengrün (Blätter, Stengel) wirken sollen, und das auch nur an den Stellen, an denen sie auftreffen. Sie eignen sich demzufolge auch für das chemische Krautabbrennen oder die Krautabtötung von Kartoffeln, weil sie nicht in die Kartoffeln gelangen sollen, und werden dafür auch ubiquitär angewendet.

Allerdings läßt sich eine Kontamination des Bodens mit dem Herbizid durch das Aufsprühen nicht verhindern und damit wohl auch nicht der äußere, oberflächliche Kontakt mit der Kartoffel, z.B. während der Ernte!

Doch die Theorie der nicht-systemischen Wirkung läßt sich nur zum Teil bestätigen: Dafür daß Glufosinat in noch beachtlichen Mengen in der Gesamtpflanze wie der Feldfrucht zu finden ist, wurde eine Sonderkategorie eingeführt. Glufosinat wirkt "teilsystemisch". Es kann zwar schon über den Kontakt mit den grünen Teilen den Welkvorgang einleiten, kann aber auch dann noch tiefer in die Pflanze, somit also doch in die jeweilige Feldfrucht eindringen. Über seine Rückstandsverteilung in den verschiedenen Pflanzenteilen wurden schon Untersuchungen durchgeführt, wenn auch bei sogenannten "transgenen Pflanzen", d.h. Agrarpflanzen, die genetisch so verändert wurden, daß sie bei der Anwendung von Glufosinat nicht sofort absterben. Dieses "Besprühen des fast fertigen Agrarprodukts" trifft gleichfalls für die Sikkation zu, so daß die folgenden Funde einer Studie des Bayerisches Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (2002) durchaus auch auf sikkierte Produkte übertragbar sein müßte:

Verteilung der Rückstände in den verschiedenen Pflanzenteilen

Ungefähr 70-90% des auf die transgenen Pflanzen aufgebrachten Herbizids gehen im Laufe der Vegetationsperiode durch Regen und abgefallene Blätter wieder verloren. Zur Ernte wurden die höchsten Rückstandsgehalte in den behandelten Blättern (4-15% der verabreichten Menge), die niedrigsten in Maiskörnern bzw. Rapssamen (0,1 - 0,6%) nachgewiesen. [10]

Da auch für Glufosinat-Ammonium die Rückstandshöchstgehalte in Agrarerzeugnissen, die damit sikkiert werden, auffällig hoch eingestuft werden (Raps darf 5 mg/kg, Bohnen (ohne Hülsen) 2 mg/kg davon enthalten), müssen zweifellos auf diesem Weg, also auch durch Sikkation, applizierte Pflanzenschutzmittel in die Lebensmittel gelangen. Im umgekehrten Fall würde ein Verzicht auf diese Praxis Lebensmittel erheblich entlasten.


2.2.3. Unsicherheiten in Toxizität und Wirkung - Synergistische, kumulative und unvorhersagbare bzw. pleiotrope Effekte

Bei zwei der hier besprochenen Pflanzenschutzmittel mußte im Verlauf ihrer Geschichte die anfängliche Einschätzung ihrer Toxizität erheblich korrigiert werden. Das kann passieren, wenn von vornherein eine niedrige Toxizität vorausgesagt und erwartet wird. Die positive Erwartungshaltung - in der Wissenschaft oft als "Bias" bezeichnet und somit ein bekanntes Phänomen - läßt Wissenschaftler die Versuchsergebnisse oft in dem vorhergesagten Sinne interpretieren oder gar durch eine entsprechende Versuchsanordnung überhaupt erst hervorrufen. Und davor ist genaugenommen niemand gefeit - umso weniger Forschungsprojekte, die von Wirtschaftsunternehmen finanziert werden.

Auf diese Weise wurden in der Vergangenheit in verschiedenen, bereits etablierten Pflanzenschutzmitteln toxische, synergistische, umweltrelevante, kumulative oder pleiotrope Effekte mehr oder weniger absichtlich übersehen, die sich erst im Verlauf ihrer Anwendung, oder wenn erste Schäden sichtbar werden, zeigten.

In den beiden Beispielen, es handelt sich um Glufosinat und Glyphosat, wurde die höhere Giftwirkung erst viel später deutlich und wurde letztlich auf die in der handelsüblichen Formulierung (Zusammensetzung aus Wirk- und Hilfsstoffen) zusätzlich verwendeten, aber nicht toxikologisch berücksichtigten Hilfsstoffe zurückgeführt.


2.2.3.1. Glufosinat-Ammonium (Basta/Liberty Link) - Fallstudie 1

Glufosinat-Ammonium bzw. D,L-Phosphinotricin wurde ursprünglich als Antibiotikum aus Strahlenpilzen isoliert und ist strenggenommen ein Naturprodukt. Seine pharmazeutische Wirkung war nicht so überzeugend, seine Anwendung als Herbizid dagegen vielversprechender, da es auch auf die Biosynthese von L-Glutamin in Pflanzen wirkt, bei der normalerweise Nitrate (NO3-) in Ammoniumionen (NH4+) umgewandelt werden, die dann in Form von Glutamin in den Zellen gebunden werden. Glufosinat behindert die pflanzeneigene Ammoniumentgiftung, indem es das Enzym Glutamin-Synthetase hemmt. Blätter verätzen durch die zunehmende Ammoniakkonzentration in den Zellen, die wie ein Zellgift wirkt. Zudem fehlt Glutamin für zahlreiche Stoffwechselprozesse. Die Pflanze stirbt. Der "Naturstoff" sollte erwartungsgemäß nicht nur sehr schnell wirken, sondern zudem umweltfreundlich d.h. schnell biologisch abbaubar und wenig toxisch für alle Boden- und Wasserorganismen sein, die damit in Kontakt kommen.

Möglicherweise hat dies dazu geführt, daß das Mittel auch von vornherein in seiner Toxizität bei höheren Lebewesen unterschätzt wurde. So konnte der Hersteller bis heute viele von der Gefahrlosigkeit des Mittels überzeugen wie z.B. heute noch auf der Webseite "Genetic-Diner" nachzulesen ist:

Toxikologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Glyphosat und Glufosinat für Mensch und Tier unschädlich ist (Malik et. al, 1989). Die akute orale Toxizität (unmittelbare Giftigkeit bei Einnahme via Mund) liegt etwa im Bereich von Kochsalz. Versuche zur chronischen Toxizität, die sich über zwei Jahre erstreckten, zeigten keinen Effekt. Mutagenität und Teratogenität (Schädigung des Erbguts bzw. des ungeborenen Lebens) wurden ebenfalls ohne negatives Ergebnis untersucht. [11]

Warum sich das Gerücht bis heute halten konnte, obwohl Glufosinat- Präparate laut ihrer Zulassung längst mit dem Kürzel Xn (dem Code für "gesundheitsschädlich") gekennzeichnet werden müssen, ist schleierhaft.

