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INTERVIEW/054: Saatgutdesaster - freie Saat (SB)


Dr. Susanne Gura und Andreas Riekeberg im Gespräch mit dem Schattenblick

im Anschluß an die Pressekonferenz "Konzernmacht über Saatgut - Nein danke!" am 26. Juli 2013 in Hamburg



"Saatgut ist eine unverzichtbare Basis für den Anbau unserer Nahrungsmittel in Landwirtschaft und Gartenbau", beginnt die Informationsbroschüre "Widerständige Saat" der Kampagne für Saatgut-Souveränität, in der darüber aufgeklärt wird, mit welchen agrarpolitischen Bestrebungen im Zusammenspiel mit der Saatgut- und Ernährungsindustrie Entwicklungen vorangetrieben werden, die diese Basis im biologischen, ernährungswissenschaftlichen, agrarwissenschaftlichen wie ideellen Sinne zunehmend in Frage stellen und damit in letzter Konsequenz den Menschen nicht nur die Butter vom Brot, sondern gleichzeitig auch das Brot vom Teller nehmen könnten, das ohnehin nicht in ausreichender Menge und Nährstoffqualität für alle Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. [1]

Vor allem die Vielfalt (heute oft: Biodiversität) von Kultur- und Nutzpflanzen, die seit Anbeginn der Landwirtschaft aus dem biologischen Fortpflanzungszyklus durch natürliche Anpassung oder gezielte Selektion so zahl- und artenreich hervorgingen, wie es Gärtner und Landwirte gab, die sie nutzten, ist immer mehr in Gefahr. Die Welternährungsorganisation spricht von einem weltweiten Sortenrückgang von 75 Prozent in den letzten 100 Jahren. In der EU beträgt der Schwund allein bereits 90 Prozent.

Ein Plakat für einen Hamburger Stadteil-Wochenmarkt wirbt mit den Worten: Vielfalt, Frische, Freunde! - Foto: © 2013 by Schattenblick

Vielfalt als Qualitätsmerkmal für Agrarprodukte in der Werbung. Auf den Feldern, Äckern und Obstplantagen werden alte Nutzpflanzen- und Vielfaltsorten immer mehr von den chemiegestützten Angeboten der Saatgut- und Agrarchemie-Industrie verdrängt.
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf der anderen Seite sammeln Biologen und Agrarwissenschaftler in etwa 1400 Saatgutbanken (wie der sogenannte Global Seed Vaults in Savldbard) weltweit noch verbliebene Sortenbestände ein, um den wertvollen und unwiederbringlichen "Genpool" alter, ursprünglicher Sorten mit ihren besonderen Eigenschaften als Basis für die Grundlagenforschung zu erhalten. Denn im Bedarfsfall, der sich aus den Folgen des Klimawandels, neu auftretenden Pflanzenkrankheiten, der Bodendegradation, des Nährstoff- und Wassermangels und anderen Problemen des globalen Wandels ergeben könnte, will man auf solche konservierten Bestände zurückgreifen können.

Warum aber die ursprüngliche Vielfalt nicht wie seit Beginn der Landwirtschaft vor Tausenden von Jahren auf traditionelle Weise von Generation zu Generation weitergegeben und genutzt wird, ist eine Folge von mächtigen Wirtschaftsinteressen, die vor allem die Ausdehnung ihres eigenen Einflusses auf den Weltmärkten anstreben und dabei keine Mittel scheuen.

Hat man vielleicht noch die in der Schule erlernte Vorstellung, daß in einem Samenkorn all jene Anlagen enthalten sind, die es befähigen, sich bei ausreichenden Nährstoffen, Wasser und Licht zu einer Pflanze zu entfalten, die Früchte und wieder neue Samen hervorbringt, welche dann wieder vom Bauern als neues Saatgut genutzt werden können, muß man heute feststellen, daß es Saatgut- und Agrarkonzernen in ihren Labors inzwischen gelungen ist, den natürlichen Prozeß dieser Saatgut-Vermehrung durch spezielle und legale Zucht-Manipulationen z.B. mit ertragreichen Hybridsorten [2] zu unterbinden und damit einen kontrollierten Zugriff auf diese grundlegende Ressource der Nahrungsmittelproduktion zu erlangen.

Foto: 2010 by The Cookiemonster via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-2.0 Generic Lizenz

Ein Sämling - Für den Laien nicht zu erkennen, was einmal aus ihm wird. Bereits hier werden die Eigenschaften für die Zulassung festgelegt.
Foto: 2010 by The Cookiemonster via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-2.0 Generic Lizenz

Hierzulande läßt sich ein Großteil des Verlusts an genetischer Vielfalt auf den Äckern allerdings auf die Zulassungsregeln des EU-Saatgutrechts zurückführen, welche die Marktmacht von wenigen Saatgutkonzernen zusätzlich befördern. Ein am 6. Mai 2013 vorgelegter Vorschlag zur Reform dieser Gesetzgebung stellt laut einer gemeinsamen Analyse des Verbunds von Spezialorganisationen wie Vielfalts-Erhaltern, Bio-Züchtern, Verbraucher- und Umweltorganisationen [3] noch eine weitere Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzung dar, die es für viele kleine Landwirtschaftsunternehmen unattraktiv macht, selbst Saatgut zu erzeugen, auch wenn es nichtkommerziell verbreitet würde, und die statt dessen das Saatgutmonopol einiger weniger Großkonzerne ausbauen helfen wird. Letztere seien aber mehr an dem profitbringenden Verkauf von Agrarchemikalien als an gesundem, vielfältigen Saatgut interessiert.

Eine grundlegende Kehrtwende, der dringend notwendige Paradigmenwechsel, um Landwirtschaft umwelt- und menschenverträglich zu gestalten, könnte damit verpaßt werden, lautet die unter dem Motto "Konzernmacht über Saatgut? - Nein danke!" zusammengefasste Warnung des Bündnisses, das am 26. Juli 2013 im Bistro der Hamburger Petri Kirche ihre Forderungen an EU-Ministerrat und EU-Parlament in einer gemeinsamen Erklärung der Presse vorstellte. [4] Hierzulande wollen Menschen wieder über den Anbau ihrer Nahrungsmittel soweit wie möglich selbst bestimmen, so ein Argument des Bündnisses. Ziele sind unter anderem Selbstbestimmung, Ernährungs- und schließlich Saatgut-Souveränität, wie sich im Verlauf eines weiterführenden Gesprächs ergab, das der Schattenblick mit den beiden Stellvertretern des Bündnisses, Frau Dr. Susanne Gura (Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt), und Andreas Riekeberg (Kampagne für Saatgut-Souveränität) im Anschluß an die Pressekonferenz führen konnte [5].

