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BERICHT/001: WeltRisikoIndex - Besuch einer Fachtagung (SB)


Bericht und Gedanken über eine Fachtagung zur Erarbeitung eines WeltRisikoIndex am 2. Dezember 2009 in Berlin


Nach der Tsunami-Katastrophe im Januar 2005 haben sich fünf deutsche Hilfsorganisationen zum "Bündnis Entwicklung Hilft" zusammengeschlossen, um künftig gemeinsam schlagkräftiger und effektiver Hilfe leisten zu können. Am 2. Dezember 2009 lud dieses Bündnis, dem die Organisationen Brot für die Welt, Welthungerhilfe, terre des hommes, medico international und MISEREOR angeschlossen sind, zu einem Presse-Gespräch und einer anschließenden "Fachtagung WeltRisikoIndex" von 10.00 bis 16.30 Uhr ins Verbändehaus nach Berlin. Mit dem Untertitel "Katastrophenexposition - Vulnerabilität - Bewältigung - Anpassung" brachten der Organisator Peter Mucke und seine Mitstreiter vom Bündnis Entwicklung Hilft ihren Wunsch zum Ausdruck, die Katastrophenvorsorge im Zeitalter des Klimawandels und der höchst unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen bei der Bewältigung von Katastrophen mit Hilfe eines neuen Bewertungsindex zu verbessern. Erarbeitet wurde der sogenannte WeltRisikoIndex, der sich aus einer globalen und einer regionalen Säule zusammensetzt, von Dr. Jörn Birkmann von der United Nations University Bonn.

Dr. Jörn Birkmann beim Pressegespräch

Dr. Jörn Birkmann beim Pressegespräch

Das ausdrückliche Ziel der Vorträge, kritischen Kommentierungen, Diskussionen und Fragen bestand darin, den WeltRisikoIndex einem breiteren Fachpublikum bekannt zu machen und ihn durch die geballte Expertise der Teilnehmer auf seine Belastbarkeit abzuklopfen. Um das Resultat an den Anfang zu stellen: Die mit der Propagierung des Index befaßten Personen wurden reichlich ins Schwitzen gebracht! Am Ende mußte Peter Mucke einräumen, daß sie durchaus mit Kritik gerechnet hatten, aber daß sie sich nach dem heutigen Tag wohl noch einmal an die Arbeit begeben und den Index in den nächsten sechs Monaten modifizieren werden. Eigentlich habe man gehofft, schon etwas weiter zu sein.

Der Versuch, nicht nur natürliche Faktoren, sondern vor allem soziale Voraussetzungen der Katastrophenbewältigung nach einem einheitlichen Schlüssel zu beschreiben, hat bereits während der Fachtagung zahlreiche Fragen aufgeworfen. Dabei erwiesen sich manche von so grundsätzlicher Art, daß sie sich dem Bemühen, die Antwort als weiteren Aspekt in den modular konzeptionierten WeltRisikoIndex aufzunehmen, von vornherein vollständig entzogen.

Anika Schroeder, Misereor, und Peter Mucke, Bündnis Entwicklung Hilft, beim Pressegespräch

Anika Schroeder, Misereor, und Peter Mucke, Bündnis
Entwicklung Hilft, beim Pressegespräch

Es bedarf keines apokalyptischen Szenarios künftiger Klimakatastrophen, um Not und Leid globalen Ausmaßes zu erkennen, das schon heute die Menschheit heimsucht und in seiner Unannehmbarkeit alle Anstrengungen fordert, die zu seiner Abwendung aufgeboten werden können. Nur aus der vergleichsweise privilegierten Warte der Metropolenbewohner lassen sich Debatten führen und Überlegungen anstellen, die mit erträglichen Fristen und abkömmlichen Aufwendungen operieren, die dem Kalkül vorerst gesicherten Überlebens geschuldet sind. Für zahllose Menschen, die an Hunger, Durst und Krankheiten zugrunde gehen oder akut vom Untergang bedroht sind, existiert eine solche Spanne mutmaßlich gewährleisteten Überdauerns nicht. Der vielfach formulierte Appell, um des Fortbestands unserer Spezies willen die unabdingbaren Voraussetzungen ihrer Existenz zu stabilisieren, ehe es zu spät ist, droht daher strategischen Entwürfen Vorschub zu leisten, die der Überlebenssicherung elitärer Fraktionen zu Lasten massenhafter Verelendung geschuldet sind.