Tatsächlich wurde schon im Jahr seiner Zulassung 1984 klar, daß das Herbizid, also das gesamte Konzept aus Wirk- und Zusatzsstoffen, erheblich schädlicher auf Mensch und Umwelt wirkt als der reine Wirkstoff. Uneinigkeit über die Toxizität von Glufosinat (der Wirkstoff) oder Basta und Ignite (beides handelsübliche Formulierungen) auf den Wasserfloh (Daphnia magna) und Verwechslungen bei der Zuordnung der Ergebnisse führten anfangs zu einer sehr viel geringeren Einstufung der Toxizität.

Dies wird in einem Artikel des Gen-ethischen Netzwerks (GID 133), "Das schwarze Jahr von LibertyLink" [12] sehr deutlich dokumentiert:

Die errechneten LC50-Durchschnittswerte von 668 mg/l (Fischer 1983, zitiert in EPA 1984b) bzw. 80 mg/l (Fischer 1982, zitiert in EPA 1984a) entsprechen den von Dorn et al. (1992) genannten recht gut. Nur bezeichnen diese Werte bei Dorn et al. nicht die LC50-, sondern die EC50-Konzentrationen! Bekanntermaßen liegen EC50-Werte weit unterhalb der LC50-Werte. Es ist wahrscheinlich, daß Basta nach der internen Hoechst-Studie als erheblich toxischer für Wasserflöhe eingestuft werden muß, als dies Dorn et al. (1992) in ihrer deutschsprachigen Publikation nahelegen. [12]

Dennoch mußten auch noch Jahre danach toxikologische Untersuchungen immer wieder korrigiert werden:

1992, acht Jahre nach der Erstzulassung von Basta und in Vorbereitung der Freisetzungsversuche in der BRD, legten Hoechster Wissenschaftler in einer umfassenden Darstellung Eigenschaften von Basta und Glufosinat aus bis dato geheimen Untersuchungen offen (Dorn et al. 1992). Zum Einfluß auf landwirtschaftlich nützliche Kleinlebewesen in Agrarökosystemen schrieben sie: "Basta wurde an zahlreichen Nützlingen im Labor und im Halbfreiland geprüft. Auf nicht bewachsenen Böden wurde lediglich bei Spinnen eine Mortalität gegenüber Basta gefunden, während auf bewachsenen Böden bei keinem der geprüften Nutzarthropoden [Arthropoden = Gliedertiere, die Red.] signifikante toxikologische Effekte auftraten (Bock 1991).[12]

Den firmeninternen Wissenschaftlern zufolge waren weitere Freilandversuche nicht notwendig. Basta wurde von der BBA als "nicht milbenschädigend" eingestuft, obwohl schon ein Jahr zuvor ein europäisches Forschungsteam, an dem u.a. auch die BBA beteiligt war, zu ganz anderen Ergebnissen gekommen war:

Sie belegten, daß Basta in Laborversuchen im Gegensatz zu 19 bis dato untersuchten Herbiziden einen hochtoxischen Effekt auf drei Raubmilbenarten ausübt und sie zu einhundert Prozent abtötet (Amblyseius potentillae [= A. anderson], Phytoseiulus persimilis, Typhlodromus pyri) (Hassan et al. 1991). Die Autoren konnten ebenfalls eine als mäßig giftig eingestufte Wirkung auf die Sackspinne Chiracanthium mildei belegen (80-99prozentige Abtötung).[12]

14 Jahre nach Markteinführung von Basta sah die Datenerhebung zur Ökotoxikologie schließlich noch einmal ganz anders und offenbar etwas vollständiger aus:

Seit 1998 wird Basta offiziell von der BBA als schädigend auf nützliche Spinnen eingestuft, als Testorganismus wird die Zwergnetzspinne Erigone atra genannt (BBA 1998a).[12]

Das führte dazu, daß koreanische Wissenschaftler sogar ernsthaft über eine Zulassung von Basta als Antimilbenmittel nachdachten. Die Geschichte war damit noch nicht zuende und wird sehr anschaulich in diesem Bericht geschildert, so daß sich bei Interesse die vollständige Lektüre des Artikels GID 133, "Das schwarze Jahr von LibertyLink" des Gen-ethischen Netzwerks [12] lohnt.

In einem 2001 erschienen Aufsatz von Topsy Jewell und David Buffin (Pesticides Action Network, UK) für "Friends of the Earth", Health and environmental impacts of glufosinate-ammonium wird allerdings auch schon von einer Wirkung auf höhere Organismen, genauer Neurotoxizität, wie auch embryonalen Wachstumsstörungen gesprochen:

However, the studies outlined in this report demonstrate that it is a neurotoxin and can cause serious damage to growing foetuses in experimental animals; it may leach to drinking water sources; it could increase nitrate leaching; and is toxic to beneficial soil micro-organisms.

[Die Untersuchungen, die in diesem Bericht zusammengefaßt werden, zeigen deutlich, daß es sich um ein Neurotoxin handelt, und bei Versuchstieren zu ernsthaften Schädigungen von Föten führen kann. Möglicherweise gelangt es in Trinkwasserreservoirs und fördert die Freisetzung von Nitraten. Darüber hinaus vergiftet es nützliche Bodenorganismen. Übersetz. SB-Red.] [13]

In einer 2005 herausgegebenen Pressemitteilung der Europäischen Lebensmittelsicherheits-Behörde EFSA (European Food Safety Authority) wurde die offenbar immer noch angenommene Harmlosigkeit des Mittels schlußendlich, wenn auch noch recht vorsichtig, in Frage gestellt:

Die Vorstellung des Aufgabenbereichs der PRAPeR-Arbeitsgruppe auf der EFSA-Website umfasst die Schlussfolgerungen der ersten sechs bis heute durchgeführten Risikobewertungen von Pflanzenschutzmitteln sowie Begleitdokumente, wie zum Beispiel die ursprüngliche Risikobewertung des benannten Mitgliedstaates und die Peer Review-Dokumentation. Einer der Berichte betrifft die Evaluierung des Wirkstoffes Glufosinat. Die Schlussfolgerungen der Experten der Mitgliedstaaten machen deutlich, dass es Anzeichen für ein Risiko im Hinblick auf mögliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier sowie auf die Umwelt gibt. [14]

Warum eine nur geringe Toxizität bei diesem Herbizid erwartet wurde, das mit einer ADI von 0,021 mg/kg Körpergewicht bei den Sikkationsmitteln als eines der am wenigsten tolerierbaren zählt, läßt sich schwer nachvollziehen. Schon die chemische Struktur des Glufosinat erinnert an die körpereigene Aminosäure Glutamin, der u.a. auch eine gewisse Funktion bei der Reizleitung von Nervenimpulsen zugesprochen wird. Darüber hinaus hemmt es das Enzym Glutamin Synthetase, das ebenfalls in höheren Organismen einschließlich des Menschen gefunden wird.