Vielfältiges Saatgut ist ihrer Ansicht nach auch keine ausreichende Antwort auf das derzeitige Umwelt- und Welternährungsproblem, könnte aber durch sein breites Spektrum an Eigenschaften zu einer größeren Resilienz (Pufferkapazität) der Agrarwirtschaft gegenüber kommenden Problemen verhelfen. Während die beiden Vertreter der Kampagne allerdings mit dem Erreichen ihres Ziels, die Vielfalt der Kulturpflanzen durch ihre geförderte Nutzung wieder herzustellen, der Landwirtschaft den Status einer Kulturerrungenschaft zurückgeben wollen, den sie sich nach allgemeinem Verständnis mit der Sicherung der Ernährung in der Geschichte der Menschheit am Wendepunkt vom Nomaden- zum Bauerntum einmal verdient hatte, drängt sich der Gedanke auf, daß mit jenem kulturellen Wendepunkt auch alle damit verbundenen Umgangs-, Gebrauchs- und Nutzungsformen der vorrats-, mehrwert- oder profitorientierten Landwirtschaft den Menschen in negativer Hinsicht längst überholt haben. Die Machtansprüche der Agrarindustrie und Saatgutkonzerne sind somit nur der vorläufige Endpunkt einer unheilvollen Entwicklung oder die zwangsläufige Folge dieser Orientierung über das unmittelbare Stillen des Hungers des Nomaden hinaus, der die Samen der Gräser im Vorübergehen als Nahrung verspeiste.

Wildwachsende Gräser am Wegesrand - Foto: © 2013 by Schattenblick

Vom Grassamen bis zum Kulturgetreide - Was bedeutete der kulturelle Wendepunkt zum Bauerntum für die pflanzliche Vielfalt?
Foto: © 2013 by Schattenblick

Getreidefeld - Foto: 2010 by Alupus via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz

Eine der ersten Kulturpflanzen, das Einkorn: Kulturpflanzen weisen im Gegensatz zu Wildpflanzen typische Veränderungen auf.
Foto: 2010 by Alupus via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz

Foto: © 2013 by Schattenblick

Andreas Riekeberg und Susanne Gura
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Folgen der EU-Gesetzgebung [6] und die Beschränkung der Kulturpflanzen auf wenige Sorten könnten allerdings weltweite Konsequenzen für die Zukunft der Landwirtschaft haben, an die hinsichtlich der zu erwartenden Herausforderungen des globalen Wandels bereits jetzt hohe Erwartungen gestellt werden. Wissenschaftliche Zusammenhänge, Lösungswege und soziale Probleme oder Fragen, die sich darüber hinaus für Umwelt und Menschen ergeben, waren Themen des folgenden Gesprächs.

Schattenblick (SB): Herr Riekeberg, Sie sind Pfarrer und auch an mehreren Umweltprojekten beteiligt, in denen es nicht nur um das Saatgut geht. Sie, Frau Dr. Gura, vertreten die wissenschaftliche Seite. Ihr Engagement für das vielfältige Saatgut in vielen Projekten und Aktionen läßt vermuten, daß es bei Ihnen um mehr geht, als um den Erhalt des Kulturwertes.

Was bedeutet vielfältiges Saatgut oder der Erhalt alter Pflanzensorten und was hat Sie dazu motiviert, sich auf diese Weise um einen vielfältigeren Anbau zu kümmern?

Andreas Riekeberg (AR): Vor etwa zwanzig Jahren bekam ich ein Buch von Cary Fowler und Pat Mooney "Die Saat des Hungers" zu lesen, worin sie über den horrenden Verlust an Sortenvielfalt, also die Erosion der Biodiversität, schreiben. Das hat mich für das Problem sensibilisiert, so daß ich danach immer wieder auch bei anderen Aktivitäten darauf gestoßen bin. Ich habe beispielsweise Dritte-Welt-Laden-Arbeit gemacht, bei der Beschäftigung mit Landwirtschaft in Afrika war Biodiversität immer wieder ein Thema. Seither finde ich es einfach enorm wichtig, darauf zu achten, daß die Vielfalt an Pflanzensorten erhalten bleibt und gefördert wird, um nicht mehr in Abhängigkeit von Saatgutanbietern, also auf deutsch gesagt von der Chemieindustrie zu geraten.

Natürlich kann man das auch in den religiösen Kontext stellen, wenn man sich klar macht, daß die Erzeugung der Saatgutvielfalt das Ergebnis von 10.000 Jahren Landwirtschaft und Gartenbau ist, das heißt von genetischer Evolution. So lange sind die Sorten in ihrer heutigen Vielfalt gezüchtet worden, und sich darum zu kümmern, daß dieses Erbe gewahrt bleibt, ist gewissermaßen eine Form, das vierte Gebot zu erfüllen: Ehre Vater und Mutter, auf daß es Dir wohlergehe und Du lange lebest auf Erden. Also die Vorfahren dadurch zu ehren, daß man das Erbe der Sortenvielfalt für die künftigen Generationen bewahrt und zur Verfügung stellt. Niemand weiß, mit welchem Saatgut man in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren vernünftig Landwirtschaft und Gartenbau treiben kann. Da muß man nur an den Klimawandel denken, der die Umweltbedingungen verändern wird.

Von daher ist es enorm wichtig, das Saatgut nicht nur in Saatgutbanken irgendwie tiefgefroren zu haben, sondern eine möglichst breite Vielfalt von Nutzpflanzen auf dem Acker zu haben und daraus Saatgut zu gewinnen.

Cary Fowler, früherer Chef des Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt, vor der seinerzeit noch im Bau befindlichen Saatgutbank auf Spitzbergen, der zwei typische Saatgut-Konservierungsbehälter in der Hand hält. - Foto: 2007 by Bair 175 via Wikimedia als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz

Anders als Cary Fowler vertritt das Bündnis den Erhalt von Vielfalt durch ihre Nutzung.
Foto: 2007 by Bair 175 via Wikimedia als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz

SB: Sie arbeiten also dafür, daß man Saatgutvielfalt durch die landwirtschaftliche Nutzung erhält und nicht allein durch Konservierung von "Gen-Material".

AR: Genau, Erhaltung durch Nutzung und aus Respekt vor den Vorfahren und im Verantwortungsbewußtsein für die kommende Generation, die auch eine entsprechende Saatgutvielfalt braucht.

SB: Es sollen ja bereits etwa 1400 Saatgutdatenbanken existieren, in denen die Samen alter Nutzpflanzensorten gesammelt und ihre Eigenschaften dokumentiert werden, um sie quasi im Bedarfsfall verfügbar machen zu können. Was unterscheidet die Vermehrung durch Nutzung von dieser rein wissenschaftlich-archivarischen Herangehensweise? [7]

SG: In diese Genbanken werden ganz kleine Portionen eingelagert und keimfähig gehalten. Die Dauer der Keimfähigkeit ist je nach Kulturpflanzenart und Lagertemperatur ganz unterschiedlich. Deswegen wird die Umgebung in den Saatgutbanken entsprechend runtergekühlt und wenn die jeweilige Zeit abgelaufen ist, wird dieses Saatgut ausgesät, daraus neue Samen gewonnen und davon wieder erneut kleine Portionen eingelagert.