Wer alle gesellschaftlichen Schichten mahnt, ihre Widerspruchslagen zu vergessen, und alle Nationen aufruft, ihre eklatanten Unterschiede auszuklammern, um im gemeinsamen Werk der Rettung zusammenzustehen, führt die Ideologie künftiger Herrschaftssicherung ins Feld. Soweit es sich um menschengemachte Katastrophen handelt, sind sie ein unmittelbares Produkt des hochentwickelten Überlebens zu Lasten der eigenen Art, dessen brachiales Vorteilsstreben die Not des anderen in den Rang der elementarsten Maßgabe und Währung erhebt. Da sich Macht und Reichtum also daran bemessen, wie viele Menschen ihre Substanz dafür preisgeben mußten, lassen sich Elend und Sterben nur in der Klammer dieses untrennbaren Zusammenhangs verorten. So ist die Last des Armen der Reiche, der auf seinen Schultern sitzt, und solange dieses Grundverhältnis nicht ausgehebelt wird, bleibt die Bewältigung fundamentaler Problemlagen des Stoffwechsels mit der Natur illusorisch.

Der Wunsch, anderen Menschen zu helfen und Not zu lindern, kann recht unterschiedlichen Motiven entspringen und von verschiedenen Zielsetzungen getragen sein. Macht man es sich zur Aufgabe, die Hilfeleistung im großen Rahmen und mit bestmöglicher Wirksamkeit zu bewerkstelligen, gilt es, Interessenlagen zu entschlüsseln und Strukturen zu analysieren, die zu erheblichen Teilen jenseits individueller Begründungen und landläufiger Erklärungsmuster angesiedelt sind. Bezeichnenderweise treten katastrophale Ereignisse und Verläufe sehr häufig in Verbindung mit Armut auf - sei es, daß sie deren Folge sind, oder daß sie unter solchen Umständen sehr viel verheerendere Ausmaße annehmen.

Dr. Wolfgang Jamann, Welthungerhilfe

Dr. Wolfgang Jamann, Welthungerhilfe

Wenn die führenden Industriestaaten einen verschwindend geringen Bruchteil dessen, was sie der sogenannten dritten Welt im Zuge kolonialer Ausbeutung, imperialistischer Zurichtung und neoliberaler Verfügung geraubt haben, als vermeintliches Almosen zurückgeben, geschieht dies im selben Kontext fortgesetzter Einflußnahme. Das tritt besonders krass zutage, wo die Hilfeleistung an Auflagen gekoppelt ist oder die Vergabe von der Willfährigkeit der jeweiligen Regierung abhängig gemacht wird. Womöglich noch extremer sind wirtschaftliche Sanktionen bis hin zu Blockaden, die ganze Volkswirtschaften zugrunde richten können und die Bevölkerung massiv in Mitleidenschaft ziehen. Daß die strafende und die helfende Hand nur vordergründig den Eindruck erwecken, es handle sich bei ihnen um voneinander gänzlich unabhängige Instanzen, illustriert beispielsweise die prekäre Lage der Palästinenser im Gazastreifen. Während Israel dieses Freiluftgefängnis abriegelt und abstraft, sind die Europäer gehalten, humanitäre Hilfe zu leisten. In diesem Werk fortgesetzter Zerstörung und notdürftiger Instandsetzung verfolgen nicht verfeindete Mächte ihre gegensätzlichen Interessen, es handelt sich vielmehr um ein Zusammenwirken von Verbündeten zur Regulation des Palästinenserproblems, um es einmal zynisch, aber nicht unangemessen auszudrücken.

