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WALD/151: Hambacher Forst - Gegensichten ... (SB)


Was geschah am 29. Februar im Hambacher Forst?


Auf der Basis einer Fülle dokumentierter Augenzeugenberichte aus dem Erlebnis- und Beobachtungsraum von Aktivisten zur Verhinderung der Rodung des Hambacher Forstes erlaubt sich die Schattenblick-Redaktion zum besseren Gegenöffentlichkeitsverständnis, diese in der allgemeinen Presse vernachlässigten bzw. geleugneten Sichten und Erfahrungen der Ereignisse vom Nachmittag des 29. Februar im Hambacher Forst wiederzugeben.


Aktivistin hoch oben auf einer Palette über einem Tripod sitzend - Foto: © 2016 by Todde Kemmerich

Zeugin unerwünscht? Vorwurf des schweren Landfriedensbruchs gegen Aktivistin im Hambacher Forst
Foto: © 2016 by Todde Kemmerich


Die Sicht der Polizei ...

Laut einer Pressemitteilung der Polizei Düren vom Tag des Geschehens [1] seien im Gebiet rund um den Hambacher Forst, wo es bereits in der vergangenen Woche zu diversen Polizeieinsätzen gekommen sei, Polizeibeamte und ihre Fahrzeuge massiv attackiert worden. Erste Ermittlungen hätten ergeben, daß die Angriffe durch Zwillenbeschuß erfolgt seien und zumindest Sachbeschädigungen an den Dienstfahrzeugen herbeigeführt hätten; glücklicherweise sei niemand verletzt worden. Die Straftäter seien zunächst in den Wald geflüchtet, eine Straftäterin habe zwischenzeitlich festgenommen werden können. Am Einsatzort seien drei Brandvorrichtungen sowie Weltkriegsmunition mit fehlendem Zündkopf, aber vorhandenem Sprengstoff, aufgefunden worden.

Ob diese Gegenstände Zufallsfunde seien oder durch Personen absichtlich dort plaziert wurden, sei derzeit noch Gegenstand der Ermittlungen. Eine weibliche Person stünde in dem Verdacht, Polizeibeamte mit einer Zwille beschossen zu haben; anschließend habe sie sich über mehrere Stunden in einem Baum aufgehalten. Nachdem sie am Abend den Baum freiwillig verlassen habe, sei sie festgenommen und zur Identitätsfeststellung in die Polizeiwache nach Düren gebracht worden; über eventuell weiter andauernde freiheitsentziehende Maßnahmen müsse nun die Staatsanwaltschaft entscheiden.


... spiegelte sich in der lokalen und überregionalen Presse wider ...

Die Pressemitteilung der Polizei Düren wurde am 29. Februar um 21.50 Uhr veröffentlicht und fand offenbar wenig später in vielen Medien ein deutliches Echo. Der Kölner Stadtanzeiger beispielsweise berichtete unter der Überschrift "Attacken gegen Polizei - Weltkriegsmunition im Hambacher Forst sichergestellt" [2] am 1. März um 8.37 Uhr, daß am Montag nach Angaben der Polizei im Hambacher Forst Beamte und Polizeifahrzeuge gezielt angegriffen worden seien. Aktivisten hätten mit Zwillen auf die Polizei geschossen und seien anschließend in den Wald geflüchtet. Munition aus dem Zweiten Weltkrieg, bei der der Zündkopf fehlte, der Sprengstoff jedoch vorhanden war, sei am Einsatzort gefunden und eine Aktivistin unter dem Verdacht, Polizeibeamte mit einer Zwille beschossen zu haben, festgenommen worden.

