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INTERVIEW/171: Welt ohne Hunger - Endlich zur Sache kommen ...    Christine von Weizsäcker im Gespräch (SB)


Internationale Abschlußkonferenz der Welthungerhilfe am 4. Februar 2015
in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin

Christine von Weizsäcker über Detailgenauigkeit bei der Definition von Hunger, das allmähliche Einschleichen gentechnisch veränderter Nahrung und warum "intensive Landwirtschaft" eine Frage des Standpunkts und Hunger in der Welt ein Skandal ist.


Die eigentlichen Helden seien für sie all jene Menschen, die niemand sieht, die nicht im Rampenlicht stehen, aber mit harter Arbeit hinter den Kulissen in Anhörungen, Ausschüssen, Veranstaltungen, öffentlichen Diskussionen und in den Medien dafür sorgten, daß notwendige legislative Prozesse überhaupt stattfinden, erklärte Christine von Weizsäcker zu Beginn der 1. Paneldiskussion. Seit 2012 mit den Vorbereitungen zur Rio+20 Konferenz bis heute, wo im September 2015 die 68. Generalversammlung der UN ansteht, arbeiteten viele hart an einer vernünftigen, realistischen Agenda. Eine dieser Menschen ist sie selbst. Als Vertreterin der Wissenschaft in Deutschland gehört Christine von Weizsäcker zu den maßgeblichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen einer internationalen Beratergruppe des POWA-Projekts [1] der Welthungerhilfe, die sich u.a. für den Entwurf des Berlin Memorandums verantwortlich zeichnet, der am 4. Februar im Rahmen einer von der Welthungerhilfe organisierten internationalen Konferenz vorgestellt und diskutiert wurde und eigentlich auch weiter konkretisiert werden sollte. Mit dem Berlin Memorandum soll schlußendlich eine Basis für die Forderungen einer breiten Allianz aus Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Wissenschaft an die deutsche Bundesregierung im Rahmen der G7-Präsidentschaft und dem G7-Gipfeltreffen am 7. und 8. Juni 2015 auf Schloss Elmau geschaffen werden.

Christine von Weizsäcker ist nicht nur Autorin zahlreicher Publikationen, die zur wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte brisanter Themen beigetragen haben, sondern steht schon seit vielen Jahren an verschiedensten Orten mit Herz und Hand für die Interessen der Zivilgesellschaft ein: Verhandlungen, in denen es um die Menschenrechte benachteiligter Menschen oder Minderheiten, die Umwelt und die Verwirklichung der globalen Nachhaltigkeitsziele geht, sind für die Biologin kein Neuland, deren Funktionen in verschiedenen Organisationen und Verbänden, wollte man sie in aller Ausführlichkeit und Genauigkeit aufzählen, wohl mehrere Seiten füllen würden. Sie ist bekannt dafür, sich gerade dort zu engagieren, wo die Ausgangs- wie die potentiellen Ergebnislagen nahezu aussichtslos sind. So arbeitet die fünffache Mutter seit über vierzig Jahren an Fragen der Technikfolgenabschätzung, bei der einer ihrer Schwerpunkte die Gentechnik ist und nimmt darüber hinaus seit 1994 an den internationalen Verhandlungen zur Konvention über biologische Vielfalt und ihrem Cartagena Protokoll über biologische Sicherheit teil. Für ihre "mutige Öffentlichkeitsarbeit und für praktisch-politische Anstrengungen zugunsten von Biodiversität, Biosicherheit und die Wahlfreiheit der Verbraucher" wurde sie 2006 mit dem Kant-Weltbürger-Preis ausgezeichnet. Sie ist darüber hinaus auch Mitglied im Beirat der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler und gehört seit vielen Jahren dem wissenschaftlichen Beirat des Gen-ethischen Netzwerkes an, und das nicht nur namentlich. Wenn sie etwas für sinnvoll hält, gilt ihre tatkräftige Unterstützung ebenso Organisationen wie dem Verwaltungsrat der Stiftung Warentest wie dem wissenschaftlichen Beirat "Verbraucher- und Ernährungspolitik" des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz.