Der ideologische Anspruch der kapitalistischen Produktions- und Wirtschaftsweise, die Ausweitung des Profitsystems im Weltmaßstab sei der bestmögliche Ansatz zur Überwindung aller Schwierigkeiten, ist brüchig geworden. Es mehren sich die Stimmen, die in diesem Grundmuster gesellschaftlicher Organisation nicht mehr die Lösung, sondern einen wesentlichen Teil des Problems sehen. Der nun ins Kraut schießende pseudokritische Dialog, der mit vormals tabuisierten Themen geradezu hausiert und vor den höchsten Rängen staatlicher Instanzen und wirtschaftlicher Interessenverbände nicht halt macht, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bestehenden Herrschaftsverhältnisse davon nicht nur unberührt bleiben, sondern längst innovative strategische Entwürfe auf den Weg gebracht haben. Herrschaft folgt ausschließlich der Maxime ihrer Sicherung und Vervollkommnung, weshalb sie zwangsläufig in fundamentalem Widerspruch zu der von ihr zum Zweck der eigene Vorteilsnahme produzierten Not steht.

Wer sich der Mitmenschlichkeit und Hilfe Notleidender verschrieben hat, tritt daher den Gang durch ein Minenfeld höchst unterschiedlicher Zugriffsinteressen und Nutznießerschaften an, wobei geläufige Konzepte wie Sisyphusarbeit oder Feigenblattfunktion die Brisanz eher verschleiern als angemessen auf den Begriff bringen. Will man nicht zum unfreiwilligen Erfüllungsgehilfen fremder Interessen werden, sollte nicht vermieden werden, die Voraussetzungen des eigenen Engagements ebenso unter die Lupe zu nehmen wie die administrativen, ökonomischen und politischen Strukturen und Rahmenbedingungen dieser Tätigkeit.

Podiumsgespräch

Podiumsgespräch

So unabdingbar die Auseinandersetzung mit den natürlichen Ursachen zuzuordnenden Aspekten katastrophaler Ereignisse oder Verlaufe bleibt, gilt es doch zugleich, sie mit den vorderhand als sozial bezeichneten Umständen und Verhältnissen in der Weise zu kreuzen, daß daraus wissenschaftliche Erkenntnisse resultieren, die der Praxis entscheidende Impulse geben können.

Angesichts der in den nicht-industrialisierten Staaten meist gering entwickelten Infrastruktur auf der einen Seite und der unschönen Erfahrungen ihrer Bewohner auf der anderen, daß Entwicklungshilfe häufig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg geleistet wird, sollte es nicht wundern, wenn aus diesen Ländern hohe Erwartungen an einen Index gerichtet werden, der sich dadurch auszeichnet, daß er insbesondere die gesellschaftlichen Voraussetzungen berücksichtigt. Ernüchterung hinsichtlich der regionalen Genauigkeit eines solchen Index, aber auch Hoffnung in Bezug auf einen globalen Vergleichsmaßstab drückte auf der Fachtagung der Äthiopier Mulugeta Worku Ayele aus. Er ist der für Nordäthiopien zuständige Regionalkoordinator der CRDA (Christian Relief & Development Association), einer Dachorganisation für nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, und war als Podiumsteilnehmer zu der Tagung geladen.

Herr Mulugeta war so freundlich, den Schattenblick-Redakteuren einen Teil seiner Mittagspause zu opfern und ihnen Rede und Antwort zu stehen. Dabei stellte sich heraus, daß er zwar einen Nutzen von dem WeltRisikoIndex erwartet, aber hinsichtlich der Anwendbarkeit auf regionaler Ebene Lücken sieht, die der Index seiner Einschätzung nach nicht zu füllen vermag. Auf die Frage, was er mit Blick auf sein Land von dem WeltRisikoIndex erwarte, erwiderte er, daß dieser dazu beitragen könne, Hilfe gezielter einzusetzen. Aufgrund des globalen Charakters des Index werde zwar "nicht jedes Detail lokaler Zusammenhänge" berücksichtigt, aber er weise "in eine Richtung", wie er auf nationaler und subnationaler Ebene "implementiert, angewendet und entwickelt" werden könne.

