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INTERVIEW/091: Atommüll ohne Ende - Kranke Meere, kranker Mensch ... Gisela Gerdes im Gespräch (SB)


Atommüll ohne Ende - Auf der Suche nach einem besseren Umgang

Eine Tagung von Umweltverbänden und Bürgerinitiativen unter der Federführung des Deutschen Naturschutzrings (DNR) am 28./29. März 2014 in Berlin

Meeresbiologin Gisela Gerdes über die Transportprozesse radioaktiver Substanzen aus der Tiefsee und als Folge die Entstehung von Krankheiten an den Küsten



Nicht erst seit der Atomkatastrophe vom 11. März 2011, seit der Tag für Tag schätzungsweise 300 bis 400 Tonnen einer radioaktiven Brühe aus dem Nuklearkomplex Fukushima Daiichi in den Boden sickern und von dort mit dem Grundwasser in den Pazifik gespült werden, ist die radioaktive Belastung des Meeres ein Thema, das umweltbewußte Menschen umtreibt. Bereits in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde von vielen europäischen Ländern radioaktiver Abfall, "Atommüll", in den Nordostatlantik und den Ärmelkanal nach dem Motto "aus den Augen, aus dem Sinn" teilweise in Fässern oder durch direkte Einleitung aus Wiederaufarbeitungsanlagen wie Sellafield oder La Hague "entsorgt". Zwar ist die Verklappung von Schiffen seit 1994 international verboten, doch wurde der bereits versenkte Atommüll auch nicht zurückgeholt. Laut Dr. Gisela Gerdes, die auf der Tagung "Atommüll ohne Ende" des DNR an der Arbeitsgruppe "Probleme mit Atommüll sind viel größer" teilnahm, liegen allein im Atlantik rund 250.000 Behälter mit leicht-, mittel und hochradioaktiven Abfällen in Tiefen zwischen 65 bis 4750 Metern, zuweilen komplette Atomreaktoren, U-Boot- oder Schiffsreaktoren, die teilweise immer noch Brennstäbe enthalten. Doch nicht nur dort, auch an vielen anderen Stellen der Weltmeere liegen atomare und radioaktive Altlasten in Containern oder Fässern. Was passiert, wenn die Ummantelungen, Fässer und Container korrodieren, und was geschieht mit der Umwelt, den Meeresbewohnern und den Menschen, an deren Küsten das radioaktiv belastete Wasser aufläuft? Diesen Fragen ist die Biologin, die bis 2003 die Meeresstation im Wilhelmshavener Forschungszentrum TERRAMARE, des Instituts für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg leitete, in einer eigenen Studie nachgegangen. In der Märzausgabe der Zeitschrift Waterkant erschien ihr Bericht über die überwältigenden Mengen an radioaktivem Abfall in Meeren und an den Küsten vor unserer Haustür - in England, Frankreich, Irland, an der deutschen Nordseeküste und in Norwegen - und die unausweichlichen Folgen für Mensch und Umwelt. Ihr Anliegen ist es, die unmittelbare Kausalität zwischen den strahlenden Substanzen aus Luft, Wasser und Böden und ihren gesundheitlichen Schäden nicht zu leugnen und die Nutzung von Kernkraft zur Energieerzeugung einzustellen. Im Anschluß an die Arbeitsgruppen ergab sich für den Schattenblick die Möglichkeit zu einem Gespräch über die Arbeit der immer noch ehrenamtlich aktiven Wissenschaftlerin.

Foto: © 2014 by Schattenblick

'Einziger Schluss ist, sich von den Vorstellungen des vermeintlichen Nutzens der Kernkraft so schnell wie möglich zu lösen.'
Dr. Gisela Gerdes auf der Tagung 'Atommüll ohne Ende'
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Frau Doktor Gerdes, Sie haben als Biologin an einem Projekt über biologische Strahlenschäden gearbeitet?

Gisela Gerdes (GG): Nein, ich habe im Bereich der Meeresbiologie, Meeresgeologie, Meeresforschung grundlagenwissenschaftlich gearbeitet und mir anläßlich dessen die Frage gestellt, wie sich radioaktives Material verhält, das zum Beispiel über Fässer, die undicht sind, oder über Pipelines und ähnliches in die Umweltmedien gelangt. "Umweltmedien" sind hauptsächlich Luft, Wasser - Meerwasser, Flüsse, Grundwasser - und Boden wie auch Sedimente. Ich habe diese Recherchen gemacht, um zu erfahren, wie und wohin dieses gefährliche Zeug transportiert wird.

SB: War das Ihre eigene Initiative?