Die Welthungerhilfe hatte sie neben Gerda Verburg (Vorsitzende des FAO-Komitees für Ernährungssicherheit (CFS)), Elias Geneti Simma (Addis Ababa Chamber of Commerce, Agro Prom) und Joe Cerrell (Geschäftsführer Bill & Melinda Gates Foundation) eingeladen, über die Herausforderungen zu diskutierten, die mit dem Ziel, den Hunger weltweit bis 2030 zu beenden, verbunden sind und welche Hoffnungen damit an die Präsidentschaft Deutschlands in den G7-Verhandlungen geknüpft werden. Vom Moderator Jan Lerch wurde sie vor allem als streitbare Expertin für Verhandlungen dieser Art und Präsidentin der 1976 gegründeten Organisation Ecoropa angekündigt, einem Netzwerk, das sich mit den Themen Ökologie, Demokratie und Gerechtigkeit befaßt. Sie selbst scheint auf all das wenig Wert zu legen und sieht sich vor allem als Wissenschaftlerin, die auch vor präziser und selbstkritischer Analyse nicht zurückscheut: Wohl als einzige des Panels bemängelte sie die Hungerbekämpfung in der Vergangenheit, die mehr aus Worten denn aus Taten bestanden habe und in der die Aussicht auf nächste Fortschritte immer von einer Dekade auf die nächste verschoben worden sei. Die Mittel, die konkret eingesetzt wurden, wären laut Human Development Reports (UNDP) bisher lächerlich klein gewesen, daß der Verdacht nahe liege, daß ein Teil dessen, was national und international getan wird, zu der Maschinerie gerechnet werden muß, die den Hunger und die Armut auf der Welt noch befördere. Armut und Hunger sind ihrer Meinung nach keine Naturkonstanten.

Sie folgerte daraus, daß man bisher die naheliegendsten Werkzeuge nicht genutzt hätte. Man müsse jenen Stimmen die angemessene Bedeutung zukommen lassen, die ihre Erfahrungen direkt an der Scholle machten und lernen, daß Bauern nicht generell zu dumm seien, in die Stadt zu ziehen, sondern durchaus wissen, wofür sie arbeiten und was sie dafür brauchen. Daher reiche es nicht, daß man den Kleinbauern eine Stimme verleiht, sondern man müsse dieser Stimme auch zuhören. Sie selbst lebt diesen Vorsatz schon lange, indem sie immer wieder Indigene, Bauern und Bäuerinnen mit jungen Wissenschaftlern und Städtevertretern im Gespräch zusammenbringt, um Kooperationen mit Kleinbauern zu ermöglichen. Das sei nicht immer leicht, weil die Versprechungen der Konzerne und Industrie starke Argumente sind, so daß oft schwächere Konzepte ausgearbeitet würden, als ohne diese vermeintliche Unterstützung vielleicht möglich wäre, welche die Armutsmaschinerie wieder mit neuem Stoff versorgt - zahlreiche Anknüpfungspunkte für Fragen. Im Rahmen der Veranstaltung war Frau von Weizsäcker bereit, uns einige davon zu beantworten ...


Foto: © 2015 by Schattenblick

Ihre Helden sind die Menschen, die hinter den Kulissen hart an vernünftigen Lösungen für die Nachhaltigkeitsziele arbeiten.
Christine von Weizsäcker im Gespräch mit Jean Julien Somé vor Beginn der POWA Konferenz.
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): 2014 wurde im Zuge des Welthungerindex viel über das Thema "verborgener oder versteckter Hunger" diskutiert. Dabei wurde die "Mangelernährung oder das Verhungern" quasi auf das Problem "falsche und ungesunde Ernährung bzw. Vitaminmangel" verschoben. Das kann zwar ebenso tödlich ausgehen, scheint aber zunächst - von außen betrachtet - nicht ganz so schlimm, wie überhaupt keine Nahrung. Welche Bedeutung hat für Sie diese besondere Form des Hungers und wie genau oder detailliert sollte oder muß man Mangel definieren?

