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INTERVIEW/120: Kohle, Gifte, Emissionen - dagegen leben ..., Aktivist Tim im Gespräch, Teil 1 (SB)


Waldgemeinschaften

Interview im Hambacher Forst am 25. Mai 2014



Tim ist Aktivist des Braunkohlewiderstands, der den Rest des Hambacher Forstes gegen die Erweiterung des Tagebaus Hambach durch den Energiekonzern RWE Power verteidigt. Bei einem Gang durch diesen urtümlichen, vor allem aus hohen Buchen und Eichen bestehenden Wald beantwortete Tim dem Schattenblick einige Fragen zu seiner persönlichen Geschichte und den Gründen, die ihn zu seinem außergewöhnlichen Engagement für die Verteidigung der Natur veranlassen. Dabei bot sich auch die Gelegenheit, aus erster Hand etwas über die Waldbesetzung wie die dagegen gerichteten Maßnahmen des Staates zu erfahren.

Tim unter Baumhaus - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zutritt nur für Schwindelfreie
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Du bist in der DDR geboren und hast deine Kindheits- und Jugendjahre in Ostdeutschland verbracht. Wie bewertest du aus heutiger Sicht den Versuch, im Arbeiter- und Bauernstaat einen Realsozialismus aufzubauen?

Tim: Zunächst einmal möchte ich vorausschicken, daß in der DDR aus meiner Sicht nicht der Realsozialismus erprobt, sondern vielmehr ein bolschewistisches System etabliert wurde. Als ich geboren wurde, arbeitete meine Mom in einer Produktionsgenossenschaft, da es keine Kleinbauern gab. 40 Jahre lang wurde den Menschen eingetrichtert, die DDR sei das Vorzeigeobjekt der UdSSR, und dann war von heute auf morgen Schluß damit. Auch für mich war es ein Schock, erfahren zu müssen, daß alles, woran die Menschen in der DDR geglaubt hatten, wertlos geworden ist, daß nicht der Kommunismus, sondern die Demokratie das höchste Entwicklungsziel darstelle. Seltsam nur, daß im gleichen Augenblick alle ihre Arbeit verloren haben.

SB: Wie haben deine Eltern den Fall der DDR erlebt?

Tim: Meine Mom war ein- oder zweimal auf Montagsdemonstrationen gegangen. Die Menschen bei den Protesten waren Reformisten. Sie haben nicht gesagt, die Mauer muß weg, die meisten von ihnen kritisierten vielmehr, daß der Sozialismus in seinem Prozeß steckengeblieben sei und ausgebaut werden müsse - in einem Zweistaatenprinzip allerdings. Niemand konnte sich, zumal angesichts des Antikapitalismus, der ihnen beigebracht wurde, allen Ernstes vorstellen, daß die DDR in der BRD aufgehen würde. Die DDR war schon ein anderes Staatsprinzip. Als die Grenze fiel, fanden das viele cool. Zu dieser Zeit bin ich geboren worden, aber mein Vater ist damals abgehauen, hat die Westmark genommen und war weg. Auch andere Mütter saßen plötzlich allein zu Hause. Viele von denen, die vor dem Mauerfall geflohen waren, konnten es, nachdem die Mauer eingerissen wurde, nicht begreifen, daß die ganze Geschichte so komplett den Bach runterging.

SB: Wie sieht deine Mutter heute, nach fast einem Vierteljahrhundert, das Scheitern der DDR?

Tim: Bei meiner Mom steckt noch immer vieles aus DDR-Zeiten im Kopf. Sicher, ein paar Ideen wie das Nachbarschaftsdenken kann man vielleicht auch anderswo finden, aber auf meine Großeltern wirkte die Enttäuschung regelrecht erschütternd. Meine Mom beschwert sich immer darüber, daß sie anders als bei mir für den Kitaplatz meiner kleinen Schwester Geld bezahlen muß. Sie sagt nicht, daß die DDR gut war, aber daß viele Sachen wie Schulplätze, Kitas und so weiter kein Geld gekostet haben und daß, egal, ob man einen Staat toll findet oder nicht, an der Jugend nicht gespart werden dürfe. Als ich eine zweite Schwester bekam und der Lebensunterhalt kaum noch aufzubringen war, hat das bei meiner Mutter zu einer starken Abwehr gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft geführt. Sie lebt in gewisser Weise immer noch im DDR-System.