Strukturformel (D- und L-Form) von Glutamin

Strukturformel (D- und L-Form) von Glutamin

Strukturformeln von D,L-Glutamin und D,L-Phosphinotricin bzw. Glufosinat (Bast/Liberty Link) - die Ähnlichkeit zu Glutamin ist unübersehbar

Strukturformel (D- und L-Form) von D,L-Phosphinotricin, Glufosinat (Basta, LibertyLink) - die Ähnlichkeit zu Glutamin ist unübersehbar.

Und diese Zusammenhänge wurden bereits 1996 u.a. von Caroline Cox vermutet und in einem Vorwort des "Journal of Pesticide Reform", beschrieben:

- Glufosinate is a new broad-spectrum herbicide whose use is expected to increase rapidly in the near future. It kills plants by inhibiting the enzyme glutamine synthetase, an enzyme also found in animals including humans.

[Glufosinat ist ein neues Breitbandherbizid, von dessen sprunghaftem Anstieg in der Nutzung schon in nächster Zukunft ausgegangen werden muß. Es tötet Pflanzen, indem es das Enzym Glutamin-Synthetase hemmt, ein Enzym, das auch bei Tieren und Menschen vorkommt]

- Glufosinate chemically resembles glutamine, a molecule used to transmit nerve impulses in the brain. Neurotoxic symptoms observed in laboratory animals following ingestion, dermal exposure, or inhalation of glufosinate include convulsions, diarrhea, aggressiveness, and disequilibrium.

[Glufosinat ähnelt chemisch Glutamin, einem Molekül, das dazu gebraucht wird, Nervenimpulse zum Gehirn zu leiten. Bei Labortieren konnten bereits neurotoxische Symptome nach oraler Einnahme, Inhalation oder mittels Hautkontakt beobachtet werden, die u.a. von Krämpfen, Durchfällen, erhöhter Aggressivität und Gleichgewichtsstörungen begleitet wurden. Übersetz. d. SB-Red.] [15]


2.2.3.2. Wechselwirkung mit den Hilfsstoffen - Synergistische Effekte

Ein Teil dieser Fehleinschätzung in Bezug auf die Toxizität ist, wie bereits erwähnt, den für die Anwendung von Glufosinat notwendigen Hilfsmitteln für die Herbizidformulierung geschuldet. Dabei handelt es sich im Falle von Glufosinat um einen ganz normalen Lösungsvermittler zwischen Fett und Wasser, d.h. ein gewöhnliches Tensid (das auch in Spülmitteln und Shampoos zur Anwendung kommt). Die sogenannten Fettalkoholethersulfate, so die nähere Bezeichnung der hierfür eingesetzten Substanzgruppe, setzen dabei auch die Oberflächenspannung des Wassers herab, so daß eine größere Benetzung z.B. der Blattoberfläche mit dem wasserlöslichen Mittel erreicht werden kann. So kann das in diesem Tensid/Wassergemisch gelöste Herbizid schneller in das Blatt eindringen. Ebenso kann es auch die Lipidschicht der menschlichen Haut leichter durchdringen bzw. in Verbindung mit dem Tensid, das den Wirkstoff sowohl fett- als auch wasserlöslich macht, tiefer und schneller in tierische Organismen eindringen, was seine Toxizität insgesamt erhöht.

Allein die Eigenschaft, die Oberflächenspannung des Wassers herabzusetzen, macht das Tensid/Wassergemisch für manche Organismen toxisch. Denn das "aufgeweichte" Wasser kann selbst in die haarfeinen Tracheen (die Atmungsorgane) der Insekten eindringen, die normalerweise für "runde, also gespannte" Wassertropfen unpassierbar sind. Die Insekten ertrinken ganz einfach. Ist aber wie in diesem speziellen Fall noch ein wasserlöslicher Wirkstoff vorhanden, erhöht sich die Toxizität beider Stoffe gegenseitig. Man spricht dann normalerweise von einem synergistischen Effekt.

Fettalkoholethersulfate gehören laut ihrem EG Sicherheitsdatenblatt schon zur Wassergefährdungsklasse 2 (2 ist der Code für mäßige Gefahr, 3 = große Gefahr, 4 = sehr große Gefahr). Sie gelten darüber hinaus als fischtoxisch.

Noch um einiges gesundheitsgefährdender schätzt man jedoch eine weitere Hilfssubstanz für Glufosinat-Herbizide, das sogenannte 1- Methoxy-2-Propanol oder auch Alpha-Propylenglykolmonomethylether, kurz: Alpha-PGME ein. Es wirkt ebenfalls als Lösungsvermittler und wird seine Gefährlichkeit betreffend sogar auf 3 (große Gefahr) eingestuft. Das Mittel ist stark reizend bis ätzend und kann entsprechend entzündliche Erscheinungen auf der Haut oder beim Einatmen in der Lunge verursachen. Seine ADI wird mit einer Spannbreite von 0,005 bis 0,45 mg/kg durch die Haut angegeben. Das erschwert zusätzlich seine tatsächliche Einschätzung, könnte aber ein Hinweis darauf sein, daß man den Stoff immer im Zusammenhang mit anderen Wirkstoffen betrachten muß.

Die akute Toxizität ist im Tierversuch zwar geringer als die des Wirkstoffs (LD50-Wert: Oral, Maus: 11.700 mg/kg. Oral, Kaninchen: 5.700 mg/kg. Oral, Ratte: 6.600 mg/kg, Dermal, Kaninchen: 13 g/kg, LC50-Wert: Einatmen, Ratte: LC50 = 10.000 ppm/5 h), ebenso die Toxizität für Wasserorganismen. In ihrer Kombination verstärken sich die gewollten Nutzeffekte allerdings offenbar ebenso wie die Negativeffekte.

Noch einmal sei an dieser Stelle angemerkt: Lebensmittel werden gemeinhin nicht auf Rückstände von Hilfs- oder Zusatzstoffen überprüft. Es gibt für diese auch keine festgelegten Grenzwerte (RHG- Werte). Die mögliche synergistische Wirkung von Hilfs- und Wirkstoffen wird in Lebensmitteln gemeinhin nicht wahrgenommen, es sei denn, man würde durch akute Vergiftungsvorfälle darauf aufmerksam.