Christine von Weizsäcker (CvW): Diese Detailarbeit zu den sogenannten "Micro nutrients", Mikronährstoffen [2], ist sehr wichtig. Das sind nur in geringer Menge nötige Stoffe oder Mineralien wie Zink. Die moderne Landwirtschaft verbraucht das Zink in den Böden. Dann fehlt es in der Ernährung. Und wenn Zink fehlt, ist das Immunsystem nicht so tüchtig. Das heißt, allein im Fall eines Mangels an Zink kann man dann eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten inklusive Darmerkrankungen, die die Haupttodesursache bei kleinen Kindern sind, wissenschaftlich bestätigen. Für diese Mangelerscheinungen an Mikronährstoffen gibt es zahllose Beispiele. Viele leiden daran. Für ganz viele ist es vor allem der brutale, mengenmäßige Hunger. Aber es kommt dann eben auch noch diese schlechte Qualität der Ernährung dazu.

Deshalb sind auch die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten und Kochgewohnheiten, z.B. die Umstellung von der Hirse oder Teff in Äthiopien auf Mais, so problematisch. Dann fehlen plötzlich essentielle Aminosäuren. Die Folgen davon lassen sich dann wieder in Untersuchungen nachweisen. Daß die Kinder keine Haare mehr auf dem Kopf haben und so. Das alles ist kleinschrittige Präzisionsarbeit.

Was man aber sagen kann, ist, daß ein humusreicher Boden mit einem regen Bodenleben diese Micro nutrients, diese Spurenelemente aktiviert und balanciert anbietet, so daß sie auch in dem, was auf diesem Boden gewachsen ist, enthalten sind. Damit ist eine ganz andere, gesunde Ernährung möglich, auch wenn man es den Pflanzen von außen gar nicht ansieht. Dagegen werden diese Spurenelemente durch die Degradation, die Bodenzerstörung, das schnelle Flacherwerden der Böden durch die Erosion, aber auch durch Überdüngung gemeinsam mit dem Phosphor und dem Stickstoff nach oben gezogen und verbraucht, und zwar in einer Geschwindigkeit, mit der sie in den unteren Bodenschichten nicht aktiviert und nachgeliefert werden können. Das heißt, sie haben da noch viel Arbeit vor sich und ich hoffe, daß sich ganz viele tüchtige Forscher daran machen.

Denn es gibt bereits viele Resultate, was aber bei einigen zu der Schlußfolgerung führt - da es sich ja immer um einzelne Bestandteile handelt - naja, dann müsse man eben jedem Kind auf der Welt irgendwelche Spurenelemente oder Vitaminpillen pro Tag verschreiben. Das ist aber vielleicht für die Leute vor Ort doch wieder nicht die Lösung. Denn entweder müssen dann die wohltätigen Organisationen und Regierungen den Preis dafür bezahlen, daß man die Böden kaputtmacht, oder die armen Länder bzw. sogar die Leute vor Ort sind gezwungen, sich mit diesen Pillen zu versorgen und dann sind die Ärmsten, die sich das nicht leisten können, schon wieder mal außen vor. Also es spricht alles dafür, sich langsam den integrierten Lösungen zu nähern und nicht nur Einzelkomponentenforschung zu machen.


Sieht aus wie gewöhnliches Gras, steckt aber voller wichtiger Fettsäuren, Vitamine und Mineralstoffe. - Foto: 2005 by Rasbak als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en]via Wikimedia Commons

Gesunde Ernährung ist möglich, auch wenn man sie von außen nicht sieht. Das wichtigste Getreide Äthiopiens, das gemahlen zu Brot, Grütze oder Injera, dem äthiopischen Nationalgericht, ein pfannkuchenähnliches Fladenbrot, verarbeitet wird, ist Teff (Eragrostis tef).
Foto: 2005 by Rasbak als CC-BY-SA-3.0 Unported Lizenz [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en]via Wikimedia Commons

SB: Das ist so gesehen eine doppelte Problematik: Einmal weiß man gar nicht, wieviel von was die Menschen wirklich brauchen, weil man immer nur von deutlich sichtbaren Mangelerscheinungen auf eine Mindestmenge an Mikronährstoffen schließen kann, ohne die dieser Mangel nicht auftritt. Das sagt aber noch nichts über den wirklichen Bedarf und ob nicht auch nicht erkennbare Mangelerscheinungen vorliegen. Und das gleiche Problem spielt sich praktisch auch noch im Boden ab, der diese Nährstoffe an die Pflanzen weitergibt. Wo der Mangel anfängt, läßt sich gar nicht genau definieren ...