Das Verfahren ist für Saatgut vergleichbar mit jemandem, der im künstlichen Koma liegt. Das so konservierte Saatgut kann nicht mit den aktuellen klimatischen Entwicklungen oder Pflanzenkrankheiten, Schädlingen oder Parasiten beispielsweise, Schritt halten. Ganz anders, wenn man es nutzt. Die Nutzung hat unendlich viele Vorteile gegenüber der Genbank-Erhaltung. Sie kann an vielen verschiedenen Plätzen gleichzeitig erfolgen, und unter den vielen unterschiedlichen Bedingungen entwickelt sich das Saatgut in verschiedene Richtungen, weil es sich immer wieder neu anpassen muß. Ich spreche hier von Saatgut, das nicht homogen ist, keine Hybridsorte ist, nicht aus der Industrie kommt, also von vermehrbaren, sogenannten samenfesten Sorten. [8]

Es geht auch nicht allein um Saatgut. Ganz wichtig ist auch, daß es bei der Nutzung durch vieler Leute Hände geht. Um Saatgut zu erhalten, muß es Menschen geben, die wissen, wie man damit umgeht, wie man es anbaut, verwendet und vermehrt. Dieses Wissen und diese Fertigkeiten muß man pflegen, sonst wird es vergessen, und man muß sie an andere weitergeben.

Der Svalbard Global Seed Vault, Eingang zu einem stählernen Saatgut-Bunker im Permafrostboden. - Foto: 2012 by Bjoertvedt via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz

Künstliches Koma oder lebendig begraben? - Der Permafrostboden um den Saatgut-Tresor auf Spitzbergen soll für die langfristige Einlagerung von Saatgut aus aller Welt zum Schutz der Arten- und Varietäten-Diversität von Nutzpflanzen eine Art Kältepuffer bieten, falls die Kühlung ausfällt. Bereits nach dem ersten Sommer 2008 war der Permafrostboden allerdings wärmer als erwartet und der Stahlmantel des Saatgut-Sarkophags mußte nachgebessert werden.
Foto: 2012 by Bjoertvedt via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz

SB: Ein Argument, mit dem viele ökologisch wenig sinnvolle Praktiken in der Landwirtschaft immer wieder verteidigt werden, beispielsweise auch der Einsatz von empfindlichen Hochleistungssorten und der sich daraus bedingende Bedarf an Chemikalien, ist, daß ein Landwirtschaftsbetrieb seine Betriebskosten so gering wie möglich halten muß, ohne daß sich der Landwirt selbst ausbeutet. Geht man denn generell davon aus, daß der Einsatz von vielfältigem Saatgut weniger wirtschaftlich oder profitabel ist?

SG: Produktivität ist hier eine Frage der Definition. Beim traditionellen Reisanbau in Asien ist es noch üblich, alles mögliche in einem Reisfeld zu kultivieren, nicht nur Reis. Reis ist überwiegend Naßreis, das heißt er wächst die ersten Monate unter einem Wasserspiegel. In diesem Wasser werden aber auch Fische und Enten gehalten, darüber hinaus gibt es darin Wassergemüse. Eine Untersuchung aus Japan hat ergeben, daß etwa 3.000 verschiedene Arten in so einem Reisfeld existieren. Und davon wird ein großer Teil ebenfalls für die Ernährung genutzt.

Da stellen sich dann Agrarforscher hin und vergleichen die Produktivität dieser traditionellen Reissorte, die eine Tonne pro Hektar bringt, mit einer weitergezüchteten Hochleistungssorte, die vielleicht drei Tonnen pro Hektar erzeugt, aber sonst nichts. Es wird überhaupt nicht mehr über die tausend anderen Dinge gesprochen, die auch in Reisfeldern wachsen. Bei der industriellen Landwirtschaft wächst das nicht mehr. Von der damit verbundenen Chemie-Anwendung gehen die Fische ein. Die Enten dürfen gar nicht in die Nähe der Felder kommen, solange dort Pestizide angewendet werden. [9]

SB: Eine Reissorte wird sich von einer anderen sicherlich auch noch in weiteren Eigenschaften unterscheiden als nur im möglichen Ernteertrag?

SG: Ja sicher, der Begriff der Produktivität muß sehr genau hinterfragt werden! Und dann stellt sich auch noch die Frage, ob man nur die betriebliche Ebene betrachten will oder ob man beispielsweise Umweltwirkungen, Umweltschäden in Folge des Anbaus mit in die Bilanz einkalkuliert, das ergibt dann gleich einen völlig anderen Eindruck.

AR: Und natürlich auch die Frage, worauf die Produktivität bezogen wird, auf den Einsatz von Arbeitskräften, auf die Fläche, auf den Energieeinsatz?

SG: .. oder auf das Kapital!

AR: Also ich habe keine genaue Statistik darüber, aber in der Schule habe ich noch gelernt, in der mittelalterlichen Landwirtschaft wurden aus einer Kalorie menschlicher oder tierischer Arbeitskraft zehn Kalorien Nahrung gemacht. Heute braucht man zehn Kalorien fossiler Energie, um eine Kalorie Nahrungsmittel-Energie zu erzeugen. Die Energieproduktivität unserer hochindustrialisierten Landwirtschaft ist allein von den Dimensionen gesehen also um zwei Größenordnungen geringer als sie es vor 500 Jahren gewesen ist. [10]

Der Weltagrarbericht hat nun gezeigt, daß die Flächenproduktivität in kleinbäuerlicher Mischbewirtschaftung höher ist als die Flächenproduktivität von Monokulturanbau.

Es gibt nur einen Faktor, bei dem es - wenn man so will - einen Produktivitätsvorteil gibt, und das ist die auf die Arbeitskraft bezogene Produktivität.

Aber was heißt das in der Konsequenz für dicht besiedelte Gegenden, in denen es viele Menschen gibt, aber eigentlich nicht genug Fläche? Da ist es doch ziemlich fragwürdig "arbeitskraftproduktiv" zu wirtschaften, also die Leute vom Land zu vertreiben, sie in die Städte abwandern zu lassen, um dann mit wenigen Leuten auf dem Land unter hohem Energieeinsatz die Nahrung für die Menschen in den Städten zu produzieren, wenn eigentlich in kleinteiliger Landwirtschaft alle Leute auf dem Land ihr Auskommen haben könnten.