Meine Großeltern kommen da gar nicht mehr heraus. Das gilt auch für meine Tanten und Onkel, die riesige Gärten haben und aus dieser Mentalität heraus vieles einkochen und im Keller verwahren. Sie können es nicht verstehen, daß man Obst und Gemüse einkauft und 30 Waschmittel zur Auswahl hat, die dann doch von einer Firma kommen. Auch andere Sachen mußten neu angeschafft werden. Ich hatte 1997/98 noch viele DDR-Bücher, sogar eines, in dem meine Mom abgebildet war. Die Lehrer hatten noch in der DDR studiert und das System verinnerlicht. Auf einmal mußten sie etwas über die EU und die deutschen Bundespräsidenten lernen. Auch ich mußte sie auswendig lernen. Vieles war ungewohnt wie zum Beispiel die neuen Bundesländer, denn Sachsen-Anhalt, Mecklenburg oder Brandenburg gab es zu DDR-Zeiten nicht. Das waren damals noch Bezirke gewesen.

Die Demokratie will den Rassismus, und damit die Grenzen Europas, überwinden, aber in den Köpfen der Menschen geht noch immer eine Grenze durch Deutschland. Ich bin in Wolfsburg zur Arbeit gegangen, und dort hat man Ossi zu mir gesagt und daß die Ossis ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Die Mauer war schnell abgerissen, aber sie lebt eben in den Gedanken weiter. Mauern aufbauen geht schneller, als sie einzureißen.

Baumhaus von unten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gut behütet im Blätterdach
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Du bist hier im Rheinischen Braunkohlerevier damit konfrontiert, daß Menschen darunter zu leiden haben, aus ihrer angestammten Heimat vertrieben zu werden. Siehst du darin eine Parallele zu deinen Großeltern, für die der Zusammenbruch der DDR ein tiefgreifendes Ereignis gewesen sein muß?

Tim: Meine Oma und mein Opa haben Polen verlassen, als sie dem Aufruf Hitlers gefolgt sind. Damals gehörte Polen noch zu Preußen. Später sind sie dann vor dem Krieg geflohen. Als die DDR gegründet wurde, gab es zwei Spaltungen in meiner Familie in Ost- und Westdeutschland, die sich nicht mehr kennengelernt haben und bis heute nicht zusammenkommen, weil ihre Lebenseinstellung zu unterschiedlich ist. Als die Mauer fiel, herrschte Landflucht. Die Menschen, die aus den neuen Bundesländern weggingen, wurden Wirtschaftsflüchtlinge genannt. Heute gibt es den Begriff Klimaflüchtlinge. Beides beruht darauf, daß man in der Region, in der man aufgewachsen ist und eigentlich auch weiter leben möchte, einfach keine Perspektive sieht und weggeht, weil man dort keine Existenzgrundlage mehr hat.

Ich habe zum Beispiel in einem Dorf mit Rufbussen gelebt. Es gibt dort keinen normalen Busverkehr. Ich mußte zwei Stunden vorher anrufen, damit ich überhaupt von A nach B komme. 100 Kilometer um den Ort herum gibt es keine Autobahn oder Großstadt. Dieses Niemandsland ist von der Fläche her so groß wie das Saarland. Doch während das Saarland eine Million Einwohner hat, leben in der Altmark nur 120.000 Menschen. Von dort sind es 25 Kilometer Luftlinie bis Gorleben und 50 Kilometer bis Morsleben, beides Endlager. In der Altmark wird CO2 verpreßt. Dort in der Letzlinger Heide steht ein Gefechtsübungszentrum, das schon zu DDR-Zeiten der größte Stützpunkt in der Region war.

SB: Du lebst jetzt im Wald unter einfachsten Bedingungen. Ist das nicht ein Schritt in eine ganz andere Richtung als die der zivilisatorischen Perspektive?

Tim: Für mich hat sich das alles aus der Waldbesetzung ergeben, und dennoch ist das hier strenggenommen kein Wald mehr, weil er schon weitgehend abgeholzt ist. Zudem zerschneidet eine Autobahn die Waldfläche und ringsherum stehen Kraftwerke. Im Umkreis von 100 Kilometern gibt es hier Rüstungs- und Chemieunternehmen, einen Flughafen und Militärstützpunkt sowie das Jülicher Kernforschungszentrum. Das hier ist im Grunde die übelste Dreckbude. Ich könnte hier nicht auf Dauer leben. Wenn ich an einem Kraftwerk vorbeifahre, kann ich nicht verstehen, warum den Menschen nicht der Kragen platzt. Der Wald ist schön, aber auch klein, weil hier alles zusammengepfercht ist.