CvW: Ja, und am Ende des Tages heißt es dann, die Leute sind an Infektionskrankheiten gestorben. Die sterben aber an Infektionskrankheiten, an denen sie sonst überhaupt nicht sterben müßten, wenn sie vernünftig ernährt wären. Statt dessen kommt man auf die Idee, dagegen zu impfen, als sei das die Lösung für alles. Man kann in Europa sehen, daß die großen Kinderkrankheiten, die sehr hohe Opferzahlen hatten, nicht etwa mit der Einführung der Impfungen aufgehört haben, sondern zeitgleich damit, daß es den Menschen vom sozialen Status her sehr viel besser ging. Das heißt, was die Vorgänge des Immunsystems angeht - das kann Ihnen jeder Immunologe bestätigen - haben wir es noch mit einer ganz heftigen Baustelle zu tun. Man kann nur sagen, es gibt bestimmte Lebensstile, bestimmte Ernährungskulturen, die es den Leuten erlaubt haben, langfristig über viele Generationen in bestimmten Gegenden zu wohnen.

SB: Wird diese Detailkenntnis eigentlich auch, soweit sie schon vorhanden ist, bei der Versorgung von Flüchtlingen mit Hilfsmitteln berücksichtigt?

CvW: Es ist leider so, daß in den meisten Fällen, wenn Flüchtlingskamps entstehen - sei es durch Krieg oder durch Naturkatastrophen -, daß dann Gentech-Mais angeliefert wird. Das ist das Übliche, was man zur Verfügung hat, weil die Gentechnik-Produktion gar nicht so leicht auf dem Weltmarkt abzusetzen ist. Viele Länder wollen das nicht und dann wird dieser Überschuß über die Hilfsorganisationen abgesetzt und verschenkt. Das wird dann oft als wertvoller Beitrag gewertet, aber ich muß ehrlich sagen, wenn ich die Wahl hätte zu verhungern oder Gentechnik-Produkte zu essen - zumal in so einem Fall niemand weiß, daß es welche sind, denn sie werden ja gar nicht daraufhin überprüft -, dann würde ich sie wahrscheinlich essen.

Das heißt aber auch, daß über Hilfsprogramme unter Umständen eine Kontaminierung der Saatgut-Kette entstehen kann, denn in Entwicklungsländern unterscheiden die Leute nicht zwischen Nahrungsmittel und Saatgut, es wird auch nicht in zwei verschiedenen Läden gehandelt, sondern alles, was gegessen werden kann, kann auch ausgesät werden.

SB: Wenn der World Food Report der FAO bereits 2009 versichert hat, daß die weltweite Landwirtschaft im derzeitigen Entwicklungsstand zwölf Milliarden Menschen mit ausreichenden Kalorien versorgen könnte, dann fragt man sich doch, warum immer noch alle fünf Sekunden ein Kind stirbt. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

CvW: Da bin ich überfordert. Erklären kann ich das nicht. Das ist ein Skandal. Das betrifft auch nicht nur den Zeitraum zwischen 2009 und jetzt, sondern das ist ein jahrzehntelanger Skandal. Wir haben seit Jahrzehnten eine Nahrungsmittelproduktion, bei der es nicht nötig wäre, daß irgend jemand hungert. Wir haben ein Verteilungsproblem. Das ist immer wieder gesagt worden. Aber diese Verteilung zu organisieren, klappt einfach nicht. Sobald man sich darauf einläßt, die Menschheit mit den Nahrungsmittelströmen aus den großen Anbaugebieten zu ernähren, dann erreicht das immer nur die Hauptstädte, aber nicht die abgelegenen Täler und die "unwichtigen" Gegenden des Landes. Das heißt, Sie haben da immer wieder das gleiche Problem. Im Grunde genommen ist diese Absurdität, daß genau diejenigen Leute hungern, welche die Mehrzahl der Hungrigen auf der Welt ernähren, ein Rätsel, das man nur so erklären kann, daß da ganz massiv falsche, politische Beschlüsse bei der Schaffung von Infrastruktur gefaßt worden sind: das Nicht-Setzen auf lokale Märkte oder die großen Exportkonzepte, die Welt stattdessen im Großen durch riesige, menschenleere Gegenden zu ernähren. Ich denke hier zum Beispiel an den Wheat Belt [den Weizengürtel] in den USA, wo kaum Bauern sind und sehr viel produziert wird. Das muß ja irgendwo hin. Hinter dieser Export-Orientierung steckt auch die Einstellung, daß man mit diesem Getreide versorgt wird und daß man es zu einem bezahlbaren Preis bekommt. Und die hat sich inzwischen durchgesetzt.

