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BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Einführungsbericht zum Internationalen IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin


Radioaktivität - man sieht sie nicht, man riecht sie nicht, man schmeckt sie nicht und man kann sie nicht anfassen. Aber umgekehrt kann sie den Menschen "anfassen" und eine höchst zerstörerische Wirkung auf ihn ausüben. Entweder schlagartig und womöglich final als Folge einer Nuklearexplosion, wie sie am 6. und 9. August 1945 durch den Abwurf je einer Atombombe über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki ausgelöst wurde, oder schleichend durch radioaktiven Fallout, Ausgasungen von Radon aus dem Gestein, medizinische Anwendungen und nicht zuletzt Emissionen entlang der gesamten Kette der nuklearen Infrastruktur, vom Abbau des radioaktiven Elements Uran bis zur (End-)Lagerung abgebrannter Brennelemente.


Alex Rosen bei seiner Rede - Foto: © 2016 by Schattenblick

Dr. Alex Rosen, stellvertretender IPPNW-Vorsitzender, spricht zur Einführung über ein "Leben mit der atomaren Bedrohung"
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All diese potentiellen radioaktiven Belastungen wurden auf dem Internationalen Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", den die Nichtregierungsorganisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Ärzte in sozialer Verantwortung) vom 26. bis 28. Februar 2016 in Berlin organisiert hat, angesprochen und problematisiert.

Darüber hinaus wurden auch Perspektiven für eine Welt ohne Atomwaffen und ohne Atomkraftwerke entworfen: Energie soll nicht mehr aus der Spaltung dessen, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, gewonnen werden, sondern beispielsweise aus der Umwandlung des Abglanzes des weit entfernten nuklearen Feuers im Innern der Sonne mittels der Photovoltaik. Oder aus der Verbrennung von Biomasse, der Nutzung des permanenten Falls von Wasser, des Windes und vielen weiteren Anwendungen mehr. Der gemeinsame Nenner all dieser Energiegewinnungsverfahren besteht darin oder, genauer gesagt, soll darin bestehen, im Unterschied zur Atomenergie weder der heutigen noch einer zukünftigen Generation Schaden zuzufügen; nicht durch Strahlenpartikel und auch nicht durch den Mangel an Ressourcen.

Historisch gesehen ist Atomenergie eine Begleitfolge des Strebens der Staaten nach der Atombombe, dem bis heute effektivsten Zerstörungsmittel, das der Mensch seit der Entdeckung der Schlagkraft von Keule und Faustkeil gegen seine Artgenossen einzusetzen weiß. Insofern ist es nur konsequent vom IPPNW, sich sowohl gegen die militärischen als auch die zivilen Formen der Atomspaltung zu wenden. Der von mehreren hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem In- und Ausland gut besuchte Kongreß wiederum hat gezeigt, daß diese doppelte Problematik sehr gut unter einem gemeinsamen Dach besprochen werden kann.

Am 26. April 1986, vor beinahe 30 Jahren, explodierte ein Meiler des Atomkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine. Vor rund fünf Jahren, am 11. März 2011, wurde das japanische Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi zunächst von einem Erdbeben, wenige Minuten darauf von einem Tsunami getroffen, woraufhin in drei der sechs Meiler Kernschmelzen einsetzten. Innerhalb der nächsten Tage gefolgt von drei Explosionen sowie einem folgenschweren Feuer in dem mit Brennstäben vollbeladenen Abklingbecken des Reaktors Nr. 4. Zwei Fanale, von denen jedes für sich eigentlich genügen müßte, daß sich die Staaten endgültig von der Idee, Atomenergie sei kontrollierbar und eine nützliche Form der Energiegewinnung, verabschieden.

Da diese Konsequenz bislang außerhalb Deutschlands kaum gezogen wird, verdient jedes Mittel, die Regierungen von einem Kurs in die atomare Zukunft abzubringen, Unterstützung. Dem IPPNW ist es mit diesem Kongreß nicht nur gelungen, die enge Verzahnung von militärischer und ziviler Atomenergienutzung aufzuzeigen, sondern auch die relativ aktuelle Katastrophe von Fukushima mit der, die sich vor drei Jahrzehnten in Tschernobyl ereignete, zu verknüpfen und diese dadurch wieder in die öffentliche Wahrnehmung zu heben. Das ist notwendig, denn die Folgen von Explosion und radioaktivem Fallout sind weder in den am schwersten von der Strahlung heimgesuchten Ländern Ukraine und Weißrußland noch in Deutschland und anderen west- bzw. nordeuropäischen Ländern überwunden.