SB: Darüber hinaus wird von der Landwirtschaft in den nächsten Jahren erwartet, zumindest die Probleme des globalen Wandels, von dem sie betroffen ist, abzupuffern oder sogar zu lösen: Das Problem, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, die Klimaerwärmung mit entsprechend hitzeresistenten Pflanzen zu meistern und mit der Bodendegradation, den schwindenden Nährstoffressourcen im Boden (Peak-Phosphor beispielsweise in 50 Jahren), der Abnahme der Wasserqualität, der Versalzung von Böden fertig zu werden. Sind diese hochgesteckten Erwartungen mit dem Bestreben, "die Artenvielfalt der Nutzpflanzen zu erhalten" einzulösen? Könnte hier vielleicht eine Forschung, die sich mehr auf das Potential, das bereits im vielfältigen Saatgut enthalten ist, konzentriert, nicht einige dieser Probleme in die Hand nehmen?

SG: Ja, und sogar um vieles besser. Denn die Bodendegradation wird ja im Wesentlichen durch die chemische Landwirtschaft verursacht. Die eingesetzten Chemikalien zerstören die Bodenorganismen und dadurch geht der Humus verloren [11]. Man kann das übrigens regelrecht sehen, wenn man heute mal über chemisch gedüngte Felder geht, da findet sich quasi nur noch Sand. Der Ackerboden hat überhaupt keine Struktur [12] mehr, wenn zwanzig Jahre lang Chemie drauf gekippt wurde. Umgekehrt kann ein Boden, der nicht chemisch gedüngt wird, einen entsprechenden Humusgehalt und so auch die Struktur hat, zum Beispiel viel mehr Wasser aufnehmen. Der könnte jetzt bei den viel diskutierten Klimakapriolen auch in langen Dürrephasen wesentlich produktiver sein als ein chemisch gedüngter Boden.

AR: Ja, und dann wären sicherlich auch Forschungsprojekte für eine weitere Sortenentwicklung nötig. Im Bereich Eiweißfuttermittel hat man mittlerweile auch staatlicherseits erkannt, daß die Weiterentwicklung fast zwanzig Jahre stagniert hat, weil eben das billige Sojaeiweiß importiert worden ist. Inzwischen hat man sich besonnen und nun gibt es langsam wieder erste Programme, in denen man sich auf heimische Eiweißfuttermittel ausrichtet, also Lupinen oder andere eiweißreiche Nutzpflanzen anbaut, die man auch hierzulande für die Tierhaltung gebrauchen kann, während man damit gleichzeitig den Boden verbessert. [13]

SB: Sie hatten in der Pressekonferenz vorhin bei der in der Reform der Saatgutgesetzgebung vorgesehenen Registrierpflicht für Saatgut-Kleinanbieter [4] erwähnt, daß dies unter anderem mit vorgehaltenen Pflanzengesundheitsgründen gerechtfertigt wird. Damit soll gewährleistet sein, daß keine Pflanzenkrankheiten verbreitet werden, es führt aber dazu, daß Kleinanbieter der Aufwand zu groß ist und damit womöglich die von ihnen erzeugten speziellen Saatgutsorten - letztlich also Sortenvielfalt - verloren geht. Nun hört man z.B. in letzter Zeit häufiger von der zunehmenden Verbreitung von Krankheiten gerade in Hochleistungssorten. Könnte sich die Hochleistungszüchtung vielleicht irgendwann selbst überleben? Beispielsweise soll an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste augenblicklich sehr viel giftiges Mutterkorn auftreten. [14] Das beschränkt sich zwar noch auf Schlickgras, gibt jedoch zu denken ...

SG: Auf jeden Fall sind die Produkte aus der Agroindustrie oft weniger widerstandsfähig. Das ergibt sich ganz leicht, wenn die Züchtungsauswahl so eng an ein Ziel, also den Ertrag, gebunden ist. Die Widerstandsfähigkeit gründet sich nicht, wie man uns gerne glauben machen will, auf einzelnen Genen, sondern in der Regel auf einer Vielzahl von Genen. Wir haben da ein schönes Beispiel aus der Apfelzüchtung. Apfelschorf ist die wichtigste, wirtschaftlich gefürchtetste Krankheit im Apfelanbau. Man hat zehn Jahre Forschung investiert, um ein bestimmtes Wildapfel-Gen in die Sorte "Topas" reinzuzüchten, damit dieser Apfel schorfresistent wird. Aber der Schorfvirus hat auch nur knapp zehn Jahre gebraucht, um diese Resistenz erneut zu durchbrechen, denn die saß ja nur auf einem einzigen Gen. Wenn die Resistenz auf mehrere Gene verteilt ist, wie bei manchen alten Sorten, wie wir sie bereits in Deutschland haben, wird es schon schwieriger. Eine der ältesten deutschen Apfelsorten ist der Edelborsdorfer, der ist 800 Jahre alt und seit 800 Jahren schorfresistent.

Äpfel in einem Korb - Foto: 2010 by Sven Teschke via Wikimedia als CC-BY-SA-3.0 Germany Lizenz

Seit 800 Jahren schorfresistent - Der Edelborsdorfer
Foto: 2010 by Sven Teschke via Wikimedia als CC-BY-SA-3.0 Germany Lizenz

SB: Und derart bewährte Nutzpflanzen, die nur noch von Kleinanbietern oder Liebhabern gezüchtet und gepflegt werden, hätten nach der Reform des Saatgutrechts, so wie es der Entwurf derzeit vorsieht, einen schwereren Stand. Ich würde gerne noch einmal auf die sogenannten DUS-Kriterien zurückkommen, die, abgesehen von der nachzuweisenden Pflanzengesundheit oder Erregerfreiheit, eine Nutzpflanze aufweisen muß, damit ihr Saat- oder Pflanzgut nicht durch das Zulassungsraster fällt. DUS steht für englisch 'distinct' (unterscheidbar), 'uniform' (einheitlich) und 'stable' (beständig). Wie wird die Notwendigkeit dieser Kriterien zum Beispiel von Seiten der Wissenschaft begründet?

AR: Der Hintergrund ist hier der Sortenschutz. Wenn ich ein geistiges Eigentumsrecht auf eine Sorte haben will, dann muß ich sie genau definieren und eindeutig von anderen unterscheiden können, sonst ist es keine neue Sorte. Darüber hinaus hat man die Bedingungen so konstruiert, daß eine Sorte, an die dieser Anspruch gestellt wird, mindestens 10 Jahre lang nach jedem Vermehrungszyklus unverändert gleich bleibt. Sie muß eine "Einheitlichkeit" haben [15]. So kommt man auf diese drei Kriterien: Unterscheidbarkeit, Einheitlichkeit bzw. Homogenität und Stabilität.

SB: Was ist dabei die Stabilität?

AR: Die Unveränderlichkeit der Sorte über die Zeit ...