Daß viele Länder politisch vor allem auf ihre Hauptstädte und die arme Bevölkerung, die dort lebt, achten, hat eine lange Tradition. Die alten Römer wußten das schon: "Brot und Spiele" - damit hält man die städtische Bevölkerung, die ja Ärger machen kann, ruhig. Die ländliche Bevölkerung ist dagegen so weit verteilt und damit so leise, daß sie, wenn sie es nicht selber mit unglaublich viel Durchhaltevermögen, Phantasie und Willenskraft schafft, sich zu ernähren, unbemerkt verhungert.

SB: Die "intensive Landwirtschaft" wird häufig als Lösung für den Hunger propagiert, versorgt aber die Menschen nicht ...

CvW: Also ich würde das Wort "intensive Landwirtschaft" in dem Zusammenhang überhaupt nicht benutzen, denn gerade die Kleinbauern, die häufig gartenartige Anbaumethoden verwenden, betreiben eine äußerst intensive Landwirtschaft und haben oft einen Riesenertrag pro Hektar. Das andere ist die großflächige Monokultur und somit "industrielle Landwirtschaft". Die ist hinsichtlich ihres Zerstörungspotentials identifiziert worden. Es gibt ein sogenanntes Millenium Ecosystem Assessment, was im Jahre 2000 angefangen und 2002 veröffentlicht wurde, darin werden die 'Moderne Landwirtschaft' - die Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft - als drei Hauptantriebskräfte der Ökosystem- und Biodiversitätszerstörung zu Tage gefördert. Wir wissen noch sehr wenig darüber, was diese Form der Landwirtschaft tatsächlich mit den Böden anstellt, denn die Böden sind unendlich klimarelevant. Die fruchtbaren, humusreichen, wasserspeichernden Böden haben unglaublich viel Kohlenstoff bzw. CO2 im Humus gespeichert. Wenn das zerstört wird, wenn Böden degradiert werden, Humus verloren geht, dann setzen wir gewaltige Mengen an Treibhausgasen frei und produzieren noch ein zusätzliches Problem.

SB: Genau dieses Problem sprachen Sie im Panel als möglichen Streitpunkt zwischen den Klimazielen der Klimagipfel und der Hungerbekämpfung an. Glauben Sie, daß man von wissenschaftlicher Seite hier einen Zugriff gewinnen könnte, was die Möglichkeiten der Nahrungsversorgung durch das Kleinbauerntum betrifft? Sollte man mehr Forschung in die intensive, gartenartige Bewirtschaftung der Kleinbauern stecken?

CvW: Ja. Wenn allerdings hier Leute auftreten und die Forschung intensivieren und die Probleme sämtlicher Kleinbauern auf der Welt mit dem gleichen Modell lösen wollen, ist das auch schon wieder etwas fragwürdig. Das heißt, zu dieser Sorte von Forschung muß einfach dazu gehören, daß man neugierig darauf ist, wie gut diese kleinbäuerlichen Systeme sind, die die indigenen Menschen anwenden. Man findet wohl nirgends ein so hohes Innovationspotential wie in der agroökologischen Landwirtschaft. Aber die ist vor allem deshalb anders, weil sie nicht die "globale Lösung" anbieten kann, sondern immer sagt: "Für hier, für diese Probleme und Voraussetzungen, war das ein phantastisches Modell." Dafür muß aber eine sehr viel partizipativere Forschung, auch partizipativere Pflanzenzüchtung [3] betrieben werden. Und das nennt man dann transdisziplinär. Das Blöde ist nur, daß die Forscher, die sich darauf einlassen, zwar in ein hochinteressantes, oft auch lustiges und für neugierige Wissenschaftler ungemein ergiebiges, ertragreiches Forschungsgebiet eintauchen, nur lassen sich die Ergebnisse eben nicht in den Journalen veröffentlichen, für die man hohe Punktzahlen bekommt. Das heißt, wer so etwas macht, der ruiniert im Moment damit häufig noch seine wissenschaftliche Karriere.