Doch selbst in den beiden bislang am stärksten verstrahlten Ländern, Japan und die Ukraine, sollen neue Atomkraftwerke gebaut, bzw. abgeschaltete Anlagen wieder hochgefahren werden. China, Indien, Großbritannien und weitere Länder folgen dem von ihnen eingeschlagenen nuklearen Pfad. Diese drei Staaten verfügen bereits über Atomwaffen, andere wollen sie vielleicht über den Umweg Atomenergie erlangen, wiederum andere beschränken sich auf den Bau von Akws, ohne mit der Atombombe zu liebäugeln - in jedem Fall zeichnen sich Atomkraftwerke nicht als eine zuverlässige Energieversorgung, sondern als eine zuverlässiges Einkommensquelle für deren Betreiber aus - aber nur, solange Akw-Strom subventioniert wird. Wäre das nicht der Fall, würden aus ökonomischen Gründen keine Akws gebaut. Allein die Versicherungssumme, um das Risiko eines schweren Atomunfalls, wie er in Tschernobyl oder Fukushima eingetreten und bis heute nicht bewältigt ist, abzudecken, könnte von keinem profitorientierten Unternehmen aufgebracht werden.


Leontchik mit Zimbal auf der Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick

Im Kulturprogramm des IPPNW-Kongresses wußte Michael Leontchik mit seinem meisterlichen Spiel auf dem Zimbal, dem russischen Hackbrett, zu begeistern.
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Die Geschichte der Atomenergie hat nicht nur bewiesen, daß diese Technologie unbeherrschbar ist (was nicht bedeutet, daß sie kein Mittel der Herrschaftsausübung wäre - der Philosoph Robert Jungk hat sich in dem 1977 erschienenen Buch "Der Atomstaat" darum bemüht, dies zu beschreiben) und es etwa alle 25 Jahre zu einem GAU kommt, sondern daß von ihnen auch eine schleichende Gesundheitsgefahr ausgeht, die offenkundig zu einer Anhebung der Krebsanfälligkeit und der Rate anderer Krankheiten beiträgt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch anderen Ländern steigt die Krebsrate bei Kindern, die nur wenige Kilometer von einem Akw entfernt wohnen, signifikant an.

Im ersten Plenum referierte Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, Leiter des Instituts für Versorgungsepidemiologie und Community Health an der Universität Greifswald, über "die Gefahren ionisierender Strahlung". Dabei hat er den Stand der Erkenntnisse zusammengefaßt und verdeutlicht, daß die Exposition von schwach ionisierender Strahlung, unterhalb der offiziellen Grenzwerte, aus gesundheitlichen Gründen tunlichst vermieden werden sollte. Zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangten die Physikerin Prof. Dr. Schmitz-Feuerhake von der Gesellschaft für Strahlenschutz und der Physiker Dr. Alfred Körblein in einem Forum mit dem Titel "Gesundheitliche und genetische Folgen ionisierender Strahlung". Demnach treten teratogenetische Effekte (Mißbildungen) beim ungeborenen Leben auch bei niedrigen Strahlendosen auf. Es gibt keine sichere Dosis.

In einem weiteren Forum präsentierte der Evolutionsbiologe Prof. Timothy Mousseau von der University of South Carolina in Columbia seine Untersuchungen zu den Auswirkungen niedrig dosierter Strahlung auf Pflanzen- und Tierpopulationen in der Tschernobyl-Region und der Präfektur Fukushima. Dabei hat er herausgefunden, daß Tiere wie beispielsweise die Rauchschwalbe (Hirundo rustica) in Folge der Strahlenwirkung eine deutlich erhöhte Mutationsrate aufweisen. Bei manchen Tier- und Pflanzenarten zeigten sich dramatische Konsequenzen hinsichtlich Entwicklung, Reproduktion und Überleben.