Wie Focus unter dem Titel "Polizei im Hambacher Forst attackiert" am Dienstag um 13.54 Uhr ebenfalls unter Berufung auf Polizeiangaben meldete, sei eine Frau, die zu den Umweltaktivisten gehöre, die die Ausweitung des Braunkohletagebaus Hambach auf das Waldgebiet verhindern wollen, festgenommen worden. Sie solle ein Polizeifahrzeug im Bereich des Hambacher Forsts mit einer Schleuder beschossen und beschädigt haben. [3]

"Neue Eskalation im Hambacher Forst - Zwillenschüsse auf Polizisten", so der Titel eines taz-Artikels vom 29. Februar [4], in dem von einer neuen Eskalation im Hambacher Forst berichtet wurde. Als Hintergrund wurden Rodungsarbeiten vermutet, die noch kurz vor Ende der Rodungssaison hätten vorgenommen werden sollen. Die taz verwies darauf, daß aufgrund umweltrechtlicher Einschränkungen RWE nur in den Wintermonaten Bäume fällen dürfe, weil die Jungtiere im Wald in der Brut- und Nistsaison geschützt werden müßten. Dies hätten Waldbesetzer offenbar zum Anlaß genommen, so die taz, gegen die von der Polizei geschützten Baumarbeiter vorzugehen. Die Polizei habe von Zwillenschüssen auf Beamte und mehrere beschädigte Polizeiautos berichtet, während Waldbesetzer von einem rabiaten Polizeieinsatz im Wald gesprochen hätten, wobei unter anderem eine Klettervorrichtung abgesägt worden sei, auf der sich ein Aktivist befunden habe.


Mehrere gefällte Bäume inmitten des Waldes liegend - Foto: © 2016 by Todde Kemmerich

Baumrettungsaktionsbäume soeben gefällt - Machtdemonstration im Hambacher Forst am 29. Februar 2016
Foto: © 2016 by Todde Kemmerich


... und unterscheidet sich stark von den Darstellungen von Augenzeugen ...

Jens H., ein freier Journalist, hat sich als Außenstehender wegen eines Interviews am Montag im Wald aufgehalten, wo er den Künstler Todde Kemmerich getroffen und die Atmosphäre hautnah miterlebt habe. Es seien nicht irgendwelche Bäume gerodet worden, sondern gezielt Bäume, an denen sogenannte Baumschutzgeister gehangen hätten. Dies sei eine Kunstaktion der Künstler Sebastian Schmidt und Todde Kemmerich gewesen, an der sich Menschen aus ganz Deutschland beteiligt hätten. Über 140 Bilder aus der gesamten Bundesrepublik, die meisten von ihnen von Kindern gezeichnet, seien in einer Woche aufgehängt worden, weshalb der Journalist die Aktion als Provokation aufgefaßt habe.

Andreas B. von der Initiative Buirer für Buir habe erklärt, daß der Kölner Stadt-Anzeiger einen mehr als einseitigen Bericht veröffentlicht habe, der laut Augenzeugen in einigen Teilen schlicht unzutreffend und vor allem nicht objektiv und gründlich recherchiert sei. Entgegen der Angaben von Polizei und RWE, daß die Polizei nach Angriffen auf RWE-Mitarbeiter in den frühen Mittagsstunden gerufen worden sei, hätten mehrere Augenzeugen berichtet, daß sich bereits am frühen Montagmorgen große Polizeikontingente im Wald und auf der alten A4-Trasse befunden hätten. Wanderer hätten sich ausweisen und kontrollieren lassen müssen.

Ein weiteres wichtiges Detail sei dem Mitglied der Buirer Bürgerinitiative zufolge, daß die Festgenommene nicht in einem Baum gesessen habe, sondern auf einem Tripod, also einem Dreibein mit einer in ca. 3 bis 4 Meter Höhe befindlichen Sitzplattform. Die Polizei habe den Augenzeugenberichten zufolge das Tripod räumen wollen, was für die auf der Plattform befindliche Person, die sich kurz vor der Räumung durch zusätzliche Seile habe retten können, sehr gefährlich hätte werden können. Diese Person sei anschließend festgenommen worden, wofür schwerer Landfriedensbruch und gewaltsame Übergriffe auf Polizisten als Gründe angegeben worden seien. Den Augenzeugen zufolge habe sie jedoch ausschließlich auf der Plattform gesessen und sich an keinerlei Aktivitäten gegenüber anderen Menschen beteiligt.