SB: Noch einmal zurück zu den Zahlen der Nahrungsmittelproduktion, die wir vorhin angesprochen hatten. Wie belastbar sind solche Zahlen eigentlich, die ja wohl von der FAO selbst stammen?

CvW: Die FAO ist da sehr vorsichtig. Und natürlich bleibt dann immer die Frage, ob man davon ausgeht, daß weiterhin so viel von den Nahrungsmitteln in die Tierproduktion geht oder so viel der potentiellen Nahrungsmittel für die Produktion von biologischen Treibstoffen draufgeht. Wenn man diese beiden Faktoren abziehen würde, dann wären diese Zahlen meiner Ansicht nach nochmal erheblich besser. Und diese Kalkulationen sind natürlich genau an einer Stelle, an der sich noch viel verschieben kann. Gerade die Umwidmung von Flächen vor allem auch für Biofuels, sind gewaltig und haben in den letzten Jahren enorm zugenommen.

SB: Was halten Sie von den gerade anlaufenden und demnächst wieder aufgenommenen Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der USA hinsichtlich Gentechnik?

CvW: Die laufen schon eine ganze Weile. Sie sind nicht gerade erst aufgenommen worden, sondern laufen schon lange. Man hatte ja gehofft, daß man sie Ende des letzten Jahres noch eintütet. Ich gehörte zu den Leuten, die vor zwei Jahren darauf hingewiesen haben, was eigentlich Investorenschutzabkommen und Schiedsgerichte bedeuten, auch für die Demokratie und für die Möglichkeit von Staaten zu handeln. Ein für mich spezielles Thema ist natürlich, daß die USA das Vorsorgeprinzip in ihrer Gesetzgebung und Politik nicht kennen. Europa hat das in seiner Umweltschutzgesetzgebung und Verbraucherschutzgesetzgebung und die Gentechnik-Gesetzgebung in Europa baut auf diesem Vorsorgeprinzip auf. Es bedeutet, wenn Hinweise entstehen, daß ernste oder irreversible Schäden passieren könnten, dann soll der Staat nochmal innehalten und genau überprüfen, ob diese Hinweise begründet sind. In den USA gilt dagegen das "Sound Science Principal". [4] Sound Science, also solide, gute Wissenschaft, das klingt phantastisch. Das heißt aber, daß der Staat nicht eingreifen kann, bevor nicht die ganze Kausalkette wissenschaftlich belegt ist und bevor der solide wissenschaftlichen Konsens nicht hergestellt ist. Also haben die Hersteller immer die Möglichkeit, irgendwo in den Ländern der Erde zwei Institute zu finden, die sie finanzieren, und die ihnen dann z.B. bestätigen: "Nein, das ist nicht schädlich" oder "Klimawandel gibt es davon nicht". Und dann kann man nichts machen, da dieses Sound Science-Prinzip gilt. Wie soll man das auf einen Nenner bringen, wie soll es da gemeinsame Standards geben, wenn das Grundprinzip der Zulassung ein ganz anderes ist? Darin sehe ich ein gewaltiges Hindernis.


Foto: © 2015 by Schattenblick

Man findet wohl nirgends ein so hohes Innovationspotential wie in der agroökologischen Landwirtschaft (Christine von Weizsäcker)
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SB: Wie bewerten Sie denn die jüngste Entwicklung in der Europäischen Union mit den nationalen Vorbehalten gegenüber Gentechnik? Würden Sie das eher als Türöffner für die grüne Gentechnik oder tatsächlich als einen Abwehrmechanismus sehen?