Ich lebe mit Fuchs, Reh und Dachs und Ameisen zusammen. Genaugenommen bin ich kein Besetzer, sondern ein Bewohner des Waldes. Wenn man so lange im Wald lebt, verändert sich auch das Handeln. In den letzten Tagen habe ich immer wieder Weinbergschnecken von den Wegen geholt, damit sie nicht kaputtgequetscht werden. Weil man eine starke emotionale Bindung zu diesem Ort entwickelt, rennt man auch nicht durch den Wald und reißt Blätter ab. Man lebt in ihm und fühlt mit ihm mit. Ich habe hier Stürme erlebt und Regen und Hitze auf der Haut gespürt. Und doch bin ich im Baum auch Gast. Hier leben Zecken und Vögel, die einem das Brot klauen.

Tim am Ort der geräumten Waldbesetzung - Foto: © 2014 by Schattenblick

Kahlschlaglogik macht fassungslos
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Wie würdest du dein Verhältnis zu dem Baum, in dem du lebst, als Lebewesen und Organismus beschreiben?

Tim: Das ist schwer zu erklären. Erst einmal ist es ein Baum, ein Stück des Waldes und Holz und somit auch eine Ware, die man fällen und verbrennen kann. Alle Wälder, die ich kenne, stehen in Reih und Glied, sind Monokultur und werden stark bewirtschaftet. Und dann lebt man plötzlich in einen Wald, wo man keine Struktur erkennt. Die einzige Struktur, menschlich gesehen, sind die Wege. Schließlich begreift man, daß alles in Symbiose lebt, und fängt an zu lernen, welche Baumarten sich um einen herum befinden, welche Insekten es hier gibt. Man klettert in einen Baum hinein und sitzt oben 20 Meter über dem Boden, lebt über Monate mit dem Baum und spürt, wie er sich bewegt. Man baut sich ein Baumhaus. Architektonisch gesehen ist das Bauen von Baumhäusern eine Glanzleistung, weil man keinen Nagel in den Baum haut. Alles ist gewickelt und festgezurrt.

Mit der Zeit entwickelt sich eine starke Bindung. Nachdem ich geräumt wurde, lag ich mehrere Tage heulend am Baumstumpf. Daß ich um einen gefällten Baum weine, ist für viele unverständlich. Gegen Faschismus und Krieg zu sein ist das eine. Das mag einigen noch einleuchten. Selbst in der eigenen Freundeskreisbewegung oder Szene kommt es seltsam rüber, wenn ich erzähle, daß ich wegen eines Baumes oder eines Waldes, der abgeholzt wird, Tränen vergieße. Sie sehen nur den Wald oder Baum, aber nicht diesen Zusammenhang, daß alles ein Zeichen davon ist, wie der Mensch mit sich selbst und seiner Umwelt umgeht. Für gewöhnlich wähnt sich der Mensch über allem erhaben. In ihm selbst steckt schon die Hierarchie, daß es Chefs und Untergebene gibt, Menschen, die über anderen stehen, weil sie über Macht und Wissen verfügen, und das auch bewußt ausleben. Und das Niedrigste aus menschlicher Sicht ist eben die Natur, egal, welche Religion man auch nimmt.

Aber vor allem in der westlichen, christlichen Welt herrscht die Hierarchisierung von Gott, Mensch und Wald vor. In spirituellen Bewegungen dagegen standen der Wald und die Natur an höchster Stelle. Das ist noch gar nicht so lange her. Für mich ist es unbegreiflich, daß soviel zerstört wird nur auf der Grundlage des Desinteresses. Was man den folgenden Generationen hinterläßt, scheint gleichgültig zu sein. Und dann begreift man, daß es Zusammenhänge gibt zwischen dem Raubbau an der Natur und der weltweiten Herrschaft aufgrund von Abkommen, Sanktionen oder militärischen Interventionen. Es macht einen schon krank, wenn man sieht, daß mit der Waffe in der Hand um Rohstoffe, Öl und Holz und jetzt vermehrt um Trinkwasser gekämpft wird. Die Natur entdeckt sich zwar immer wieder neu und findet auch ein Schlupfloch, aber sie ist zugleich in den Zerstörungsprozessen am wehrlosesten. Denn der Baum, in dem ich lebe, kann nicht einfach umsiedeln. Aber selbst ein Mensch, der umgesiedelt wird, ist hinterher ein anderer. Ein Baum, der ausgerissen wird, kann vielleicht über die Wurzeln noch einmal austreiben, aber den Ort verlassen ist nur über Samen möglich. Möglicherweise ist es beim Menschen nicht anders.