Dies scheint gerade bei einem weiteren, ebenfalls zur Sikkation zugelassenen Wirkstoff der Fall zu sein, dem Glyphosat. Für das weltweit zunehmend verwendete Herbizid (das vor allem bei genetisch verändertem Saatgut in noch nie dagewesenen Mengen, teilweise dreimal pro Wachstumszyklus, versprüht wird) mehren sich seit über einem Jahr die Hinweise auf einen ähnlichen synergistischen Effekt mit einem darin enthaltenen Zusatzstoff.

Nun galt Glyphosat zur Zeit seiner Einführung auf dem Pflanzenschutzmittelmarkt als absolut unbedenklich. "Harmlos wie Kochsalz und in der Umwelt sehr schnell abgebaut" waren die wesentlichen Attribute, mit denen der Hersteller für sein Produkt warb, was sich darauf gründete, daß es nur einen ganz bestimmten Stoffwechselweg angreifen sollte, den sogenannten "Shikimisäureweg", der ausschließlich in Pflanzen zu finden ist. Dabei wird die Biosynthese von aromatischen Aminosäuren bzw. der Phenylanalinproduktion innerhalb des Phenolstoffwechsels von höheren Pflanzen gehemmt. Das Mittel sollte demnach selbst für tierische Organismen überhaupt nicht giftig sein, so daß man es bedenkenlos versprühen durfte.

Es gibt allerdings auch präzisere Einschätzungen, die diese Aussage relativieren. In einer wissenschaftlichen Studie über das Verhalten von Glyphosat in der Umwelt des Agrarökologen Günter Henkelmann wird der Wirkungskreis schon genauer spezifiziert:

Höhere Pflanzen zeigen eine stärkere Wirkung als Niedere. Mikroorganismen werden weniger geschädigt als Pflanzen. Roslychy et al. (1982) beschreibt aber dennoch die Schädigung von Mikroorganismen ab etwa 1mg Wirkstoff pro Gramm Boden. Pilze zeigten keinerlei Reaktion. [16]

Seit aber der argentinische Embryologe Professor Andrés Carrasco eine Studie über die embryonenschädigende Wirkung von Glyphosat veröffentlicht hat, denkt man anders darüber.

Anfang 2009 hatte bereits Prof. Gilles Seralini und sein Team von der Universität Caen eine Studie [17] veröffentlicht, bei der geringe Mengen von Roundup zum Absterben menschlicher Zellkulturen führten, wobei hier die noch geheim gehaltenen Beimengungen zum Wirkstoff Glyphosat eine wesentliche Rolle zu spielen schienen. Seralini kommt zu dem Schluß, daß diese Mischung bereits in den Dosen, wie sie typischerweise als Rückstand in mit Round up behandelten Gentechnikpflanzen (die das Herbizid überleben) und somit in menschlicher oder Tiernahrung zu erwarten sind, zu Zellschädigungen führt.

Carrasco konnte sogar noch drastischere Schädigungen dokumentieren, die er ebenfalls auf glyphosathaltige Herbizide zurückführt. Der Nachrichtenagentur IPS zufolge hat Professor Carrasco, Leiter des Instituts für molekulare Embryologie der Universität von Buenos Aires, und zudem Präsident des argentinischen Nationalrats für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) Befürchtungen bestätigt, daß Glyphosat nicht nur bei Experimenten mit Amphibien, sondern auch bei Menschen zu Embryonalschäden führen könne. Carrasco berichtet in seiner Studie von verkleinerten Köpfen genetische Zell- Veränderungen im zentralen Nervensystem und deformierten Knochen und Knorpeln als regelmäßige und systematische Folgen von Glyphosat. Der Professor nimmt an, daß mit ähnlichen Effekten auch bei einer entsprechenden Kontamination von Menschen zu rechnen ist.

In einer Stellungnahme des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) vom 1. Juni 2010 heißt es dazu:

In den vergangenen zwei Jahren häufen sich Berichte über toxikologische Effekte bei Glyphosat-haltigen Pflanzenschutzmitteln. Dabei erhärtete sich schnell der Verdacht, dass diese Effekte nicht auf den Wirkstoff Glyphosat, sondern auf einen Beistoff, die POE-Tallowamine (polyethoxylierte Alkylamine) zurückzuführen sind.

[...]

Auf der Grundlage der von den Antragstellern vorgelegten Information aus Studien und aus publizierten Daten hat das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) im Frühjahr 2010 eine Bewertung vorgelegt und die toxikologischen Grenzwerte ADI, ARfD und AOEL in Höhe von je 0,1 mg/kg Körpergewicht (KGW) abgeleitet. [18]

Die Unvermeidbarkeit einer Gefährdung durch POE-Tallowamin-Rückstände, die hiernach ebenfalls in Lebensmitteln zu finden sein müßten und zu der in dieser Pressemitteilung Stellung genommen wird, verdient besondere Beachtung. Denn sie bestätigt möglicherweise den in dieser Arbeit bereits geäußerten Verdacht, daß die EU- Rückstandsverordnung VO(EG) 396/2005 wie auch ihre Anhänge nicht umsonst Angaben zu Hilfsmitteln schuldig bleiben. Die möglichen Folgen für den Verbraucher lassen sich dadurch wesentlich positiver darstellen:

Aufgrund fehlender Angaben zum Rückstandsverhalten von POE- Tallowaminen hat das BfR die mit der Nahrung aufgenommenen Rückstandsmengen abgeschätzt.

Das BfR geht dabei davon aus, dass in Lebens- und Futtermitteln die Rückstände von POE-Tallowaminen im selben Verhältnis zu Glyphosat stehen wie im Pflanzenschutzmittel. Die Aufnahme der so ermittelten Mengen stellt für den Verbraucher kein akutes oder längerfristiges Risiko dar. [18]

Wir erinnern uns an dieser Stelle vielleicht, daß die erlaubten Rückstandswerte (und damit vermutlich auch die üblicherweise in der gängigen Praxis aufzufindenden Durchschnittswerte) von Glyphosat ganz besonders hoch waren (bis zu 20mg/kg Gerste und Hafer), so daß auch das Überschreiten der neuen ADI-Werte von 0,1 mg/kg bzw. 7,0mg/70kg bei einer Vorliebe für Getreide nicht so unmöglich scheint, selbst wenn das Verhältnis von polyethoxyliertem Alkylamin (POEA) zu Glyphosat unterhalb von 1:1 sein sollte. Dabei ist es auch nicht erwiesen, daß sich POEA nicht stärker als Glyphosat z.B. in den fetthaltigen Samen ansammeln könnte, da auch das BfR nur von Vermutungen und Spekulationen, nicht von realen Laborwerten ausgeht. Offensichtlich besteht auch hier eine wesentliche noch nicht wissenschaftlich ausgeräumte Unsicherheit in der toxischen Einschätzung.