Der Themenbereich "Niedrigstrahlung" wurde in dem Forum "Soziale Situation der von Tschernobyl und Fukushima betroffenen Menschen" insofern zurückgelassen, als daß hier von sehr viel höheren Strahlenwerten die Rede war. Tatjana Semenchuk lebte in Pripjat, einer Stadt mit rund 50.000 Einwohnern, als am 26. April 1986 im vier Kilometer entfernten Atomkraftwerk Tschernobyl jene verhängnisvolle Explosion erfolgte. Die Menschen sahen, aber begriffen zunächst nicht, was geschehen war, haben aber dann nach und nach Informationen erhalten und sind geflohen. Einen Tag darauf wurde die gesamte Stadt evakuiert; sie ist bis heute nicht wieder besiedelt.

Was Semenchuk aus eigenem Erleben schilderte, gab im selben Forum die japanische Soziologin Prof. Masae Yuasa von der Hiroshima City University am Beispiel von Zitaten der Bewohnerinnen und Bewohner der Präfektur Fukushima wieder: Angst, Ungewißheit, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit waren einige der negativen Gefühlsregungen, die auszulösen die Atomenergie anscheinend sehr geeignet ist.

"Wie ist eine unabhängige Forschung zu gewährleisten?" fragte in einem weiteren Forum Dr. Keith Baverstock, ehemaliger Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO - World Health Organization). Er rührte damit an einen wunden Punkt, denn diese Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist in Fragen der Strahlenfolgen von der Zustimmung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA - International Atomic Energy Agency) abhängig, die wiederum der Förderung der Atomenergie verpflichtet ist. Das weckt nicht unbedingt Vertrauen in die Unabhängigkeit und damit Seriosität der WHO-Expertisen zu den Folgen ionisierender Strahlung an den nuklearen Brennpunkten der Welt. In der Wissenschaft würde man an dieser Stelle von einem glasklaren Interessenkonflikt sprechen.


Ken steht mit dem Rücken zum Publikum und präsentiert seine blitzschnell aus weiß ummantelten Draht gebogenen Engelsflügel - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ken und Mako Oshidori berichteten in humorvollen, quirligen Einlagen von Enten, Ampelmännchen und, wie man hier sieht, Engeln ...
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Wenn es der Bundesrepublik Deutschland als einer der größten Wirtschaftsnationen der Welt gelingen sollte, aus der Atomenergie auszusteigen, ohne daß hier die Lichter ausgehen, hätte das weltweit Vorbildcharakter. (Womit keine Empfehlung für den hohen Stromverbrauch durch die sogenannte Lichtverschmutzung in Deutschland ausgesprochen werden soll ...) Der "Atomausstieg" ist gar keiner, behaupten Irene Thesing von ContrAtom und Peter Bastian vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen und wissen gute Argumente auf ihrer Seite: Die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Wiederaufbereitungsanlage in Lingen sind vom Ausstiegsbeschluß unberührt. Tagtäglich finden kreuz und quer durch Deutschland Atomtransporte statt.

Mit dem Thema "Energie, Krieg & Frieden" eröffneten Henrik Paulitz (IPPNW) und Claudia Haydt (IMI, Informationsstelle Militarisierung) ein weiteres Konfliktfeld. Der Kampf um Energieressourcen betrifft zwar anscheinend vorwiegend fossile Energieträger wie Erdöl und Erdgas, da ein großer Teil des weltweit verbrauchten Urans in relativ stabilen Ländern (Kasachstan, Australien, Kanada) abgebaut wird, aber auch in Niger und damit in direkter Nachbarschaft zu den Bürgerkriegsländern Mali und Libyen sowie zu Nordnigeria, in dem Regierungstruppen die Organisation Boko Haram bekämpfen, befinden sich größere Uranminen.

Zu den weiteren konfliktgeladenen Themen, über die man sich auf der dreitägigen Konferenz ausgetauscht hat und die hier nicht alle erwähnt wurden, gehörten der Uranabbau, der Rückbau von Akws, die Bewältigung der Unmengen an aufgehäuftem Atommüll und die Möglichkeit, einen Ausstieg aus der Atomenergie in ganz Europa und schließlich der ganzen Welt zu erreichen.

Aus den vielen Veranstaltungspunkten ragten zwei besonders hervor, deutlich erkennbar an der Länge und Heftigkeit des Applauses des in beiden Fällen vollbesetzten großen Saals in der Urania und anschließend der nachdenklichen Stimmung des Publikums. Zum einen betraf dies die Work-in-Progress-Vorführung des Dokumentarfilms "Unavoidable" des in Japan lebenden Filmemachers Ian Thomas Ash. Er hat es verstanden, mit unbewegter Kamera und sparsamen Schnitten die Aussagen rund eines Dutzend Zeugen der Fukushima-Katastrophe festzuhalten und zu einem höchst spannenden Film zusammenzuschneiden. Zum anderen die flammende Rede von Dr. Helen Caldicott, Mitbegründerin und ehemalige Präsidentin der Physicians for Social Responsibility (PSR), Unterstützerin der Gründung des IPPNW und der Initiative Women's Action for Nuclear Disarmament (WAND).

