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BERICHT/037: Down to Earth - Bedrohte Frucht (SB)


32. Weltkongreß der Geographie in Köln

Dr. Stephan Baas von der FAO in Rom zu Fragen der Lebensmittel- und Ernährungssicherheit vor dem Hintergrund des Risikos von Katastrophen und Krisen



Sicherlich muß etwas gegen die Folgen großer Katastrophen wie die Überschwemmungen in Pakistan und Thailand vor einigen Jahren oder regelmäßige Dürreperioden in Somalia und der Sahelzone unternommen werden. Aber es sind auch die vielen kleineren Katastrophen, über die nicht in den Medien berichtet wird und für die keine Hilfsgelder freigesetzt werden, durch die die Lebensgrundlagen von zig Millionen Menschen bedroht sind. Darauf machte Dr. Stephan Baas von der Lebensmittel- und Landwirtschaftsorganisation FAO (Food and Agriculture Organization) am 30. August 2012 auf dem 32. Weltgeographiekongreß in Köln aufmerksam. Er hielt dort eine halbstündige Keynote Lecture zum Thema "Disaster Risk and Crises - Challenges for Food and Nutrition Security" (Katastrophenrisiko und Krisen - Herausforderungen für die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit). Gleich zu Beginn des Vortrags betonte der Redner, wie wichtig die Implementierung des Menschenrechts auf Nahrung (im Jahr 1999) gewesen sei. Denn es kämen große Herausforderungen auf uns zu.

Im wesentlichen bezog sich Baas in seinem Vortrag auf den FAO-Bericht "The State of the World's Land and Water Ressources", abgekürzt SOLAW, der im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Welche Zukunft hat die Menschheit zu erwarten? Bis 2050 werden nach Hochrechnungen der Vereinten Nationen rund 9,2 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Sie alle wollen mit Nahrung, Wasser und anderen lebensnotwendigen Dingen versorgt werden. Für die Nahrungsproduktion ist deshalb eine Steigerung von 60 Prozent, in den Entwicklungsländern sogar um 100 Prozent erforderlich. Der Mehrbedarf entsteht nicht nur, weil die Weltbevölkerung wächst, sondern auch, weil sich die Ernährungsgewohnheiten der Menschen ändern.

Porträt, beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Stephan Baas
Foto: © 2012 by Schattenblick

Derzeit werden zwölf Prozent bzw. 1,5 Milliarden Hektar der Landfläche für den Getreideanbau verwendet. Dabei handelt es sich um die am besten geeigneten, also ertragreichsten Flächen. Das Potential einer Produktionssteigerung auf der Basis der Erweiterung der Agrarflächen bis Mitte des Jahrhunderts ist gering, da die nutzbaren Agrarflächen nicht mehr wesentlich ausgedehnt werden können.

Wenn es aber für weitere Erschließungen von Ackerland nur wenig Potential gibt und dadurch die dringend benötigte Steigerung der Nahrungsmittelmenge bis 2050 nicht erreicht werden kann - besteht dann völlige Hoffnungslosigkeit? Wird die gegenwärtige Politik fortgesetzt, so daß in Zukunft nicht "nur" eine, sondern mehrere Milliarden Menschen chronisch Hunger leiden?

Nein, laut der FAO könnte bis 2050 genug Nahrung für alle erzeugt werden, aber diese Zuwächse müßten hauptsächlich auf der Basis einer Intensivierung der Produktion auf bestehenden Flächen erzeugt werden - mit allen Konsequenzen der landwirtschaftlichen Intensivierung, einschließlich auf die Umwelt. Der Redner machte allerdings in seinem Vortrag deutlich, daß er auf vielerlei Bemühungen setze, nicht zuletzt darauf, die Verschwendung entlang der Lebensmittelversorgungskette zu minimieren. 30 Prozent der produzierten Nahrung gingen jedes Jahr verloren. Solche Verluste müßten unbedingt vermieden werden.