Bilder von verschiedenen Getreidesamen - Foto: by USDA (public domain)

Neue Sorten müssen homogen, beständig und unterscheidbar von bisherigen Sorten sein. Um das zu überprüfen, braucht es aufwendige Verfahren und jahrelange Erhaltungszucht von Saatgutmustern - Weizen-, Roggen- und Triticalesaatgut.
Foto: by USDA (public domain)

SG: Das heißt auch, daß ein Saatgut-Muster hinterlegt wird und jemand dazu bestimmt werden muß, eine Erhaltungszüchtung für diese Sorte zu machen, in der sie als Vergleichsmuster so erhalten wird, wie sie angemeldet wurde. Auf diese Weise kann man dann in 10 Jahren noch überprüfen, ob das gegenwärtige Saatgut dieser Sorte dem ursprünglichem entspricht.

AR: Das Konzept kommt aus dem Sortenschutz, mit dem das geistige Eigentum an Pflanzenzüchtungen geschützt werden soll, ist dann aber auf die Marktzulassung, also das Saatgutrecht, übertragen worden.

SB: Nun scheint eine Zulassung, um Ansteckungen oder Krankheiten zu verhindern, durchaus sinnvoll. Aber wozu diese Kriterien von Gleichheit und Einheitlichkeit über lange Zeit?

SG: ... um alles vom Markt zu fegen, was diesen Kriterien nicht entspricht. Nehmen wir beispielsweise einmal nur das Kriterium der Homogenität. Die wird natürlich je nach Art anders bemessen. Das heißt, es wird für jede einzelne Art genau festgelegt, welche arttypischen äußere Merkmale immer wieder überprüft werden und gleich bleiben müssen.

Die Unterschiede sind allerdings immer feiner und mit dem bloßen Auge kaum noch zu erkennen. Da wird dann beispielsweise noch am zweiten Keimblatt unten links ein winzig kleiner Unterschied definiert, der für den Landwirt vollkommen irrelevant, aber für die Zulassung wichtig ist, um das Kriterium der Unterscheidbarkeit zu erfüllen. Und dann muß es homogen sein, also an jedem zweiten Keimblatt eines Vertreters dieser Art vorkommen.

Darüber hinaus ist man bei den immer feiner werdenden Kriterien inzwischen schon auf der molekularen Ebene angekommen. Der Vergleich im Molekülbereich wird zunehmend ein wichtiger Punkt werden, die Sortenämter rüsten hierfür schon auf, es werden große Laboratorien gebaut und da hat natürlich ein konventioneller Züchter oder Kleinanbieter kaum noch eine Chance mitzuhalten.

Laborantin im weißen Kittel bearbeitet eine Rapspflanze mit der Schere - Foto: © 2008 by BASF SE (für Berichterstattung von BASF zur Verfügung gestellt)

Nutzpflanzenlabor der BASF: Hier werden unreife Rapssamen auf Trockeneis gelegt und schockgefrostet. So werden die Stoffwechselprozesse gestoppt, und die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe kann genau analysiert werden. Ziel ist es, Pflanzen mit einem erhöhten Gehalt an langkettigen Omega-3-Fettsäuren zu entwickeln.
Foto: © 2008 by BASF SE (für Berichterstattung von BASF zur Verfügung gestellt)

SB: Und der Landwirt als Nutzer des Saatguts schon gar nicht. Da fragt man sich, ob es zu ähnlichen Vorwürfen oder Anklagepunkten kommt wie bei genmanipuliertem Saatgut. Also daß einem Landwirt plötzlich ein Gerichtsverfahren anhängig wird, weil auf seinem Land und zwischen seinem Getreide eine bestimmte, speziell zugelassene Sorte auftaucht, die sich wild ausgesät hat.

AR: Sie denken vermutlich an diese Percy Schmeiser Geschichte ... [16]

SG: Das wäre durchaus denkbar. Natürlich können die molekularen Nachweise auch von Saatgut-Konzernen dazu verwendet werden, ihre Forderungen zu stellen: "Hier hast Du auf dem Feld eine Sorte, die mir gehört, sie wurde genetisch überprüft, zahle bitte die Lizenzgebühren!"

SB: Ein weiteres Kriterium an dem bereits 85% der alten samenfesten Kulturpflanzensorten bereits scheitern sollen, wenn eine nachträgliche Zulassung unabdingbar wird, ist der sogenannte "landeskulturelle Wert". Was muß man sich darunter vorstellen?

AR: Wenn eine Sorte in der "Gesamtheit der wertbestimmenden Eigenschaften" besser abschneidet als vergleichbare Sorten. Das ist eine sehr allgemein gehaltene Gummiformulierung.

SG: Die Bestimmung gilt vor allem für landwirtschaftliche Kulturen, also nicht für gartenbauliche und bei jeder neu zur Zulassung angemeldeten Sorte muß dieser Wert ein bißchen höher sein als zuvor. Dazu wird eine Wertprüfung vorgenommen.

SB: Wäre das praktisch schon ein Paragraph, der entsprechend so ausgelegt wird, daß zum Beispiel Ökosaatgut von kleineren Anbietern ausgesiebt werden kann?

AR: Ja genau, um diese Sorten gar nicht erst zuzulassen. Es geht beispielsweise um die Qualität der Ernteprodukte wie einen höheren Eiweißgehalt beim Weizen oder einen höheren Zuckergehalt bei Zuckerrüben oder generell höhere Ernteerträge oder andere Verbesserungen beim Anbau wie einen früheren oder späteren Erntetermin und dergleichen. Immer dann, wenn die Saatgutindustrie eine neue Sorte auf den Markt bringen will, muß die Zusammenschau ihrer speziellen Merkmale positiver sein als alles andere, was bisher da war. Das ist damit gemeint, wenn es heißt: die "Gesamtheit" soll sich verbessern.

Für Ökosaatgutzüchter bedeutet das natürlich ein Vabanque- oder Roulette-Spiel, wenn sie eine neue Sorte züchten wollen und entsprechend investieren, da sie nie sicher sein können, ob ihre neuen Produkte Verbesserungen erwarten lassen, welche die ganzen konventionellen Sorten bei dem landeskulturellen Wert toppen können.

Junge Zuckerrübenpflanzen gedeihen in Reihen längs der Ackerfurchen - Foto: 2013 by Axel Hindemith via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-3.0 Lizenz

Auf welchem Boden die Nutzpflanzen gedeihen, kann Ernteerträge entscheidend verändern - Aussaat von Zuckerrüben bei Wachstum auf Schwarzerde.
Foto: 2013 by Axel Hindemith via Wikimedia Commons als CC-BY-SA-3.0 Lizenz

Darüber hinaus wird auch nicht berücksichtigt, auf welchem Boden die Sorten wachsen. Um den landeskulturellen Wert zu ermitteln, müßten die Erträge des Ökosaatguts auf dem gleichen Boden gewonnen werden wie die der konventionellen Sorten. Denn die werden teilweise mit einem höheren Humusgehalt, zusätzlichen Wurzelbakterien oder anderen speziellen, äußeren Bedingungen auf hohe Erträge gebracht.