Der Kölner Stadt-Anzeiger habe nicht erwähnt, daß es einen Übergriff durch einen Polizeihund mit Bißfolge auf einen Menschen gegeben habe. Der Buirer Bürger sprach mit Blick auf die Weltkriegsmunition von einer tendenziösen Berichterstattung. Tatsächlich habe es schon früh Hinweise gegeben, daß die Polizei Munition im Wald gefunden habe; auch sei es in der gesamten Region bekannt, daß der Hambacher Forst noch immer voller Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg sei.

Einem Augenzeugenbericht Todde Kemmerichs zufolge [5] habe am Montag gegen 11.30 Uhr ein Rodungskommando planlos Bäume an der aktuellen Rodungskante gefällt - unter anderem auch einen Teil der Bäume, die bei der Kunstaktion am 3. Februar mit "Baumschutzbildern" geschmückt worden seien. Gegen 12.30 Uhr hätten sich Gruppen von Polizeibeamten unter Führung von privatem Sicherheitspersonal durch den Wald bewegt, zwischen 13 und 14 Uhr hätten Polizeihubschrauber über dem Wald und der Wiesenbesetzung gekreist. Um 15.30 Uhr hätten weitere acht Mannschaftswagen der Polizei das Wiesencamp eingekesselt, ohne Gründe für ihr Vorgehen anzugeben. Gegen 20.00 Uhr sei diese Mannschaftswagenkesselung wieder aufgelöst worden. Die gegen 18.30 Uhr festgenommene Person sei um 21.30 Uhr aus der Polizeidienststelle Düren wieder entlassen worden.

Kemmerich schloß seinen Augenzeugenbericht [5] mit der an Politiker und Medienvertreter gerichteten Aufforderung, doch bitte einmal gezielt nachzufragen, was an diesem denkwürdigen 29. Februar tatsächlich vorgefallen sei und sich dabei nicht auf die Pressemitteilungen von Polizei und RWE zu verlassen, sondern die Menschen, die die Ereignisse vor Ort selbst erlebt hätten, danach zu fragen, was sich nach ihrer Wahrnehmung zugetragen habe.


... und den beteiligten und betroffenen Aktivistinnen und Aktivisten

Auf der Webseite der Hambacher-Forst-Aktivisten und -Aktivistinnen erschien am 2. März ein Eintrag [6], in dem zu den Ereignissen vom 29. Februar und der an diesem Tag beendeten Rodungssaison Stellung genommen wurde. Demzufolge habe RWE noch einmal die Muskeln spielen lassen und ohne Sinn und Verstand unter massivem Polizeischutz Bäume an der aktuellen Rodungskante fällen lassen. Mehr als 70 Hektar Wald seien in dieser Rodungsperiode den Kettensägen zum Opfer gefallen. Doch keineswegs gehe alles weiter wie bisher, denn immer mehr Menschen seien nicht mehr bereit, dieser unwiederbringlichen Vernichtung eines einmaligen Lebensraums tatenlos zuzusehen. Immer mehr Menschen würden sich einmischen und sich selbst ein Bild machen. Sie wollten einen anderen Weg und eine andere Stromversorgung und würden den Fensterreden unserer Politiker und Wirtschaftsführer nicht mehr folgen.

In ihrem Aktionsticker hatten die Aktivistinnen und Aktivisten am 29. Februar schlußletztendlich erklärt, daß es von seiten der Aktionsgruppen keine Informationen über Angriffe auf Polizisten gegeben habe.


Fußnoten:

[1] http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/8/3264571

[2] http://www.ksta.de/region/rhein-erft/kerpen/attacken-gegen-polizei-weltkriegsmunition-im-hambacher-forst-sichergestellt-23644846

[3] http://www.focus.de/regional/nordrhein-westfalen/kriminalitaet-polizei-im-hambacher-forst-attackiert_id_5325836.html

[4] http://www.taz.de/!5282331/

[5] Der Augenzeugenbericht Todde Kemmerichs wie auch die Stellungnahmen der zuvor genannten Personen liegen der Schattenblick-Redaktion vor.

[6] http://hambacherforst.blogsport.de/2016/03/02/guten-tag-zusammen/#more-1478

3. März 2016


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