CvW: Also ich fürchte, daß das doch auf einen ziemlichen Türöffner herauslaufen wird. Einige Länder warten nur darauf, genveränderte Organismen zulassen zu können. Und dann haben die Nachbarländer das Problem. Ich meine, bisher war es auch nicht einfach. Damit man nicht vor den Kadi der Welthandelsorganisation gezogen wurde, mußten jedes Jahr neue Studien dazu vorgelegt werden, daß ein Gefahrenpotential vorhanden ist. Und das ist sehr schwierig. Es genügt nicht, daß man einmal den Nachweis erbringt, daß unsere 80 Schmetterlingsarten davon geschädigt werden würden. Also nimmt man lieber nur jeweils einen Schmetterling, um diese Bedingungen zu erfüllen, damit man das über mehrere Jahre ausdehnen kann.

Das ist heute nicht mehr der Fall. Aber da allgemein die Strategie "Confusion and Resignation", [der Konfusion und Resignation] gilt, also die Erzeugung von Verwirrung und Unüberschaubarkeit in der Öffentlichkeit, um dann das Resignieren der Bürger zu erreichen, kann man natürlich, wenn es in einigen Ländern zugelassen ist und in anderen nicht, behaupten, daß es im übrigen doch überall drin ist.

Und die Behauptung, es sei überall enthalten, ist eine Industriebehauptung und keine Behauptung der gentechnisch kritischen Öffentlichkeit. Denn wenn es überall drin ist, kann man nichts mehr machen, dann muß man die Hände in den Schoß legen. Und das heißt, im Hinblick auf die jüngste Entwicklung bekommen wir vermutlich mehr Konfusion und vermutlich mehr Resignation. Aber das ist eher auf lange Sicht betrachtet.

SB: Abgesehen von gentechnisch-kritischen Fragen befassen Sie sich in sehr vielen Organisationen mit verschiedenen Fragen und Problemen der Gesellschaft, von Armut, Hunger bis zu den Folgen der Nutzung von Atomenergie. Was treibt Sie an? Reicht dafür die Neugierde und würden Sie Ihr Engagement selbst zusammenfassen bzw. unter einen Hut bringen?

CvW: Gar nicht. Das läßt sich gar nicht unter einen Hut bringen. Es ist nur so, wenn man sozusagen ein Waisenkind schreiend auf der Türschwelle findet, dann nimmt man es auf, guckt, ob es jemand anderem gehört, ob jemand anderer dafür sorgen will. Wenn nicht, dann muß man einfach mit anpacken. Es ist nicht so, daß ich mich unbedingt umsehe und frage: Wo sind Probleme und was ist das Allerwichtigste? Das passiert einem einfach.

Man sollte, glaube ich, nicht in diese zerstörerische ökologische Olympiade eintreten, wo jeder mit dem Zeigefinger auf den anderen deutet und sagt: "Was, du hast noch ein Auto? Was, du hast noch eine Spülmaschine?" oder "Was, du baust nicht deine eigenen Tomaten an?" Sondern man macht das, was man gut kann und was einem leicht fällt und läßt die anderen daran teilnehmen. Man muß nicht an allen Stellen des Punktesystems nachrechnen, wer sich am ökologisch korrektesten verhält.

Als der Erdgipfel in Rio 1992 war, da fand ich es gut, mein Standpunkt-Papier einfach nur dorthin zu schicken, selbst zu Hause zu bleiben und die Flugkosten zu sparen. Aber bei manchen Ereignissen weiß man auch, daß es besser ist, körperlich anwesend zu sein. Und so habe ich zum Beispiel mein Budget von CO2-Emissionen schon längst überschritten. Das tut mir leid. Aber auf der anderen Seite ist es auch eine gute Kontrolle, wenn ich mich hinterher frage, ob es den Aufwand wert war, ob es sich gelohnt hat. Häufig bleibe ich auch zu Hause und schicke Freunden dann Papiere oder Hintergrund.

SB: Sie unterstützen Indigene, Umweltaktivisten und Kämpfer aus allen Erdteilen, die mit ihren Fragen und Problemen zu Ihnen kommen.

CvW: Ja aber das sind häufig E-Mail-Kontakte.

SB: Mit welcher Art von Fragen und Problemen haben Sie es dann zu tun?