SB: Du warst damals auch bei der Feldbesetzung in Wietze [1]. Wie bist du aus deiner persönlichen Entwicklung heraus zur Idee der Tierbefreiung gekommen?

Tim: Wietze war die erste Aktion, die mit Tierbefreiung zu tun hatte. Als ich nach Wietze ging, war ich antifaschistisch unterwegs und habe mich gegen Nazis engagiert. Aber Krieg und Herrschaft in Frage zu stellen ist mehr, als nur antifaschistisch zu sein. Als das Camp in Wietze von Dorf-Prolls angegriffen wurde, fielen auch Sprüche wie "Sieg Heil". Ob das wirklich Nazis waren oder nur Leute, die provozieren wollten, war mir in dem Augenblick egal. Ich habe nur gesehen, daß dort Aktivisten waren, die Widerstand gegen das System leisteten und Hilfe brauchten. Deshalb bin ich dort eines Tages aufgetaucht und bis zur Räumung geblieben. Veganismus war für mich schon vorher klar. Was den 68ern vielleicht der Kampf um den Vegetarismus war, ist heute der Kampf um Veganismus.

SB: Du bist in einer Familie aufgewachsen, in der Fleischverzehr zum Alltag gehörte. Wie bist du auf die Idee gekommen, alle tierischen Produkte von deinem Speiseplan zu streichen?

Tim: Ich war einmal auf einem Camp gewesen, wo es nur veganes Essen gab. Dort sagte mir jemand, daß Herrschaft der einzige Grund sei, warum sich Menschen zu Gruppen zusammentun würden. Dort machte ich auch Bekanntschaft mit anarchistischen autonomen Strukturen. Die Leute waren gegen Herrschaft und versuchten, sie in ihrer Kritik, so weit es ging, abzubauen oder zu thematisieren. Ausbeutung und Ermordung von Tieren gehören dazu. Daß Menschen den Herrschaftskonflikt unter sich austragen, ist das eine, aber Tiere zu mästen und umzubringen geht überhaupt nicht. Damals habe ich von heute auf morgen auf Veganismus umgestellt. Ich bin danach in Wietze gelandet und war auch bei anderen Blockaden wie in Teplingen dabei. Dort wurde von den ansässigen Bauern geräumt, ich selbst wurde aus dem Baumhaus herausgeschnitten. Im Anschluß darauf bin ich wieder in die Region Altmark gezogen und habe mehrere Jahre im AZ (Autonomes Zentrum) gelebt. Dort habe ich mich in den regionalen Konflikten gegen Castor und Faschismus engagiert und versucht, eine radikalere Politik hineinzubringen und Zusammenhänge zu anderen Widerstandsbewegungen aufzuzeigen.

Wenn Leute verstehen, daß der Kampf im Hambacher Forst auch etwas mit Tierbefreiung und Antimilitarismus zu tun hat, dann begreifen sie sich als einen geschlossenen Widerstand, auch wenn er unterschiedlich erscheint und es keine Absprachen untereinander gibt. In dem Sinne, wie er für den Staat unrentabel wird, ist er auch unkontrollierbar. Dieser Gedanke hat mich weitergetrieben, bis ich vor einem Jahr spontan zum Klimacamp gegangen bin. So wie in Wietze hat mich das Klettern auf Bäumen und Bauen von Baumhäusern völlig eingenommen. Als Kind habe ich Baumhäuser gebaut und mir gewünscht, da drinnen schlafen zu können, aber meine Eltern hatten es mir verboten. Schließlich hatten die Förster die Baumhäuser abgerissen. Im Klimacamp hatte ich plötzlich die Möglichkeit, in einem Wald zu leben, der in dieser Form vielleicht der letzte hier in Deutschland oder Mitteleuropa ist. In einem Baumhaus zu leben und sich gleichzeitig mit einem großen Konzern wie RWE anzulegen, empfand ich als konsequente Fortsetzung meines Weges. RWE bezahlt jeden Monat Millionen Euro, um allein die Presse gegen uns zu mobilisieren.

SB: Auf dem Netzwerktreffen begegnet man allen möglichen Leuten aus der Region, die eher aus bürgerlichen Lebensverhältnissen kommen und deren Widerstand auf die negativen Folgen des Braunkohleabbaus beschränkt bleibt. Siehst du große Gräben zwischen solchen Menschen und dir oder würdest du sagen, daraus ließe sich eine gemeinsame Basis schaffen?