GG: Das war meine eigene Initiative und mein Interesse. Ich habe viel über Transportprozesse im marinen Bereich gearbeitet, und da bleibt der Kontakt mit radioaktiven Substanzen nicht aus, die in diese Umweltmedien durch Abgase, Abwasser und ähnliches hinein gebracht werden. Der Hintergrund für mich war die Berichterstattung in der Presse und in dem arte-Film "Versenkt und vergessen" [1] im Fernsehen über die Kontamination der Menschen an den Küsten von England, Frankreich und auch anderen Uferbereichen durch Radioaktivität. Wie dort Leukämie, Hirntumore, Leberkrebs etc. entstehen - und zwar in diesen Gegenden statistisch hoch signifikant, das heißt, daß es in der Darstellung über die eigentliche Statistik schon hinausgeht. Durch meine Beschäftigung mit den Transportprozessen im Meer fragte ich mich: Wie kommen diese Substanzen, die zum Teil in die Tiefsee in 100, 200 bis zu 4000 Metern versenkt wurden, zu den Küsten zurück und kontaminieren dort die Menschen? Bei meinen Recherchen bin ich dann auf die sogenannten radioaktiven Partikel gestoßen, Substanzen, die entweder aus dem Abwasser direkt kommen oder aber im Meer durch gelöstes radioaktives Material gebildet werden, das von Schwebstoffen etc. adsorbiert wird und damit auch transportiert werden kann. Das sind aber die Einzelheiten. Interessant finde ich die mangelnde Transparenz und Information, die darüber generell herrscht, daß einfach gesagt wird: Das kommt aber nicht von der "Abfallentsorgung" - in Anführungsstrichen gesprochen, denn das Wort "Entsorgung" kann man ja für radioaktiven Müll gar nicht benutzen.

Krebs entsteht immer irgendwie, sagt man. Die unmittelbare Kausalität mit den Substanzen, die in der Luft und im Wasser sind, wird geleugnet. Und dieses Ableugnen hat mich so böse gemacht, daß ich es genauer wissen wollte. Darauf habe ich mir viel radiobiologische Literatur angeschaut, experimentelle Arbeiten an Zellen und Geweben, die zum Beispiel auch durch Niederdosisstrahlung geschädigt worden sind, und Krankheiten, vor allen Dingen Krebs oder auch genetische Schäden, die erst nach längerer Zeit entstehen oder auftreten. So können dann die Betreiber der verschiedenen Einrichtungen, ob AKWs oder Wiederaufarbeitungsanlagen, von sich aus sagen: Nach der Zeit kann das gar nicht von uns kommen. Diese ständigen Lügen sind schrecklich.

Auf einer Karte sind zwei Stellen markiert, an denen einmal 3.500, dann 44.000 Container Atommüll vor der kalifornischen Küste liegen. - Grafik: by NOAA (public domain)

Nur eines von vielen Beispielen: Laut der US-Umweltbehörde (EPA) wurden in der Nähe der Farallon Inseln (San Francisco) etwa 47.000 Container und 55 Stahlfässer mit einer auf 14.500 Curie (1 Ci = 3.7 ž 10 hoch 10 Zerfälle pro Sekunde) geschätzten Radioaktivität ins Meer versenkt.
Grafik: by NOAA (public domain)

SB: Ich vermute mal, daß Sie mit Ihrer Arbeit vor Fukushima angefangen haben?

GG: Sie überschneidet sich insofern stark mit Fukushima, als auch die IPPNW [2], die Internationale Ärztegemeinschaft, zum Beispiel sehr aktiv ist und die "zufällig" dort jetzt und zukünftig auftretenden Leukämiefälle wissenschaftlich untersucht. Aber ich habe Fukushima nicht als zentralen Punkt mit aufgenommen, sondern mein Schwerpunkt ist die Abwassereinleitung von radioaktivem Material in die Meere - hier im Ärmelkanal, in der irischen See, in die Nordsee - und die Frage, wie kommt es zu den Menschen. Ein Beispiel ist der Transport über die Nahrungskette, weil diese radioaktiven Partikel, die im Wasser schwimmen oder schweben, so klein sind, daß Muscheln und Fische sie leicht aufnehmen können und inkorporieren. Wir sind dann sozusagen das Endglied der Nahrungskette, so daß auch wir dieses Material mit inkorporieren, mit aufnehmen. Das sind die Pfade, die so unwahrscheinlich gefährlich sind für das Entstehen von Krankheiten, hauptsächlich Krebs. Ich habe in jüngerer Zeit gerade in Bezug auf Fukushima Arbeiten gelesen - aber auch schon frühere aus Tschernobyl -, die zeigen, daß heute eigentlich konstant daran gearbeitet wird und die Organisationen in Verbindung mit den instrumentell arbeitenden Wissenschaftlern bzw. Radiobiologen stehen.

SB: Wurde Ihre Arbeit schon veröffentlicht, und wie hat man sie aufgenommen? Gab es darauf ein Feedback?

GG: Noch nicht sehr viel. Das einzige, sehr positive, Feedback, das ich bisher bekommen habe, ist von dem Verleger der Zeitschrift, in der die Arbeit jetzt erscheint, der "Waterkant" [3]. Über den Herausgeber, Herrn Ilschner, habe ich auch die Information über diese Tagung bekommen. Ich bin also nicht als Vertreterin einer Organisation hier, sondern privat.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Der deutsch-französische Sender "arte" berichtete im Film "Versenkt und Vergessen" über die Praktiken der Entsorgung radioaktiver Abfälle in die Meere und die Folgen der Kontamination für Menschen und Umwelt.
http://www.arte.tv/guide/de/046923-000/versenkt-und-vergessen

[2] IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

[3] Ein ausführlicher Artikel von Gisela Gerdes zum Thema ist in der Märzausgabe der "Waterkant" (1/2014) unter dem Titel: "Radioaktiver Abfall in Meeren und an Küsten - Gefahren für Mensch und Umwelt. Versenkt, vergessen, verharmlost" erschienen.

9. April 2014