In diesem Kontext beschrieb Herr Mulugeta kurz die spezifischen Probleme seines Landes. Äthiopien leide bekanntlich traditionell unter Dürre. Eine von zwei Regenzeiten, Belg genannt, sei ausgefallen. Man wisse nicht, ob sich der Effekt im Zuge des Klimawandels verstärkt oder abschwächt, auf jeden Fall müsse man sich darauf vorbereiten. Darüber hinaus bestehe seit einigen Jahren eine "chronische Unsicherheit" aufgrund von "Umweltdegradierung und Abnahme der Bodenproduktivität", worauf die Regierung bereits mit Gegenmaßnahmen reagiert habe. Die Minderung der Bodenqualität führt Herr Mulugeta vor allem auf traditionelle Bewirtschaftungsformen wie ungebremstes Roden zurück. "Wurden die Wälder erst einmal unkontrolliert abgeholzt, dann ist es hochwahrscheinlich, daß der Boden von Regenschauern erodiert wird. Denn in den Tropen ist die Regenmenge, die auf einen Schlag niederfällt, gewaltig. Dadurch können die Bodenpartikel abgetragen werden."

Mulugeta Worku Ayele, CRDA, Äthiopien

Mulugeta Worku Ayele, CRDA,
Äthiopien

Die Arbeit mit dem WeltRisikoIndex enthalte aber noch einen weiteren Aspekt, erklärte Herr Mulugeta und schmunzelte. Bei den Klimaverhandlungen in Kopenhagen gehe es gleichfalls um Mechanismen wie die Landnutzung, bei der Kohlendioxid der Atmosphäre entzogen und beispielsweise durch Aufforsten gebunden wird, und es würden bestimmte Bewirtschaftungsformen gefördert. Langfristig könne der Index auch dabei von Nutzen sein. Im übrigen, betonte der CRDA-Regionalleiter, solle man nicht ständig auf den Transfer von Finanzmitteln blicken, sondern darauf, den Planeten bewohnbar zu machen, und dazu müßten alle Seiten Verpflichtungen eingehen.

Hat also der WeltRisikoIndex das Potential, sich als ein einflußreiches Instrument der Entwicklungshilfe zu etablieren? Den Veranstaltern der Fachtagung wie auch den Teilnehmern aus Wissenschaft, Verwaltung und Hilfsorganisationen kann das Engagement und die Bereitschaft, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, die sich unter anderem aus dem Klimawandel ergeben, nicht abgesprochen werden. Dennoch - oder besser: gerade deshalb - sollte die Frage nicht ausgespart bleiben, ob zu diesem frühen Zeitpunkt der Debatte um die Kriterien eines WeltRisikoIndex nicht bereits der zweite Schritt vor dem ersten unternommen wird. Das Anliegen, auf Katastrophen vorbereitet zu sein, noch bevor sie auftreten, und dabei das Augenmerk auf die Verletzbarkeit von Gesellschaften und ihre potentielle Fähigkeit, mit destruktiven natürlichen Entwicklungen umzugehen, zu legen, ist nachvollziehbar. Aber müßte nicht zuerst die Frage gestellt werden, auf welche Weise diesem Anliegen am ehesten gerecht wird? Die Berliner Fachtagung setzt dagegen an einer Stelle an, an der die Antwort längst vorgegeben ist: Mit einem Index, aufgeteilt in einen nationalen und einen regionalen Wert, soll die Katastrophenvorbereitung verbessert werden. Die Diskussion drehte sich darum, wie der Index optimiert werden kann, und thematisierte allzu selten, ob ihm irgendeine Relevanz bei der Beendigung von Not zukommt. So hat sich die Debatte unmerklich von dem ureigensten Anliegen der Hilfsorganisationen entfernt. Wollte man das Dilemma auf eine einfache Aussage bringen, so standen fortan statistische und nicht mehr humanitäre Probleme im Mittelpunkt.

Wird nicht aus der menschlichen Not, die zu beheben das Motiv des Bündnis Entwicklung Hilft ist, die Not des Wissenschaftlers, der sich um die diffizile Verrechnung und Bewertung von Faktoren bemüht, die andere vernachlässigt oder an denen sie sich bereits die Zähne ausgebissen haben? Über das Ergebnis läßt sich dann trefflich diskutieren, ohne Frage, das hat die Fachtagung bewiesen. Es wurde ein Debattengetriebe angeworfen, das ein hohes Maß an Professionalität zeigte.