Auffällig ist jedoch, daß selbst an dieser Stelle, trotz ganz eindeutiger wirkungsverstärkender Wechselwirkungen zwischen Beistoff und Wirkstoff, was die erwähnten zunehmend dokumentierten "toxikologischen Effekte" betrifft, nicht von synergistischen Effekten gesprochen wird. D.h. trotz besserer Erkenntnis versucht man von seiten der zuständigen öffentlichen Einrichtungen das Problem nach wie vor zu verschleiern und gibt vor, es mit der Korrektur von toxikologischen Daten aus der Welt geschafft zu haben.


*


Die Liste ähnlich unvorhergesehener Effekte mit gemeinhin unterschlagenen Bei-, Zusatz- oder Hilfsstoffen ließe sich noch endlos fortsetzen. Häufiger aber werden Hilfstoffe zu den bekannten, handelsüblichen Formulierungen zugesetzt, die auch in dieser definierten Mischung von den zuständigen Institutionen zugelassen wurden, ohne auf synergistische Effekte untersucht worden zu sein. Bei anderen handelsüblichen Herbizid-Formulierungen anderer Wirkstoffe, sind schon die Wirkstoffe so toxisch, daß ein ebenfalls toxischer Begleitstoff weniger ins Gewicht zu fallen scheint (so z.B. Pyridin als Hilfsstoff in Reglone (Diquat)). Es müssen offensichtlich erst unvorhergesehene Wirkungen augenfällig werden, um die möglichen Zusammenhänge näher zu prüfen.

Während aber gesundheitliche Konsequenzen zumindest nach einigen Jahren zutage treten, werden die ebenfalls nicht unerheblichen Umwelt-Effekte, die den Verbraucher nicht direkt-, sondern "nur" das Ökosystem oder seine Ressourcen betreffen, noch seltener bemerkt. Doch selbst die vermeintlich leichte biologische Abbaubarkeit, die viele modernere Herbizide zu Marktschlagern werden lassen, müssen bei einem genaueren Einblick in die umweltchemischen Gegebenheiten häufiger revidiert werden.

So wirkt sich beispielsweise allein die in sämtlichen Fällen (selbst bei Glyphosat) nachweisliche Toxizität für Bodenorganismen (einfache Bakterien bis zu Insekten und Regenwürmern), die einfach in Kauf genommen wird, verheerend auf den Zustand der Böden aus. Alle Bodenorganismen spielen eine wichtige Rolle bei der Humusbildung, der Mineralisierung sowie der Freisetzung von Nährstoffen an Boden bzw. die darauf wachsenden Pflanzen. Durch die chemische Veränderung des Bodens werden z.B. möglicherweise herbizidabbauende Bodenorganismen in viel stärkerem Maß konzentriert, als es für ein natürliches Ökosystem erforderlich bzw. normal wäre. Nun könnte man sagen, daß durch den Bedarf an Düngemitteln und anderer Agrarchemie zur Aufrechterhaltung des Ertrags in der Landwirtschaft ohnehin nicht mehr von natürlichen Bodenbedingungen ausgegangen werden darf. Das ist wohl wahr. Das geruchsintensive Ergebnis spricht wortwörtlich für sich: es stinkt zum Himmel.

Für den Fall der Sikkation, also eines weiteren, möglicherweise verzichtbaren Eintrags von Herbiziden, ist es jedoch wichtig zu bedenken, daß damit alle unerwünschten Veränderungen, die diese Pflanzenschutzmittel bekanntermaßen schon in der Natur bewirken und von denen wohl die meisten noch gar nicht wissenschaftlich erfaßt werden konnten, weil die Gesundheit des Bodens in der Wissenschaft nur einen nachrangigen Stellenwert hat, zusätzlich vorangetrieben werden.

Auch hier sollen nur einige wenige Beispiele das Problem verdeutlichen. Die Diskrepanz zwischen ursprünglicher und von den jeweiligen Herstellern geschürter Erwartung und dem, was sich nach Herbizidapplikation in der Kette von Reaktionen mit dem unmittelbaren Umfeld zwischen Mineralisation und Nahrungskette tatsächlich abspielt, gäbe naheliegenderweise noch sehr viel mehr Stoff zum Nachdenken:


2.2.4. Unvorhergesehene Auswirkungen auf Umwelt und Ressourcen - Fallstudie 2

Die Halbwertzeit im Boden wurde für Glyphosat mit "nur" 38 bis 60 Tagen angegeben. Das ist nicht einmal besonders schnell. Dem zuvor besprochenen Glufosinat (z.B. in Basta) wird sogar eine Halbwertszeit von nur 3 bis 10 Tagen vom Hersteller zugesagt.

Halbwertzeit (DT 50) bedeutet aber nicht, wie man denken könnte, daß 50 % des Herbizides tatsächlich in spätestens 60 Tagen abgebaut und damit aus der Pflanze oder dem Erdreich verschwunden sind. Sie gibt vielmehr an, daß 50% des Wirkstoffs in einen Metaboliten (ein Abbauprodukt) umgewandelt worden sind, der dann einfach nur die Stelle des Herbizids einnimmt. Anders gesagt sind auch dann immer noch 100% Fremdstoffe im Boden bzw. in der Natur zu finden, nur 50% davon in einer anderen, vermeintlich harmloseren Form, deren Wirkung auf Umwelt und Umgebung oftmals viel weniger ernst genommen wird, als die des Wirkstoffs selbst.

Darüber hinaus soll Glyphosat laut Hersteller angeblich auch nicht, wie manch andere Umweltgifte, im Organismus von Lebewesen akkumulieren (fachsprachlich = gespeichert werden), sondern, da es wasserlöslich ist, schnell über die Niere ausgeschieden werden. Damit wird das Problem der Toxizität weiter auf die Umwelt verlagert (Abwasserentsorgung, Eintrag in Fließgewässer usw.) und kehrt auf anderem Weg, möglicherweise über das Wasser, z.B. auch das Trinkwasser, zum Verbraucher zurück, was im Falle seines Hauptabbauprodukts bzw. Hauptmetaboliten nicht so unerheblich ist wie es von wissenschaftlicher oder institutioneller Seite (BVL, BfR usw), wenn überhaupt, dargestellt wird:

In der Literatur wird AMPA als kaum giftig gegenüber Organismen beschrieben, die nicht das Ziel der Anwendung dieser Mittel sind. Die Akkumulationsrate ist gering, da Glyphosat wasserlöslich ist, und vom aufnehmenden Organismus schneller wieder ausgeschieden werden kann. [19]