Nun gibt es in dem neuen Gesetzesentwurf einen eigenen Artikel, der sich Satisfactory Value for Cultivation and Use nennt, im Gegensatz zum konventionellen, landeskulturellen Wert (Sustainable Value for Cultivation and Use (SVCU)) den man so interpretieren könnte, daß er dazu dienen soll, Öko-Saatgut einfacher zuzulassen. Aber die nähere Ausgestaltung dieses Passus wird auf die sogenannten "delegated acts" verschoben. [17] Das heißt, pro forma wird etwas gemacht, aber im Grunde bleibt unbestimmt, ob am Ende für die Ökosaatgut-Anbieter überhaupt etwas Positives dabei rauskommt.

SB: Wenn man jetzt einmal nur an das Ernteprodukt denkt, warum muß der Saatgut-Markt eigentlich über Zulassungen kontrolliert werden? Würde sich das nicht einfach von allein also durch Versuch und Irrtum beziehungsweise durch die entsprechenden Erfahrungen, die man mit diesem Saatgut bei der Anwendung sammelt, regeln? Warum gibt es überhaupt ein Saatgutrecht?

AR: In Deutschland wurde das erste Saatgutrecht bereits 1934 eingeführt. Da gab es eine Verordnung, daß der damalige Reichsnährstand [18] verbieten kann, daß Saatgut ohne Zertifizierung, also ohne besondere Qualitätsstufen, "verboten" wird. Das hat man damals tatsächlich noch so klar ausgesprochen. Es ging dabei um Autarkie-Bestrebungen. Man wollte damit den Selbstversorgungsgrad Deutschlands, also letztlich die eigene Produktion erhöhen. Dafür wurde angestrebt, minderwertiges Saatgut, also Saatgut von sogenannten minderwertigen Sorten, vom Markt zu bekommen. Sortenbereinigung nannte man das.

SB: Also hatte das erste Saatgutrecht 1934 auch einen eindeutig ideologischen Hintergrund, was das Aussortieren von als minderwertig angesehenen Lebensvoraussetzungen betraf?

AR: Sicherlich hatte es auch diesen Aspekt, vor allem aber wollte man die Produktivität steigern, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen.

Darüber hinaus hat man vor etwa hundert Jahren angefangen, Saatgut über einen anonymen Markt zu handeln. Und bei anonymen Marktteilnehmern muß dann durch irgendeine staatliche Regulation sichergestellt werden, daß es sich um Qualitätssaatgut handelt, daß beispielsweise nicht mit Steinchen verfälscht wurde. Darüber hinaus muß die Keimfähigkeit gewährleistet sein und solch grundlegende Dinge einfach, die sicherstellen, daß nicht betrügerisch damit umgegangen wird. Das ist auch heute noch für die Landwirtschaft im großen Maßstab wichtig, denn wir haben es ja nicht nur mit kleinbäuerlicher Produktion zu tun. Landwirte, die im industriellen Maßstab Landwirtschaft betreiben, müssen sich auf die Keimfähigkeit und auf den gesicherten Ertrag verlassen können. Von daher ist eine Zulassung zumindest für diesen Bereich durchaus sinnvoll.

SB: Würde das denn nicht auch durch den freien Markt, also durch das Geschäftsinteresse des Anbieters geregelt werden? Denn minderwertiges Saatgut verkauft man bestenfalls ein einziges Mal.

SG: Also bei kleineren Portionen, beispielsweise für den Privatnutzer, wären überhaupt keine Regelungen nötig. Die würden nicht wiederkommen, wenn sie nicht das Saatgut erhalten, das sie brauchen und ihre Bedürfnisse erfüllt.

AR: Möglicherweise könnte man noch über ein einfaches Produkthaftungsrecht diskutieren. Unsere erste Forderung, die wir gemeinsam mit allen anderen Spezialorganisationen [3] formuliert haben, besagt dann auch, 'die Gesetzgebung muß sich darauf beschränken, die Vermarktung von Saat- und Pflanzengut allein für den kommerziellen Anbau und oberhalb bestimmter Mengen zu regeln'. [4] Also das kommerzielle oder Hochleistungs-Saatgut kann unserer Ansicht nach ruhig durch das neue Saatgutrecht geregelt werden, alles andere, das bäuerliche Saatgut, die Ökosorten oder das Vielfalt-Saatgut sollten frei sein.

SG: Zumindest sollte die Zulassung in diesen Fällen freiwillig sein. Für das Ökosaatgut könnte eine Zulassung im Einzelfall durchaus sinnvoll sein, dann müssen dafür aber noch geeignete Kriterien gefunden werden.

SB: Was halten Sie von der Gemeingüter Debatte, in der man darüber diskutiert, ob Saatgut nicht vollständig freigegeben werden, also letztlich überhaupt keinen Regulationen mehr unterliegen sollte?

SG: Ich halte das für eine ganz wichtige Debatte. Tatsächlich findet jedoch genau das Gegenteil statt, daß sich große Konzerne des Saatguts bemächtigen, den Saatgutmarkt besetzen und alles dafür tun, vermehrbares, samenfestes Saatgut vom Markt zu nehmen. Es gab in Deutschland bekannte, ehemalige Firmen für Hobbygärtner, die von einer dazu gegründeten Saatguthandelsfirma aufgekauft wurden. Die bekannten Firmennamen wurden zu Markennamen gemacht. Die Handelsfirma kooperiert mit Chemiekonzernen.

Anschauungsmaterial vom Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt. Fotografien von teilweise handbemalten Samentütchen, wie sie von Kleinanbietern gehandelt werden. - Foto: © 2013 by Schattenblick

Vielfalt aus dem Tütchen. Samenfestes Saatgut ist inzwischen selbst bei Angeboten für Kleinabnehmer und für den Öko- oder Biobedarf nicht unbedingt selbstverständlich. Für diese Tütchen soll in Zukunft der Aufdruck: "Nischenmarktmaterial" Pflicht werden.
Foto: © 2013 by Schattenblick

Das heißt also, daß man bei diesen Produkten nicht mehr davon ausgehen kann, daß tatsächlich noch samenfestes Saatgut in den Tütchen drin ist. In der Regel sind auch das schon Hybride von Monsanto und Syngenta oder anderen Chemiekonzernen, die auf diesem Weg in den Handel reinkommen, ohne daß ihr Name dabei genannt wird.

SB: Gilt das auch für den Ökolandbau?