Die ausgebildete australische Kinderärztin, die sich seit Jahrzehnten für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzt und dabei bis zu den höchsten politischen Entscheidungsträgern vordringt, hat ihren Vortrag mit "Courting Armageddon - Der Tanz auf dem Vulkan" überschrieben. Caldicott berichtete, wie gefährlich die Politik der US-Regierung ist, wenn sie weiterhin Rußland militärisch umzingelt, Stellvertreterkriege vom Zaun bricht und mit Kriegsschiffen im Chinesischen Meer kreuzt. In dem Interview, das der Schattenblick im Anschluß an die Rede mit Helen Caldicott geführt hat und das in Kürze veröffentlicht wird, sagte sie, daß der Zeiger der Doomsday Clock (Weltuntergangsuhr) auf 1 Min. 30 Sek. vor zwölf gestellt werden müßte. Zum Vergleich: Während der Kubakrise 1961, dem gefährlichsten Moment des Kalten Kriegs, stand er "nur" auf 2 Min. vor zwölf.


Susanne Grabenhorst steht am Pult, neben ihr auf der Bühne sitzt Helen Caldicott - Foto: © 2016 by Schattenblick

Susanne Grabenhorst, Vorsitzende des IPPNW, kündigt Dr. Helen Caldicott an
Foto: © 2016 by Schattenblick

Daß die zivile Atomenergienutzung ursprünglich eine Begleitfolge des Strebens nach der Atombombe war, schließt das seit langem bestehende eigenständige Interesse der Staaten an dieser zentralistisch und einen hohen Sicherheitsaufwand nach sich ziehenden Technologie nicht aus. Es ist gar nicht zu übersehen, daß durch die Produktion von Atomstrom schwerste "Kollateralschäden" an Mensch und Umwelt bewirkt werden. So etwas hat jedoch für die vorherrschenden gesellschaftlichen Kräfte noch nie ein ernsthaftes Hindernis bei der Verfolgung ihrer Interessen dargestellt. Im Gegenteil, die Gefahren der gegen den Willen eines großes Teils der Bevölkerung durchgesetzten Atomtechnologie bilden die Basis für die Sicherung eigener gesellschaftlicher Vorteilspositionen. Die mittels der nuklearen Bedrohung produzierten Zwangslagen werden zur Legitimation des Sicherheitsstaats und zur Einschränkung vormaliger Bewegungsmöglichkeiten der Bevölkerung herangezogen.

Genau deshalb könnte über den vom IPPNW-Kongreß geforderten Aufruf zur Abschaffung der Atomwaffen und der Atomkraftwerke und der erklärten Fürsprache für Erneuerbare Energien hinaus das Feld für eine weitergehende Auseinandersetzung betreten werden. Dabei wären im ersten Schritt auch jene Lockangebote, wie sie der grüne Kapitalismus bereithält - jedem sein Elektroauto, anstatt beispielsweise den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten; Subventionierung riesiger Offshore-Windparks, während der Eigenverbrauch von Solarstrom besteuert wird - rigoros auszuschlagen.


(Der Schattenblick wird die Aufarbeitung des IPPNW-Kongresses mit einer Reihe von Interviews und Berichten fortsetzen.)


Kongreßteilnehmende stehen dicht an dicht auf einer Treppe und halten jeweils ein schwarzes Plakat hoch, so daß sich über drei Stufen verteilt die Schrift ergibt: 'F5 T30 Radiation kills' - Foto: © 2016 by Schattenblick Kongreßteilnehmende stehen dicht an dicht auf einer Treppe und halten diesmal jeweils ein weißes Plakat hoch, so daß sich über drei Stufen verteilt die Schrift ergibt: 'F5 T30 Nuclear Free World' - Foto: © 2016 by Schattenblick

Streiten für eine Welt ohne Atomwaffen und Atomenergie
Foto: © 2016 by Schattenblick

2. März 2016


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