Wie im weiteren Verlauf dieser Studie zum Hauptmetaboliten des Glyphosat, "Quellen der Belastung von Oberflächengewässern durch das Metabolit AMPA (aminomethylphosphonic acid) und seine mögliche Wirkung", von Dr. Georg Gellert zu entnehmen ist [deutsch: Aminomethylphosphonsäure] werden darin allerdings auch weitere Bedenken nicht mehr ganz ausgeschlossen:

e) Toxikologische Daten zu AMPA liegen beim Umweltbundesamt vor. Toxikologisch scheint AMPA weniger bedeutsam zu sein. Allerdings steht AMPA im Verdacht (Umweltstiftung WWF-Deutschland) für höher entwickelte Organismen eine hormonähnliche Wirkung auszuüben. Zunächst sollen alle vorliegenden toxikologische Daten gesammelt werden, bevor neue Untersuchungen veranlasst werden. [19]

Das Problem wird auf diese Weise in die Grauzone der Fließgewässer verschoben, in der es schon zahlreiche andere hormonähnlich wirksame Umweltschadstoffeinträge, z.B. aus den Abwässern der Haushalte (Medikamente wie Kontrazeptiva, bestimmte Tenside oder Weichmacher wurden zu diesem Thema bereits in den Medien diskutiert) gibt, so daß sich die Zunahme von amphibischen Zwitterwesen, die man derzeit schon feststellen kann, nicht mehr ursächlich auf z.B. eine Sikkation mit Glyphosat zurückführen läßt. Allerdings kann man festhalten, daß jede zusätzliche Anwendung von Glyphosat auch zu dieser wenig wünschenswerten Entwicklung beiträgt.

Ebenfalls bedenkenswert ist das Gerücht, daß Glyphosat sehr stark von den Bestandteilen des Bodens absorbiert wird und somit gar nicht erst in Fließgewässer geraten kann. Diese Aussage läßt sich allein durch die gute Wasserlöslichkeit des Mittels ad adsurdum führen. Nicht gesagt wird allerdings, daß seine Bindung an Bodenbestandteile somit allein von der Bindungsfähigkeit (Adsorbtionsfähigkeit) des Bodens abhängt, und die kann sich durch große agrarchemische Belastung erheblich verändern:

Glyphosat hat eine große Affinität zu Schwebstoffen, so dass schon aufgrund dieser Eigenschaft sein toxikologisches Potential für Fische und Makrozzobenthos geringer sein soll. Die Auswaschungsgefährdung von Glyphosaten soll gering sein. Weniger als 1% des aufgebrachten Wirkstoffes wurde in einer 3-jährigen Studie von landwirtschaftlichen Kulturflächen ausgewaschen. [17]

Genauer gesagt wird hiernach das toxische Potential von Glyphosat auf den Boden beschränkt, bis es aus seiner absorbierenden Umgebung durch andere Mittel oder Chemikalien, die damit konkurrieren, freigesetzt wird. Folgender Absatz einer anderen wissenschaftlichen Arbeit über das "Verhalten von Glyphosat in der Umwelt" relativiert diese vermeintliche Umweltverträglichkeit:

Die schnelle Fixierung im Boden und die starke Sorption weisen den Wirkstoff Glyphosat als umweltverträglich aus. Hohe Aufwandmengen und häufige Spritztermine können beim Glyphosat aber zu einer Anreicherung von AMPA und anderen Abbauprodukten führen. [16]

Über die mögliche ersatzweise Auswaschung des Metaboliten Aminomethylphosphonsäure (AMPA) ins umliegende oder tieferliegende Wasser wird allerdings nichts an dieser Stelle gesagt.

Zu beachten ist ferner, dass bei der Sorption von phosphorhaltigen Aminosäurederivaten die Bindung an den Boden kompetitiv zum Phosphat ist. Das bedeutet, dass eine P-Düngung zu einer Freisetzung des Wirkstoffes und zur Verlagerung in tiefere Bodenschichten führen kann. Dort ist der biologische Abbau aber sehr stark eingeschränkt. [16]

Die Phosphordüngung hat in den letzten Jahren angesichts der zunehmenden Verarmung an Mineralstoffen allen voran an Phosphat im Boden sehr zugenommen! Das heißt auch in diesem Fall: Glyphosat könnte zwar, wie aus Laborversuchen abgeleitet, im Boden bleiben, muß es aber nicht. Es läßt sich vielmehr gar nicht voraussagen, wie es sich verhält, solange man die eigentlichen Bodenverhältnisse und den weiteren Eintrag anderer Chemikalien nicht kennt.

Für weitere aufschlußreiche Erkenntnisse zu diesem gemeinhin wenig beachteten, unpopulären Thema sei bei Interesse die Lektüre dieser wissenschaftlichen Arbeit empfohlen. Hier würde es das spezielle Thema der Sikkation doch überfordern auf sämtliche Widersprüchlichkeiten in der Bodenadsorption einzugehen.

Entsprechende Beispiele und Problemstellungen für das hier nicht im einzelnen besprochene Umweltverhalten von Glufosinat (Basta), Diquat (Reglone), Carfentzarone (Shark), Cyanamid (Azodef), Cinidon-ethyl (Lotus) und Pyraflufen (Quickdown) liegen zwar durchaus vor, das Prinzip der Vermeidung, "daß nicht sein kann, was nicht sein darf", das meistens auch die Wissenschaft bestimmt, sollte aber auch mit diesen Beispielen ausreichend dargestellt sein.


2.2.4.1. Verwandte Problemstellung

Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings eine weitere zusätzliche Besonderheit des Glufosinat-Ammoniums bzw. des D,L-Phosphinotricin (so der ursprüngliche Name des natürlichen Antibiotikums), das aufgrund seiner vermeintlich unvergleichlichen Abbaubarkeit des Wirkstoffs mit einer Halbwertszeit von drei bis höchsten 10 Tagen trumpfen kann:

Ökologisch ist Basta bei einer Anwendung gemäß den Empfehlungen unbedenklich. In aufgelockerten, aber auch in sehr nassen Böden wird Glufosinat rasch abgebaut, die Abbauprodukte zeigen keine herbizide Aktivität. Ein Versickern des Wirkstoffs oder seiner Abbauprodukte in tiefere Bodenschichten und eine Verseuchung des Grundwassers sind bei korrekter Anwendung ebenfalls nicht zu befürchten, da Basta von Lehm und Humus gebunden wird. [8]