SG: Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Der Ökolandbau muß heute schon konventionelle Hybridsorten anbauen. Die Ökozüchter, bei uns vertreten durch die Bingenheimer Saatgut AG, augenblicklich das größte Züchterhaus Europas im Ökobereich, sagen, es sei jetzt schon sehr schwer, Sorten für den Ökoanbau anzumelden. Die Kriterien, die dafür angelegt werden, sind die gleichen wie für die konventionellen Sorten. Und das paßt einfach vorne und hinten nicht. Gerade Ökosorten sind wie die Vielfaltssorten nicht so homogen und nicht so einheitlich, wie sie sein müßten, um den DUS-Anforderungen zu genügen. Das ist aber genau ihre Stärke, weil sie mit ihrer genetischen Ausrüstung noch auf die jeweilige Umweltsituation reagieren können, der sie ausgesetzt sind, während bei den konventionellen Sorten auf Umweltstreß mit Chemieeinsätzen reagiert wird.

Die Ökozüchter haben sich europaweit zusammengetan und auch einen Forderungskatalog zusammengestellt, der aber von der Europäischen Union völlig ignoriert wurde. Das zeigt unseres Erachtens eben auch, wie stark die Administrative auf die Bedürfnisse der konventionellen großen Saatgut- bzw. Chemiekonzerne ausgerichtet ist. Dadurch geht dem Ökolandbau sehr viel verloren, aber auch dem Endverbraucher.

SB: ... und auch ein Teil an Nutzpflanzen-Potential, um möglicherweise einigen von der landwirtschaftlichen Versorgung abhängigen globalen Problemen begegnen zu können, wie die weltweite Versorgung hungernder Menschen mit Nahrung beziehungsweise mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

Wie schätzen Sie die Chancen Ihrer Kampagne ein, noch Einfluß auf den zu erwartenden und vermutlich bereits feststehenden Entscheidungsprozeß zu nehmen?

AR: Die Perspektive der EU-Kommission ist 2016. Bis dahin muß man einfach sehen, wie die Diskussionsprozesse laufen. Es hat auch schon Beispiele gegeben wie Mitte der 90er Jahre die Biopatentrichtlinie, in denen der vorgelegte Entwurf aufgrund des Widerstands dagegen zurückgezogen werden mußte. In dem Fall ging es um die Patentierung von Organismen. Der erste Entwurf war 1995 vom Parlament abgewiesen worden. Allerdings wurde er dann drei Jahre später mit Hilfe starker Lobbyarbeit fast unverändert durchgesetzt. Doch das Beispiel zeigt, daß noch ein gewisser Spielraum bleibt, um noch etwas zu verändern, also den Gesamtprozeß hinauszuzögern oder zumindest den bestehenden Entwurf noch zu verbessern. Genau darin sehen wir unseren Ansatz, daß man zumindest versucht, daraus noch eine vernünftige Regelung zu machen.

SB: Frau Dr. Gura, Herr Riekeberg, wir bedanken uns für das Gespräch.

Anmerkungen:

[1] Laut aktuellem Weltagrarbericht hungern bereits fast 900 Millionen Menschen auf diesem Planeten. Die medizinische Fachzeitschrift "The Lancet" (Juni 2013) schreibt, daß jedes Jahr 3,1 Millionen Kinder sterben, weil sie ihr Recht auf angemessene und ausreichende Nahrung nicht wahrnehmen können.
http://www.welthungerhilfe.de/welthungerindex.html#!/c17684/

Der Ernährungsmediziner Dr. Hans Konrad Biesalski von der Universität Hohenheim spricht sogar von sieben Millionen Kindern, die jedes Jahr an den direkten und indirekten Folgen von Unter- und Mangelernährung sterben.

https://www.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/hiddenhunger/Exposee_Hidden_Hunger.pdf

[2] Hybridsorte: Saatgut, das aus der Kreuzung von zwei Zuchtlinien hervorgeht, aus dem Pflanzen entstehen, die nicht sortenrein weiter vermehrt werden können. In der ersten Generation der Hybridzucht wird der sogenannte "Heterosis-Effekt" ausgenutzt, der - im Vergleich zu reinerbigen Sorten - zu mehr Vitalität und Leistungsfähigkeit führt. Dementsprechend ist der Anteil der Hybridsorten in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen. 1995 bestanden Brokkoli, Tomaten und Rosenkohl bereits über 80% aus Hybridsorten. In den USA werden Hybride auf mehr als 90 % der Maisanbaufläche verwendet. In China wird mehr als die Hälfte der Reisanbaufläche mit Hybriden gesät. In Indien sind mehr als ein Drittel der Baumwollanwollfläche Hybride. Landwirte müssen zu jeder Aussaat neues Saatgut kaufen, ein einträgliches Geschäftsmodell, das erheblich zur Konzentration der Saatgutanbieter beigetragen hat.

[3] Die einzelnen Unterstützer der Gemeinsamen Erklärung "Konzernmacht über Saatgut? - Nein danke!" sind: Die Kampagne für Saatgut-Souveränität und der Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Slow Food Deutschland e.V., der Bingenheimer Saatgut AG, dem Arche Noah e.V., dem Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN), dem Europäischen BürgerInnen Forum (EBF), dem Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), dem Dreschflegel e.V., dem Naturschutzbund Deutschland (NABU), dem Pomologen-Verein, der IG Nachbau, Save Our Seeds, dem Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt, und der Zukunftsstiftung Landwirtschaft.

[4] Die Vielfalt des Saat- und Pflanzgutes zu erhalten und neu zu ermöglichen, fordern die Unterzeichner des Papiers:

1. Die Gesetzgebung muß sich darauf beschränken, die Vermarktung von Saat- und Pflanzgut allein für den kommerziellen Anbaus und oberhalb bestimmter Mengen zu regeln.
2. Der Austausch von Saat- und Pflanzgut unter Bauern und Gärtnern muß frei bleiben. Er darf nicht von der Verordnung geregelt werden.
3. Der Verkauf von Vielfaltssorten muß frei bleiben, er ist für deren Erhaltung und weitere Verbreitung noch wichtiger als der Tausch. Eine Registrierung aller Menschen und Organisationen, die Vielfaltssorten verkaufen, ist nicht angemessen, auch nicht aus Pflanzengesundheitsgründen, und darf nicht Vorschrift werden.
4. Für die Vermarktung traditionell gezüchteter Sorten muß die amtliche Marktzulassung freiwillig sein, sofern darauf keine geistigen Eigentumsrechte (Sortenschutz oder Patente) beansprucht werden.
5. Die Zulassungskriterien und Testverfahren amtlicher Marktzulassungen dürfen Sorten für den Ökolandbau nicht länger benachteiligen.
6. Bei amtlich zugelassenen Sorten und Pflanzenmaterial ist Transparenz sicherzustellen: sowohl über die erteilten geistigen Eigentumsrechte als auch über verwendete Techniken wie Hybridzucht oder die neuen gentechnikähnlichen Züchtungsmethoden.