CvW: Manche Leute sind schlicht in ihrem Leben existentiell bedroht. Das ist eine Sache. Und andere brauchen auch nur irgend jemanden, der bereit ist, zu ihnen zu kommen und etwas zu einem bestimmten Thema vorzutragen, und wieder andere wollen einfach nur eine Unterschrift und fragen mich dann: Kannst du mir möglichst viele Organisationen besorgen, die diesen Sachverhalt mit unterschreiben würden? Das sind immer jeweils sehr unterschiedliche Geschichten. Also ehrlich gesagt, könnte man diese Arbeit ja nicht machen, wenn man sich da ganz allein mit zusammengebissenen Zähnen durchwurstelt. Aber das Erstaunliche ist, wie viele wunderbare, blitzgescheite, anständige, lustige und erfreuliche Menschen man in diesen Prozessen trifft. Das hält mutig.

SB: Frau von Weizsäcker, vielen Dank, daß Sie sich die Zeit für uns genommen haben.


Anmerkungen:

[1] Das Advocacy-Projekt POWA steht für "Building Public and Political Will for Agriculture ODA in Germany" - Öffentliche und politische Willensbildung in Deutschland für ODA im landwirtschaftlichen Sektor. ODA (Official Development Assistance) bezeichnet das Bereitstellen finanzieller Mittel des öffentlichen Sektors für die Entwicklungszusammenarbeit. - Ziel von POWA ist es, die G7-Nationen (USA, Japan, Deutschland, England, Frankreich, Italien, Kanada und ehemals als achtes Mitglied Rußland) dazu zu bringen, sich mit aller Kraft und entsprechenden Mitteln für die Überwindung von Hunger einzusetzen.

[2] Mikronährstoffe, oft auch Vitalstoffe genannt, sind im Gegensatz zu den Makronährstoffen wie Fett, Kohlenhydrate und Eiweiß Stoffe, die der pflanzliche, tierische und menschliche Organismus aufnehmen muß, ohne daß sie Energie liefern. Zu den Mikronährstoffen zählen in erster Linie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, aber auch sekundäre Pflanzeninhaltstoffe, Fettsäuren und Aminosäuren. Mikronährstoffe sind essentiell für den Ablauf von Stoffwechselvorgängen im Organismus. Eisen, Kupfer, Mangan, Zink, Molybdän, Bor und Nickel sind Mineralstoffe, die in der Ernährung eine größere Rolle spielen, als man gemeinhin denkt.

[3] Partizipative Pflanzenzüchtung umfaßt all diejenigen Vorgehensweisen, bei denen unterschiedliche Akteure (Wissenschaftler, Züchter, Bauern und andere Interessierte) gemeinsam am Züchtungsprozess beteiligt sind. Mehr dazu finden Sie hier:
http://www.giz.de/fachexpertise/downloads/giz2014-de-partizipative-pflanzenzuechtung.pdf
http://www.fibl.org/fileadmin/documents/shop/1563-oekolog-partizipativ-pflanzenzuechtung.pdf

[4] Sound Science Principal - In den Vereinigten Staaten gilt das "Prinzip der soliden Wissenschaft". Das hört sich zunächst gut an. Für den Fall, daß ein Produkt oder ein Zusatzstoff verboten werden soll, weil es in den Verdacht geraten ist, schädliche Nebenwirkungen auf Mensch oder Umwelt zu haben, muß der Antragsteller eines solchen Verbots den wissenschaftlichen Nachweis der Schädlichkeit erbringen. Das erfordert in der Regel sehr umfangreiche und teure Langzeitstudien. Der Hersteller bezeichnet also das Produkt bzw. den Stoff als unschädlich, den Nachweis der Schädlichkeit muß der Kritiker erbringen. Bisher sind in den USA nach diesem Verfahren nur 5 Chemikalien bzw. Chemikaliengruppen verboten worden. Was vor Inkrafttreten des Gesetzes 1979 auf dem Markt war, ist ohnehin von jeglicher Sicherheits-Überprüfung ausgenommen.

Weitere Interviews und Berichte zur POWA -Konferenz der Welthungerhilfe in Berlin finden Sie im Schattenblick unter:
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mit dem kategorischen Titel "Welt ohne Hunger".

10. Februar 2015


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