Eloquente Überzeugungsarbeit

Eloquente Überzeugungsarbeit

Doch wie gesagt, das Kernproblem wird nicht mehr in dem Mangel an existentiellen Lebensvoraussetzungen eines erheblichen Teils der Menschheit gesehen, sondern darin, komplexe Zusammenhänge auf einen mathematisierbaren Wert einzudampfen und abzugleichen. Mit dem WeltRisikoIndex sollen nicht einfach nur Äpfel mit Birnen verglichen werden - denn die ergäben immerhin zusammen noch einen genießbaren Mus - sondern Äpfel mit, sagen wir, Fußbällen. Soll heißen: Das geht nicht zusammen. Man kann sie zwar zu einem Brei vermahlen, aber der ist ungenießbar und läßt nur schwerlich Rückschlüsse auf die beiden Ausgangsfaktoren zu. Auf den WeltRisikoIndex bezogen bedeutet das, daß denkbare Bewertungskriterien des Index wie "Zunahme von Extremwetterereignissen als Folge des Klimawandels", "Geschwindigkeit der Abholzung", "Repräsentanz behördlichen Katastrophenschutzes auf lokaler Ebene", "Zahl der Krankenhausbetten" auf einen Nenner gebracht werden, so daß zwar eine abstrakte Vergleichbarkeit zwischen den Nationen oder Regionen entsteht. Aber sobald die Frage auftaucht, was soll vor Ort an Maßnahmen ergriffen werden, muß man vom Abstrakten wieder ins Konkrete gehen. Was zuvor kodiert wurde, müßte eigentlich wieder dekodiert werden.

Die Dekodierung könnte dann durch den Bericht eines Mitarbeiters einer Hilfsorganisation erfolgen. Doch dessen Angaben beispielsweise zur Vulnerabilität einer Region waren ja längst abgefragt worden und hatten Eingang in den WeltRisikoIndex gefunden. Geht es also um konkrete Hilfe - anlaßbezogen oder präventiv -, so könnte sich der WeltRisikoIndex selbst in seiner regionalen Variante als komplizierter, unnötiger Umweg herausstellen.

Simultandolmetscherin, hochkonzentriert

Simultandolmetscherin, hochkonzentriert

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Als problematisch ist nicht das Erfassen von Risiken vor Ort oder das Abschätzen sozialer Voraussetzungen an sich anzusehen - der Nutzen einer detaillierten Analyse der Ausgangslage für humanitäre Hilfe ist unstrittig -, wohl aber die Verrechnung, Abstraktion und damit Unkenntlichmachung der Not. An der Erwartung und Hoffnung, mit dem Index ein Mittel in die Hand zu bekommen, um a) mehr Spenden eintreiben, b) den Druck auf Regierungen erhöhen und c) Hilfe gezielter dort einsetzen zu können, wo sie gebraucht wird, bestehen ernsthafte Zweifel. Zumal, und das wurde auf der Fachtagung nicht thematisiert, bei der Entwicklungshilfe vielleicht sogar noch vor allen anderen Faktoren die Interessen der Geber berücksichtigt werden müssen.

Ein Beispiel: Die Bundesregierung würde einem Staat wie Simbabwe womöglich deshalb von vornherein keine Entwicklungshilfe geben, weil dessen Regierung eine Landreform gegen die westlichen Interessen erzwungen hat und die Opposition unterdrückt. Vor dem Hintergrund, daß Regierungen mittel- bis langfristige Entwicklungshilfe nach politischen Kriterien vergeben, verliert ein WeltRisikoIndex jedoch an Bedeutung. Obwohl der Index für Simbabwe womöglich nahelegen würde, daß Hilfe geleistet werden müßte, hielte sich die Bundesregierung aus politischen Gründen zurück. Das gilt für strukturelle Hilfe selbstverständlich noch viel mehr als für akute Nothilfe.