Zu den weiteren Gefährdungen der Lebensmittel- und Ernährungssicherheit rechnet Baas das Auftreten von Naturkatastrophen - forciert durch den Klimawandel -, die Ausbreitung von grenzüberschreitenden Tierkrankheiten, die Belastung von Lebensmitteln mit Umweltgiften wie Dioxin sowie Heuschreckenplagen. Auch Schwankungen der Lebensmittelpreise zählt der FAO-Mitarbeiter zu den Gefährdungen. Nicht zuletzt deutete er das Problem der steigenden Wasserknappheit und die Konkurrenz in der Wassernutzung an - die Landwirtschaft verbraucht schon heute 70 Prozent des Trinkwassers, und jeder dritte Mensch hat keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Seine Institution hat sich vorgenommen, die "Resilience" der Menschen zu stärken, also die Widerstands- oder Strapazierfähigkeit mit Blick auf die Gefährdungen. Erstens sollten die Menschen in die Lage versetzt werden, daß sie einer Bedrohung oder einer verwandten Krise widerstehen und deren Einflüsse abmildern können. Zweitens sollten sie lernen, gegebenenfalls eine neue Lebensführung im Angesicht der Krisen anzunehmen.

Generell spricht sich Baas für eine Integration der Institutionen bei der Gefahrenabwehr aus, die sich von der lokalen, nationalen, regionalen bis hin zur globalen Ebene erstreckt. Abschließend stellte er einige Regeln zur Stärkung der Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit vor:

- Landwirtschaftliche Produktionsziele und Umweltziele sollten zusammengelegt werden, um nachhaltige Lösungen zu erreichen.
- Das Krisenmanagement sollte nicht reaktiv, sondern proaktiv sein.
- Humanitäre und Entwicklungshilfe müßten besser verknüpft und integriert werden.
- Größere Investitionen in langfristige Herangehensweisen und in die Finanzierung systematischen Lernens und des Umgangs mit Gefährdungen, Risiken und des Aufbaus der Widerstandsfähigkeit (resilience).
- Stärkung von Regierungsmechanismen mit Blick auf nachhaltige, faire und transparente Ernährungssysteme.
- Mehr Investitionen in Datenerfassung, Forschung, multidisziplinäre Analysen, Wissensmanagement und Beratungsdiensten.

Last but not least forderte Baas: Wir brauchen die Geographie, geographische Informationssysteme sowie geospatiale Analysen und, auf diese aufbauend, eine vernünftige Planung für die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit heute und in der Zukunft. Desweiteren würden mehr Geographen gebraucht, die dazu beitragen, Ernährungs- und Lebensmittelsicherheit herzustellen und die Risiken zu minimieren.


Fazit

Baas deutet zwar an, daß sich Schwankungen der Weltmarktpreise für Getreide auf die Verfügbarkeit von Nahrung und damit auf die Zahl der Hungernden auswirken, aber es stellt sich schon die Frage, warum die ökonomischen Voraussetzungen insgesamt, gemessen an ihrer enormen Bedeutung für die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen, bei der FAO relativ wenig Beachtung finden. Wenn sie die Absicht hat, vom reaktiven zum proaktiven Krisenmanagement zu gelangen, wäre es dann nicht angemessen, so entschlossen "proaktiv" tätig zu werden, daß man die Krisenhaftigkeit des vorherrschenden Wirtschaftssystems untersucht und nach eingehender Analyse schon dort, an der Basis des Wirtschaftens, konsequent all jene Produktionsbedingungen in Angriff nimmt, durch die Menschen Mangel und Not ausgeliefert werden?