Daraus leitet der Hersteller einen bedenkenlosen Einsatz des Mittels ab. Da aber D,L-Phosphinotricin (Glufosinat) als Mischform oder fachsprachlich Racemat einer rechts- und einer linksdrehenden äußerlich sonst vollkommen gleichen Variante vorliegt und diese manchmal völlig unterschiedlich reagieren (was bei dem seinerzeit heftig diskutierten D,L-Thalidomid bzw. Contergan verheerende Folgen nach sich zog, denn einer der beiden Varianten führte am Embryo zu den bekannten Mißbildungen) wird nur die L-Form des Wirkstoffs abgebaut. Die D-Form läßt sich nicht abbauen. Das ist bekannt, hat aber scheinbar zu keiner neuen Einschätzung des Umweltverhaltens geführt:

Unterschiede zwischen D- und L-Form des Wirkstoffs

Weder in sensitiven noch in transgenen Pflanzenzellen wurde die D-Form des Herbizid-Wirkstoffs umgewandelt. Alle Umwandlungsprodukte entstanden aus der L-Form. Die D-Form wird auch in ganzen transgenen Pflanzen nicht abgebaut, sondern größtenteils mit dem Regen abgewaschen. [10]

95 Prozent der Gesamtrückstände des Herbizids waren wasserlöslich. [10]

Anders gesagt, trotz gegenteiliger Aussage des Herstellers verbleiben Herbizidrückstände nicht nur zum großen Teil im Boden, sie können auch leicht ins Grundwasser gelangen, wenn beispielsweise Lehm und Humus schon mit anderen Substanzen gesättigt sind. Und dieser letzte Punkt, daß der Boden durch die massive Anwendung von immer mehr Agrarchemikalien allmählich an Rückständen wie Abbauprodukten gesättigt sein muß, kommt in den wenigsten ökotoxikologischen Überlegungen zu diesem Thema vor. Die Forschung geht - zumindest im Labor - fast immer von jungfräulichen Bodenverhältnissen ohne Fremdkontamination aus. Das und viele andere Faktoren, die wir hier besprochen haben, führen zu gravierenden Fehleinschätzungen.


Fazit

Bei den hier beschriebenen Fallbeispielen, in denen günstige Beurteilungen unter sauberen Versuchsbedingungen in hoffnungsfroher Erwartungshaltung der beteiligten Wissenschaftler zu immer wieder neu zu korrigierenden Fehleinschätzung der vermeintlich unbedenklichen Herbizide führten, handelt es sich eigentlich um Zusammenhänge, die sich - vom heutigen Stand aus betrachtet - durch gründlichere Forschung und Recherche, also einer guten Risikoabschätzung, vielleicht in Zukunft vermeiden lassen könnten, wenn man aus den Auslassungen lernt und

die Herbizid-Formulierung auf Beistoffe und ihre synergistischen Reaktionsmöglichkeiten prüft
auch die Toxizität von Beistoffen und Abbauprodukten berücksichtigt
den Einzelstoff nur im Gesamtgefüge seines Umfelds und seinen Einfluß auf andere Stoffe in Boden, Luft und Wasser betrachtet und schließlich
bereits entdeckte Unvorhersehbarkeiten wie die Chiralität von Substanzen, (das Vorkommen von Links- und rechtsdrehenden Varianten, mit jeweils unterschiedlichem Wirkspektrum) bei ähnlich strukturierten Stoffen oder Ausgangsbedingungen in Erwägung zieht.

Die Liste der Unabsehbarkeiten bzw. pleiotropen Effekte, wie man Unvorhersagbares ersatzweise zumindest einem Oberbegriff zuordnet, müßte im Grunde noch um das Thema der Niedrigdosen-Effekte (eine Theorie, die die behördlich festgelegten Toleranzwerte (ADI-Werte) in Frage stellt, weil auch gerade sehr kleine Dosen Wirkung entfalten können) und weitere Fallstudien ergänzt werden. Dieses Thema ist durchaus ernstzunehmen. Wir haben an dieser Stelle jedoch davon abgesehen, weil es sich im spekulativen Rahmen bewegt, d.h. sich Ursache-Wirkungs-Beziehungen nur vermuten, aber selten beweisen lassen.

Hier soll daher nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß abgesehen von den bereits aufgeführten Unsicherheiten, die aus Gesetzgebung und offiziellen festgesetzten toxikologischen und Rückstandsgrenzwerten offenbar auch Wissenschaft und Forschung nicht davor gefeit sind, Unsicherheiten, Argumentationslücken oder Zusammenhänge, für die es bisher noch kein Beispiel gibt, nicht erkennen zu wollen oder zu eigenen Gunsten auszulegen. Der vorgetragene Standpunkt der Vermeidung "daß nicht sein kann, was nicht sein darf" ist wissenschaftlich vorherrschend, wird deshalb aber auch immer wieder gerne von staatlichen oder wirtschaftlichen Interessen als Werkzeug genutzt. Das gilt für Pflanzenschutzmittel im allgemeinen und auch im besonderen Fall für die Sikkationspräparate.

Nun gibt das im gültigen Lebensmittelrecht verankerte "Vorsorgeprinzip" (Artikel 7 der VERORDNUNG (EG) Nr. 178/2002 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit) den zuständigen Behörden gerade für Fälle, in denen wissenschaftliche Unsicherheit besteht oder nur unzulängliche Ergebnisse der Risikoabschätzung vorliegen, ein gewisses Vetorecht vor.

Vorsorgeprinzip

(1) In bestimmten Fällen, in denen nach einer Auswertung der verfügbaren Informationen die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen festgestellt wird, wissenschaftlich aber noch Unsicherheit besteht, können vorläufige Risikomanagementmaßnahmen zur Sicherstellung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus getroffen werden, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung vorliegen. [6]

Angesichts der bereits geschilderten toxikologischen Unvorhersagbarkeiten, aber auch der zuvor beschriebenen Widersprüche, die von den offiziell festgelegten toxikologischen Grenz- und Toleranzwerten, Höchst- bzw. Obergrenzen ausgehen, sollten strenggenommen die Bedingungen erfüllt sein, damit diesem Passus des Vorsorgeprinzips rechtlich Geltung verschafft werden kann. Ein Verzicht auf die Sikkation, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung, im besonderen Fall der direkten Vergiftung von Lebensmitteln vorliegen, wäre dann die gegebene Maßnahme.