Tim: Meines Erachtens gibt es immer eine gemeinsame Basis. Menschen von vornherein auszuschließen, nur weil sie bürgerlich sind oder ihr Haus verlieren, ist keine Grundlage für irgend etwas. Jeder Mensch hat irgendwo ein Problem, seien es Polizei- oder Fahrkartenkontrollen oder was auch immer. Überall, wo Macht ausgeübt wird und Leute unterdrückt werden, ist der gemeinsame Nenner. In diesem Fall ist es der Kampf gegen die Braunkohleförderung, wo wir uns vernetzen können und ich meine radikalere Lebenseinstellung einbringen kann. Auf dieser Ebene kann man solidarisch arbeiten. Wenn Menschen sich als Gruppe oder Kollektiv zusammenschließen, kann man mehr erreichen. Die Leute aus der Besetzung in Wietze kenne ich noch heute. Das ist eine riesige Familie. Dabei ist es unerheblich, ob man am selben Ort aktiv ist oder nicht. Wichtig ist, daß man sich vernetzt und zusammenarbeitet. Im Grunde ist es ein Lernprozeß über Jahre. Dabei schließe ich nicht aus, daß ich mit einigen, mit denen ich vor fünf Jahren eine Wiese besetzt habe, eine Kommune aufmache und Landarbeit betreibe. Ich spiele durchaus mit dem Gedanken, in Richtung Selbstversorger oder Garten im ländlichen Raum zu gehen.

SB: Selbst in herrschaftskritischen Gruppen kommt es hin und wieder zur Herausbildung sozialfunktionaler Hierarchien, schon dadurch, daß einige stärker in eine Bewegung involviert sind als andere. Wie gehst du mit solchen Tendenzen um? Bist du der Überzeugung, daß sich der solidarische Umgang untereinander im Sinne eines herrschaftsfreien Lebens weiterentwickeln läßt?

Tim: Zunächst einmal muß ich der Möglichkeit ins Gesicht schauen, daß ich als Mensch Macht ausüben kann, zum Beispiel dadurch, daß ich über das Wissen verfüge, wie man ein Baumhaus baut, einen Garten anlegt oder einen Blog gestaltet und die entsprechenden Paßwörter besitze. Wenn ich mir bewußt mache, daß ich diese Macht habe, muß ich sie abgeben oder sie zumindest transparent machen. Die Sache mit der mehr oder weniger ausgeprägten Einbindung in eine Bewegung läßt sich natürlich nicht mit der Stechuhr lösen. Es gibt Tage, da baue ich von morgens bis abends an einem Baumhaus, aber ich kann das niemandem auferlegen, weil andere Menschen ihren Lebensalltag auf ihre Weise organisieren. Jeder ist im Endeffekt ein Teil dieser Maschinerie oder dieses Zahnrads, und das muß sich ergänzen. Man darf sich nicht über den anderen stellen und sagen, dieser da macht weniger oder der da bindet sich nicht so stark ein, sondern man muß es als Gesamtheit der Bewegung sehen.

Auch ich muß an mir arbeiten. Man geht schließlich nicht ins Bett und wacht am anderen Morgen als besserer Mensch auf. Es ist ein Prozeß, der über Jahre geht und viele Problemfelder berührt. Ein paar Beispiele dazu: Warum lasse ich bestimmte Menschen bei einem Treffen nicht ausreden? Warum kritisiere ich andere die ganze Zeit über, statt ihnen zu sagen: Toll, daß du hier bist. Eine Kritik ist schneller ausgesprochen, als zu sagen: Danke, daß du gekocht hast. Jeden Tag kochen Leute auf der Wiese oder machen den Garten, auch wenn das nicht großartig wahrgenommen wird. Soll man etwa eine Liste anfertigen, wer was gemacht hat? Es sollte doch genügen, daß Menschen diesen Ort attraktiv finden und alles geben, was sie können, um zur Gesamtheit beizutragen.

Denn von den Leuten, die hier einmal waren, verlassen die meisten, sinnbildlich gesprochen, diesen Ort nicht mehr. Sie können überall sein. Einige gehen auf einen Blogspot und verfolgen die Entwicklung von dort aus mit, andere machen anderswo weiter, aber sie haben noch immer diesen Ort im Kopf, weil er sie geprägt hat. Bei mir war es Wietze, wo ich verstanden habe, daß es einen größeren Zusammenhang gibt zwischen dem Ausüben von Herrschaft und Machtstrukturen. Die Auseinandersetzung um diesen Kritikpunkt geht über Jahre und muß permanent am Laufen gehalten werden.