Da der materiellen Ausstattung der Hilfsorganisationen Grenzen gesetzt sind, die es ihnen gemessen am entufernden Ausmaß der zu bewältigenden Aufgaben unmöglich machen, der Gesamtheit aller Problemlagen Rechnung zu tragen, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem bestmöglichen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel. Daraus erwächst der Bedarf an adäquaten Entscheidungshilfen, die angesichts des Umstands, daß Hilfe nur einen Bruchteil der notleidenden Menschen und Regionen erreicht, die Erstellung von Rangfolgen der Intervention erleichtern und präzisieren. In diesem Kontext beansprucht der WeltRisikoIndex, maßgebliche Kriterien zu erfassen, zu bündeln und zu zielführenden Kernaussagen zu verdichten, welche die Argumentation unterfüttern und die Relevanz der daraus abgeleiteten Beschlüsse erhöhen.

Wenngleich die Annahme naheliegt, daß fundierte Begründungen geeignet sein sollten, Geldgeber in höherem Maße von einem bestimmten Engagement zu überzeugen, heißt das noch nicht, daß dadurch notwendigerweise gesteigerte Gesamtaufwendungen generiert werden. Wie das Ranking im internen Gebrauch der Hilfeleistung dergestalt Prioritäten formuliert, daß man die Kapazitäten an bestimmten Schwerpunkten konzentriert, wofür man sie an anderen ausdünnen oder abziehen muß, stellt die Präsentation einer Rangfolge beim Einwerben von Geldern für sich genommen ebenfalls zunächst nur ein Instrument der Verlagerung und Umverteilung dar. Brennpunkten katastrophalen Geschehens stehen in einer solchen Einstufung zwangsläufig andere Regionen gegenüber, die im Ranking heruntergestuft werden, weil ihre Problematik für weniger brisant erachtet wird. Folglich hat man es dabei mit administrativen Prozessen der Umverteilung beschränkter Mittel und Möglichkeiten zu tun, die man nicht mit insgesamt erweiterten Potentialen gleichsetzen kann.

Zu prüfen wäre andererseits auch, ob die im Zuge der Ableitung vorgenommene mehr oder minder starke Abstraktion der nachfolgenden Rückführung in logistische Strukturen und Weichenstellungen, wie sie zu den zentralen Aufgaben der Hilfsorganisationen gehören, tatsächlich standhalten können. Im Expertengespräch verlieh ein Teilnehmer aus Bangladesch seiner Hoffnung Ausdruck, daß der WeltRisikoIndex beispielsweise dazu beitragen könnte, bei einer Flutkatastrophe in seiner Heimat den Bedarf an bestimmten Kleidungsstücken mit deren Bereitstellung auf effektivere Weise zu verknüpfen. Solche konkreten Anforderungen sollten jedoch auf Grundlage langjähriger Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort bereits auf einem Niveau bewältigt werden, dem ein Index kaum etwas hinzuzufügen haben dürfte, das der umgehenden Reaktion auf bestimmte akute Notlagen förderlich wäre. Um sachdienliche Maßnahmen zu treffen, Kontakte zu aktivieren und Mechanismen in Gang zu setzen, bedarf es Erfahrung, Expertenwissen und nicht zuletzt flexibler Kooperation mit der betroffenen Bevölkerung. Diese und andere Bestimmungsmerkmale gehen durchaus in die Indexbildung ein, was den Index jedoch keineswegs im Umkehrschluß zu einer Art Universalwerkzeug für die praktische Anwendung macht.

Was man sich insbesondere von einem solchen Instrument erhofft, ist eine prognostische Qualität, die eine verbesserte Vorsorge und effektivere Antwort auf eingetretene Katastrophen möglich macht. Da sich der Index auf Daten zurückliegender Ereignisse stützt, kann er im günstigsten Fall Aufschluß über signifikante Tendenzen in der Vergangenheit geben. Wenngleich man daraus Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich künftiger Gefahrenlagen in bestimmten Ländern oder Regionen ableiten kann, lassen sich damit keine konkreten Ereignisse vorhersagen. Das gilt um so mehr angesichts des Klimawandels, der von rasanten Veränderungen, unerwarteten Phänomenen und Kippunkten im Gefüge globaler Prozesse gekennzeichnet ist. Der in einen Index gegossene Versuch der informationellen Bestandssicherung läuft daher Gefahr, noch vor seinem formalen Abschluß von den Ereignissen überholt worden zu sein.