Doch schon im zweiten Absatz schränkt der Gesetzgeber diese ohnehin kaum wahrnehmbare "Kann-Bestimmung" ein, indem er wirtschaftliche Interessen vor die Gesundheit des Menschen stellt:

(2) Maßnahmen, die nach Absatz 1 getroffen werden, müssen verhältnismäßig sein und dürfen den Handel nicht stärker beeinträchtigen, als dies zur Erreichung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit und anderer angesichts des betreffenden Sachverhalts für berücksichtigenswert gehaltener Faktoren notwendig ist. Diese Maßnahmen müssen innerhalb einer angemessenen Frist überprüft werden, die von der Art des festgestellten Risikos für Leben oder Gesundheit und der Art der wissenschaftlichen Informationen abhängig ist, die zur Klärung der wissenschaftlichen Unsicherheit und für eine umfassendere Risikobewertung notwendig sind. [6]

So bleibt es letztlich wieder den Institutionen und Behörden überlassen, die geringfügige Chance, die gängige, aber überflüssige und offensichtlich schädliche Praxis der Sikkation zumindest befristet bis zur weiteren und näheren Prüfung zu stoppen. Dem buchstäblich armen "Schlucker" chemiebewährter Lebensmittel ist dafür in den vorliegenden Gesetzen offenbar weder Arm noch Hebel gegeben.

F. Haalck, B. Reinken, Schattenblick-Redaktionsteam

16. November 2010




Quellen:

1. Stephan Albrecht und Albert Engel (Hg.), IAAST Weltagrarbericht
     Synthesebericht, Deutsche Übersetzung der Uni Hamburg, Hamburg
     University Press, Hamburg 2009
     Im Internet als HamburgUP_IAASTD_Synthesebericht.pdf über
     www.google.de/search?client=opera&rls=de&q=Weltagrarbericht+Hamburg&sourceid=opera&ie=utf-8&oe=utf-8

2. VERORDNUNG (EG) NR. 396/2005 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND RATES vom 23. Februar 2005
     über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf Lebens- und Futtermitteln
     pflanzlichen oder tierischen Ursprungs zur Änderung der Richtlinie 91/414/EWG des Rates

3. "Harmonisierung der Rückstandshöchstgehalte in der EU"
     - 5. Qualitätssicherungsseminar des Bayerischen Landesamts für
     Gesundheit und Lebensmittelsicherheit am 10. Dezember 2008 von Dr.Leena Banspach

4. Genaueres zu der durchaus interessanten Geschichte seiner Entwicklung findet man im
     Spektrum der Wissenschaft Juli/1993, "Ein leicht abbaubares Unkrautbekämpfungsmittel",
      Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

5. Siehe auch: Übersicht "Hintergrund-Informationen für die Presse"
     Bundesinstitut für Risikobewertung, Dr. Irene Lukassowitz, B/2008, 02.06.2008

6. VERORDNUNG (EG) Nr. 178/2002 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 28. Januar 2002
     Internet: www.bfr.bund.de/cm/209/2002_178_de_efsa.pdf

7. Wolfgang Reuter, Lars Neumeier: Die Schwarze Liste der Pestizide II,
     Greenpeace e.V. (Hg.), Hamburg, 04.02.2010, Aktualisierung der Studie vom 07.02.2008

8. vom Hersteller Bayer herausgegebene Information
     www.agrocourier.com/bayer/cropscience/cscms.nsf/id/BaskeiKom_CourierDE?Open&setprintmode
     Dieser Artikel erschien in seiner Gesamtheit in "Kurier Übersee", Ausgabe 2/2004.

9. Internet: www.Roundup.de und dort: "Tippon_Vorernte_Prospekt.pdf"

10. Webseite des Bundesministerium für Bildung und Forschung,
     Förderkennzeichen: 0311291, Kontakt: Dr. Gabriele Engelhardt,
     Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit,
     Menzinger Str. 54, 80638 München
     Titel: Abbau von Glufosinat in transgenem und nicht transgenem Mais und Raps (1997-2000)
     Bayerische Landesanstalt für Ernährung und
     Bayerische Landesanstalt für Bodenkultur und Pflanzenbau, München (30. Oktober 2002)

     Weitere Quellen zu dieser Thematik:
     - Ruhland M., Engelhardt G., Pawlizki K.H. (2000) Verbleib und
        Metabolismus von Glufosinat in transgenen, BASTA-resistenten Raps-
        und Maiszellen. Gesunde Pflanzen 52, 248- 253
     - Ruhland M., Engelhardt G., Pawlizki K.H. (2000) Metabolismus von
        Glufosinat in Zellkulturen von konventionellem und transgenem,
        Glufosinat-tolerantem Raps und Mais. Poster 52. Deutsche
        Pflanzenschutztagung Freising-Weihenstephan, 9.-12. Oktober 2000, und
        Publikation in Mitteilungen aus der Biologischen Bundesanstalt für
        Land- und Forstwirtschaft, 52. Deutsche Pflanzenschutztagung,
        376, 461-462
     - Ruhland M., Engelhardt G., Pawlizki K.H. (2002) A comparative
        investigation of the metabolism of the herbicide glufosinate in cell
        cultures of transgenic glufosinate-resistant and non-transgenic
        oilseed rape (Brassica napus) and corn. (Zea mays) Environ. Biosafety
        Res. 1, 29-37

11. www.geneticdiner.de/kap5_3.htm

12. www.gen-ethisches-netzwerk.de/alte_seite/gid/TEXTE/ARCHIV/PRESSEDIENST_GID133/LIBERTYLINK.HTML
     Gen-ethischen Netzwerks (GID 133), Juni 1999, "Das schwarze Jahr von LibertyLink"

13. Topsy Jewell and David Buffin "Health and environmental impacts of glufosinate ammonium" 2001, S.18

14. EFSA Pressemitteilung, 22. April 2005

15. Cox, Caroline "Glufosinate", Journal of Pesticide Reform, Winter 1996, Vol. 16, No. 4

16. www.lfl.bayern.de/iab/bodenschutz/14620/linkurl_0_1.pdf
     Günter Henkelmann: Das Verhalten von Glyphosat in der Umwelt
     - Forschungsergebnisse zum Austrag und zur Verlagerung,
     Institut für Agrarökologie, Ökolog. Landbau und Bodenschutz an der
     Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, Arbeitsbereich: IAB 1f,
     Isotopentechnik und Stoffdynamik, Glyphosat

17. http://pubs.acs.org/doi/full/10.1021/tx800218n

18. Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), 1. Juni 2010
     www.raiffeisen.com/webedit/hagekiel1/web/3293?artikel=30215649

19. www.stua-si.nrw.de/htm/archiv/jahresberichte/2004/metabolit.htm
     "Quellen der Belastung von Oberflächengewässern durch das Metabolit
     AMPA (aminomethylphosphonic acid) und seine mögliche Wirkung",
     Dr. Georg Gellert

20. Quelle der Strukturformeln und des Titelbildes:
     Zentrales Medienarchiv Wikimedia Commons

21. Alle weiteren Bilder: Friedrich Haalck