Baumhaus hinter Blattgrün - Foto: © 2014 by Schattenblick

Unerreichbar, unverfügbar ... verboten
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Du bist in dieser Gesellschaft sozialisiert worden und lebst in gewissem Ausmaß auch von ihren Angeboten. Jeder Mensch hat ihre Hierarchien und Machtverhältnisse durchlaufen bzw. ist damit konfrontiert worden. Wie gehst du damit um, wenn der Einfluß der Vergesellschaftung bei dir oder anderen Aktivisten in einer Weise durchschlägt, die nicht zu akzeptieren ist?

Tim: So etwas passiert, und dagegen müssen sich alle sensibilisieren. Natürlich kann ich eine Art des Umgangs an mir haben, die ich selber so nicht sehe, weil ich sie verinnerlicht habe. Ich bin ein Mann von weißer Hautfarbe und habe gewisse Privilegien gesellschaftlich in die Wiege gelegt bekommen. Wenn die männlichen Anwohner zu mir kommen, um zu sprechen, aber die Aktivistinnen nicht angesprochen werden, müßte man eigentlich eine Gender-Kritik reinbringen. Für mich besteht der nächste Schritt darin, zu sagen, ich habe zwar einen Penis, aber ich sehe das kritisch und weiß selber nicht, was ich bin. Ich denke, wenn man so etwas wahrnimmt, ist es das beste, die Person direkt anzusprechen und zu fragen, warum sie diesen oder jenen Spruch losgelassen hat oder warum sie sich auf eine bestimmte Weise verhält. Wichtig ist jedenfalls, daß jeder darauf sensibilisiert wird, unabhängig davon, ob es einem gerade schlechtgeht oder nicht. Wenn jemand zwei Tage im Baum bleibt und nicht mehr auftaucht, müssen die Leute Kontakt zu ihm aufnehmen. Das passiert auch. Es geht darum, die ganze Zeit auf sein Umfeld zu achten und sich zu fragen, warum ein Verhalten zu einem inhaltlichen Konflikt ausartet oder warum man mit einer bestimmten Person ein Problem hat. Diese Prozesse durchleben wir immer wieder.

Man muß auch darauf gewappnet sein, daß Vorstände gewisser Vereine und Institutionen auf die Wiese kommen und sich vorstellen. Die Gesellschaft identifiziert sich mit Führungspositionen, ob nun von der BI (Bürgerinitiative) oder, weil gerade Wahlkampf ist, von den Grünen oder der Linken. Das sehe ich sehr kritisch und haue denen auch manchmal harte Argumente an den Kopf, den Grünen derzeit auf jeden Fall. Ich nehme da kein Blatt vor dem Mund. Mitunter kann das die Bündnisarbeit erschweren, aber ich muß bestimmte Punkte vorher klarlegen, sonst kann ich mit denen nicht zusammenarbeiten. Es bringt nichts, wenn ich mit Bauchschmerzen in ein Treffen gehe. Wir haben nur unsere Ehrlichkeit. Es wird unter Menschen selten etwas offen ausgesprochen. Auch untereinander wird vieles einfach weggesteckt. Sprecht alles an, redet darüber, denn Kommunikation ist das einzige, was wir haben. Dazu gehört auch, Texte zu schreiben und sie online zu stellen, um sich auf diese Weise transparent und den Leuten gegenüber verständlich zu machen, warum man so lebt. Das ist ein starker Prozeß, der nur Step by Step möglich ist. Und vielleicht muß man jede Woche neu darüber reden, ob am Feuer geraucht wird oder nicht, denn jede Woche kommen neue Leute. Das macht uns bewegungsaktiver.

(wird fortgesetzt)

Barrikade aus Ästen auf Waldweg - Foto: © 2014 by Schattenblick

Für Baumfäller und Waldroder gesperrt
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] BERICHT/002: Den größten Geflügelschlachthof Europas verhindern ... BI Wietze und Feldbesetzer (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/tiere/report/trbe0002.html

INTERVIEW/002: Gespräch mit Tierbefreierinnen und Tierbefreiern in Wietze (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/tiere/report/trin0002.html


Aktuelle Beiträge zu den Tagebauen im Rheinischen Braunkohlerevier und den dagegen gerichteten Widerstand im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

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30. Juni 2014