Auf der einen Seite gibt es fast eine Milliarde Menschen, die sich regelmäßig abends hungrig zum Schlafen legen; Jahr für Jahr verhungern mehrere Dutzend Millionen Menschen oder sterben an Krankheiten, die durch Mangelernährung begünstigt bzw. verstärkt werden. Auf der anderen Seite besteht eine ungeheure Bereicherung. Beides wird zusammengehalten durch eine nationalstaatlich organisierte Weltordnung, die nahezu keine Freiräume läßt. Ob in der fernen Taiga oder inmitten des kongolesischen Regenwalds, ob auf einer entlegenen Pazifikinsel fern aller Handelsrouten oder inmitten pulsierender Megacities - alle Menschen sind in irgendeiner Form einer höheren Administration unterworfen; sie sind vergesellschaftet. Das sei zu ihrem Vorteil, nur so können sie von der Arbeitsteilung sowie dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt profitieren, lautet der ideologische Kitt, der diese Ordnung trotz der eigentlich einander ausschließenden Seiten zusammenbindet.

Es ist jedoch nicht erkennbar, daß die Gesellschaft hält, was sie verspricht, nämlich den einzelnen von der Überlebensnot zu befreien. Denn wenn dieses Versprechen erfüllt wäre, dürfte es nicht jenes Heer an Hungernden und darüber hinaus das noch größere Heer an Menschen, die in unentrinnbarer Armut leben, geben. Somit bleibt zu konstatieren, daß der Vorteil der Vergesellschaftung allem Anschein nach ganz auf Seiten weniger privilegierter Menschen liegt.

Welche Aufgabe kommt angesichts dessen einer global tätigen Einrichtung wie der FAO zu, die neben anderen UN-Institutionen im Umfeld der Bekämpfung des Hungers bzw. der Sicherstellung einer ausreichenden Nahrung und adäquaten Ernährung anzusiedeln ist? Seit fast 70 Jahren arbeitet die FAO an diesen Aufgaben. Deren Erfüllung ist nicht im entferntesten absehbar. Könnte da nicht der Eindruck aufkommen, daß hier eine ordnungspolitische Funktion erfüllt wird, einem Feigenblatt gleichend, das den oben skizzierten Fundamentalwiderspruch verdecken soll? Ist die FAO demnach Bestandteil von Verhältnissen, wie sie in vereinfachter Form in dem Spiel guter Bulle, böser Bulle zum Tragen kommen? Wenn das der Fall wäre, müßte man annehmen, daß jene Hilfsorganisationen daran beteiligt wären, die Gefangenschaft (aller Menschen unter der Obhut der Staatengemeinschaft) angenehmer zu gestalten, nicht aber, sie grundsätzlich vom Joch zu befreien.

In diesem Zusammenhang fällt schon auf, daß sich die FAO laut ihrer Konstitution nicht in die politischen Verhältnisse ihrer Mitgliedsstaaten einmischen soll. Das könnte man als eine Art Maulkorb verstehen. Unbenommen davon bleibt, daß in solchen Institutionen Ideen und Konzepte entwickelt werden, die theoretisch das Leben von Menschen erleichtern könnten. Einer Kleinbauernfamilie in Niger, deren Ernte nicht durch Heuschrecken weggefressen wurde, da die FAO, vielleicht in Verbindung mit der nigrischen Administration, rechtzeitig für eine Bekämpfung der sich anbahnenden Plage gesorgt hat, ist tatsächlich geholfen. Aber braucht es dazu einer Globaladministration? Die Frage wäre wohl nur dann mit einem klaren Ja zu beantworten, wenn die einzige Alternative darin bestünde, das Heuschreckenproblem durch die ominösen Marktkräfte richten zu lassen, wie es in neoliberalen Wirtschaftskonzepten vertreten wird.

Dr. Stephan Baas hat in seinem Vortrag viele wichtige Themen angesprochen, die zu noch viel mehr Fragen Anlaß geben. Die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit eines erheblichen Teils der Menschheit ist nicht erst im Jahr 2050 gefährdet, sondern sie ist es hier und heute. Täglich 24.000 Hungertote lassen das schwer erträgliche Gefühl aufkommen, daß mit dem Bemühen um eine zuverlässige Prognose der zukünftigen Versorgungslage der Menschheit der Blick von der aktuellen Not und ihrer im Politischen verankerten Voraussetzungen abgelenkt wird.

6. November 2012