[5] Andreas Riekeberg arbeitet hauptberuflich als Pfarrer in Wolfenbüttel, ist seit Jahren im Koordinationskreis der Gegner des maroden Endlagers Asse II und gegen Atomkraft engagiert, und hat sich seit 2008 an der Kampagne für Saatgut-Souveränität beteiligt. Dr. Susanne Gura ist Ernährungswissenschaftlerin und Agrarsoziologin. Sie war für die FAO und in beratender Funktion bei Fragen zur internationalen Agrarpolitik und -forschung für die Bundesregierung tätig. Darüber hinaus half sie bei der Koordination von Aktivitäten und Verhandlung verschiedener UN Gremien wie der Biodiversitäts-Konvention (Convention on Biological Diversity (CBD)) der Klimarahmenkonvention (UN Convention on Climate Change (UNFCCC)) oder der FAO. Sie war u.a. bei Exonexus aktiv, einer NRO, die auf wissenschaftlicher Basis die möglichen Umweltauswirkungen neuer Technologien im Auge behält, im Bereich Agrarwirtschaft und Klimawandel. arbeitet sie für APBREBES, einem Netzwerk internationaler NROs, das sich mit Sortenschutz befaßt. Darüber hinaus ist sie die erste Vorsitzende des Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt und Gründungsmitglied des Dachverbands Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt, die größte Organisation zur Erhaltung von Nutzpflanzensorten in Deutschland. Siehe auch:

http://www.econexus.info/

[6] siehe auch den ausführlichen Bericht zu der Pressekonferenz und mögliche Folgen der derzeitigen Saatgutpolitik:
UMWELT → REPORT
BERICHT/055: Saatgutdesaster - freie Vielfalt, freie Welt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0055.html

[7] Mehr Informationen darüber z.B.
http://www.welt.de/wissenschaft/article13513129/Saatgutbanken-sind-die-moderne-Arche-Noah.html

[8] Als "samenfest" gelten Sorten dann, wenn aus ihrem Saatgut Pflanzen wachsen können, die dieselben Eigenschaften haben wie ihre Mutterpflanzen. Das bedeutet, die Sorten können noch natürlich vermehrt werden, was bei heutigen Kulturpflanzen (z.B. Hybridsorten) nicht immer selbstverständlich ist. Samenfeste Sorten werden noch durch Vermehrung erhalten, in dem man einen Teil der Ernte für die nächste Aussaat nutzt. Sie werden zudem meist noch durch Wind oder Insekten bestäubt.

[9] Das Wasser auf den Feldern bewirkt u.a., daß sich die Nährstoffe gut halten. Weniger Düngemittel sind erforderlich. Der Anbau der Hochertragssorten bringt außerdem einen hohen Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln mit sich. Das belastet die Umwelt und führt zum Aussterben der Fische in den Reisbecken sowie zum Rückgang von nützlichen Insekten und Vögeln wie Enten, deren Nahrungsgrundlage wieder die Insekten oder auch Algen und Kleinstlebewesen darstellen. Siehe:
http://www.oeko-fair.de/essen-trinken/reis/die-pflanze/anbau-und-verarbeitung2/nass-reisanbau

[10] Und darin gehen meist nur die Düngemittel, Herbizide, Pflanzenschutzmittel und Treibstoff für die Maschinen ein. Wenn man weitere Faktoren dazunimmt, z.B. die Produktion der Maschinen, oder die Bewältigung des Umwelt-Schadens, den sie hinterlassen, fällt die Bilanz noch ungünstiger aus.

In Bezug auf Nahrung und ihren Energieinhalt ist die Kalorie eine übliche Meßgröße. Sie wird auch zum Vergleich von Produktivität verwendet, da auch Pflanzen Energie verbrauchen, um wieder Früchte (Nahrung) hervorzubringen. Eine Kalorie entspricht der Wärmemenge, die ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius erwärmt.

[11] Bodenorganismen machen die Hauptarbeit bei der Humusbildung. Humus besteht aus einer Vielzahl komplexer meist organischer Verbindungen, die nach dem Absterben von Pflanzen und Organismen übrig bleiben. Diese werden von Bodenorganismen zunächst in Kohlenhydrate, Proteine, Cellulose usw. und dann spontan oder ebenfalls von Mikroorganismen weiter enzymatisch in kleinere Bausteine zerlegt.

[12] Struktur: Bodenstruktur oder -gefüge beschreiben die Qualität des Bodens durch die räumliche Anordnung seiner festen Substanz zum vorhandenen Porenvolumen. Eine gute Struktur beeinflußt den Lufthaushalt, die Durchwurzelbarkeit, die Verfügbarkeit von Nährstoffen und Wasser.

[13] Lupinen reichern darüber hinaus über symbiotische Knöllchenbakterien den Boden mit Stickstoff an, was eine chemische Düngung weitestgehend ersetzen könnte. Darüber hinaus können die Symbionten auch den Phosphat aus dem Boden lösen. Von einer Sortenentwicklung in diesem Bereich erhofft man sich einige der Probleme der Bodendegradation abmildern zu können. Eine Lösung ist dies allerdings noch nicht.

[14] http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-16138-2013-05-22.html
Mutterkorn, mit dem wissenschaftlichen Namen Claviceps purpurea, ist ein für Mensch und Tier hochgiftiger Pilz, der normalerweise Roggen und andere Getreidepflanzen befällt. Die Vergiftung geht mit geistiger Verwirrung und schweren, bis zum Tode führenden Organschäden einher.

[15] Gemeint ist hier, daß die maßgebenden äußeren Merkmale im Erscheinungsbild (Phänotyp) bei allen Pflanzen im Großen und Ganzen gleich sind, beispielsweise die Halmlänge bei Getreide, die Wurzelform bei Möhren, einheitliche Struktur der Halme u.dgl.

[16] http://www.taz.de/Neues-EU-Patentrecht-umstritten/!84169/

[17] Delegated acts oder delegierte Rechtsakte: Um die Detailflut der Gesetzgebungsakte zu reduzieren, sieht der Vertrag von Lissabon die Schaffung "delegierter Rechtsakte" vor. Der Rat und das Parlament können in Gesetzgebungsakten die Kommission ermächtigen, delegierte Rechtsakte zu erlassen. Diese delegierten Rechtsakte können zur Ergänzung oder Änderung nicht wesentlicher Punkte des Gesetzgebungsaktes führen, ohne daß anschließend die Parlamentarier oder der Ministerrat noch zur Rate gezogen werden müssen.

[18] Der Reichsnährstand (RNST) war eine ständische Organisation der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich in den Jahren 1933 bis 1945, dessen Arbeit sich vor allem auf die Lenkung der Produktion, des Vertriebs und der Preise von landwirtschaftlichen Erzeugnissen konzentrierte. Zudem gehörten die sozialen und kulturellen Belange seiner Mitglieder zu seinen Aufgaben.

14. August 2013