Auf der Fachtagung wurden durchaus hier und da grundsätzliche Probleme des Versuchs, einen globalen Index zu erstellen, angesprochen. Während Dr. Matthias Lüdeke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der auf an der Podiumsdiskussion teilgenommen hat und sich im Anschluß an die Fachtagung geduldig den Fragen der Schattenblick-Redakteure stellte, noch vermittelnd erklärte, daß eine "globale Gesamtschau", wie sie der Index liefert, "Sinn" mache, es aber davon ausgehend ganz interessant gewesen wäre zu gucken, "ob die auf nationaler Ebene aggregierten Indikatoren das eigentlich hinreichend wiedergeben oder nicht", stellte Peter Rottach von der Diakonie Katastrophenhilfe in seiner einleitenden Stellungnahme bei der Podiumsdiskussion klar, daß die vorgestellte Studie in seinen Augen keine Grundlage ist, "um Entwicklungs- oder Nothilfeprojekte und deren Inhalte zu konzipieren". Sie sei auch nicht dazu geeignet, "partizipativ mit den Leuten über geeignete Interventionsmöglichkeiten zu sprechen". Darüber hinaus stelle sich die Frage, "inwieweit diese Studie oder die Ergebnisse dieser Studie politische Entscheidungsträger beeinflussen" könne. Denn: "Die haben ja in der Vergangenheit nicht gewürfelt, als sie regionale Schwerpunkte festgelegt haben." Für die Partner der Hilfsorganisationen, die in Ländern arbeiteten, die regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht werden, sei es "eigentlich selbstverständlich, daß sie sich mit besonders betroffenen und gefährdeten Bevölkerungsschichten auseinandersetzen". Und abschließend: "Ich möchte von daher nur dafür plädieren, die Bedeutung einer solchen Untersuchung nicht allzu hoch anzusetzen."

Dr. Matthias Lüdeke, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, im Gespräch mit SB-Redakteur

Dr. Matthias Lüdeke, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung,
im Gespräch mit SB-Redakteur

Peter Rottach lehnt den WeltRisikoIndex nicht gänzlich ab, sondern sieht seinen möglichen Nutzen als "Bausteinchen" bei der Lobbyarbeit, doch scheint er die Erwartung anderer Teilnehmer des Podiums an solch einen Index nicht bedingungslos zu teilen. Auch Thomas Gebauer von der Organisation medico international resümierte zum Ausklang der Veranstaltung, daß der WeltRisikoIndex einen "großen Nutzen" haben könne, weil er das Augenmerk auf Problemregionen lenke, aber konstatierte schließlich: "Wir haben noch daran zu arbeiten." Gebauer schloß nicht aus, daß der WeltRisikoIndex niemals zustande kommt und gab den Tagungsteilnehmern die Mahnung mit auf den Weg, es sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß die Vulnerabilität von Menschen im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht.

Was bleibt als Resümee? Möglicherweise gelingt es dem Bündnis Entwicklung hilft bzw. der International University of Bonn, einen WeltRisikoIndex aufzustellen und ihn zu verbreiten, so daß er von der Fachwelt wahrgenommen und anerkannt wird, wie eben andere Indices, die Korruption, die menschliche Entwicklung oder auch die Tragfähigkeit einer Region beschreiben sollen, Beachtung finden. Zweifel bestehen daran, daß die viele Mühe, die in die Erarbeitung des Index gesteckt wird, am Ende zur Erfüllung des ursprünglichen Anliegens führt. Der Anspruch auf wissenschaftliche Gewißheiten trägt somit eher zur Unwissenheit bei. Die Beschäftigung mit dem WeltRisikoIndex bleibt über weite Strecken selbstreferentiell. Mit einem positiven Übertrag auf die gesellschaftliche Realität der Länder, in denen große Not herrscht, ist nicht zu rechnen. Im Gegenteil, es sind noch so viele Fragen offen, daß Zweifel aufkommen, ob der Aufwand, einen Index zu erstellen, überhaupt produktiv ist, und ob hier nicht ohnehin viel zu knappe Ressourcen der Hilfsorganisationen verbraucht und Kräfte gebunden werden, die wirkungsvoller hätten eingesetzt werden können.

Innenansicht des Verbändehauses

Innenansicht des Verbändehauses

9. Dezember 2009