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MÄRCHENKOCH - DESSERT/002: Liebesäpfel (SB)


DAS KARUSSELLPFERD


Was kann schöner sein als am Sonntagnachmittag zusammen mit dem Vater über den Jahrmarkt zu schlendern? Wietje liebte die Karussells, die Buden mit Bockwurst, mit gebrannten Mandeln und frischen Schmalzkuchen, aber vor allem die bunt kostümierten Gaukler, Wahrsagerinnen, Liliputaner und Zauberer, die mit ihren Künsten die Leute unterhielte. Den Vater hingegen zog es zu den Ständen mit den dickbauchigen Holzfässern hin, hinter denen dralle Frauen Gerstensaft in gewaltige Maßkrüge schäumen ließen. Wietje wußte, wenn der Vater erst einmal einen dieser Krüge vor sich stehen hatte, würde er gewiß die nächste Stunde trinkend und schwerzend an dem Stand verbringen und seine Tochter nicht daran hindern, sich auf eigene Faust auf dem Jahrmarkt umzusehen.

So streifte Wietje auch an diesem Sonntag von einem Stand zum anderen, getrieben von ihrer schier unersättlichen Neugier und dem drängenden Wunsch, möglichst viel des bunten Treibens in sich aufzunehmen.

"Soll ich dir einmal etwas wirklich ganz Besonderes zeigen, mein Kind?" Eine alte Wahrsagerin in einem dunklen Gewand, deren goldene Halsketten leise klimpern, beugte sich unverhofft zu Wietje herab.

Wietje hatte die Frau nicht kommen sehen und wunderte sich ein wenig über ihr plötzliches Erscheinen, nahm es aber nicht weiter wichtig und antwortet begeistert: "Oh ja, sehr gern würde ich das." Doch da fiel ihr ein, daß der Vater ihr eingeschärft hatte, auf dem Jahrmarkt wäre kein Spaß für umsonst zu haben, und sie verbesserte sich schnell: "Ach nein, vielen Dank auch, ich habe jetzt kein Geld dabei. Vielleicht komme ich später mit meinem Vater noch einmal her."

Daraufhin zeigte die Alte lächelnd einen blitzenden Goldzahn, zwinkerte Wietje zu und sagte: "Für dich, meine Kleine, will ich heute eine Ausnahme machen." Sie bedeutete Wietje, ihr hinter einen der buntbemalten Wohnwagen zu folgen, wo neben allerlei Krimskrams ein hölzernes Pferdchen stand, wie man es sonst auf Karussells antrifft, schwarz lackiert, aber an manchen Stellen schon ein wenig abgestoßen.

"Sitz auf", fordert die Alte und zeigte dabei unmißverständlich auf den roten Sattel des Holzpferds. Wietje, die glaubte, die Frau sei wohl aufgrund ihres hohen Alters schon ein wenig wunderlich, tat ihr den Gefallen. Doch kaum hat sie richtig Platz genommen, rief die Alte auch schon: "Pferdchen, zeig' dem Kind die Welt - Mädchen, schau, ob's dir gefällt!"

Schon setzte sich das Pferdchen in Trab, oder vielmehr alles um Wietje herum setzte sich in Bewegung, die Wohnwagen, die Jahrmarktsbuden, die Menschen ringsum, alles sauste nur so an ihr vorbei, als säße sie in einem riesigen Karussell und führe darin über den Jahrmarkt, durch das ganze Städtchen, über die Felder und Wiesen am Stadtrand und schließlich sogar durch den Himmel mit der Sonne und den Wolken, über das Meer und durch ferne Länder. In stetig wechselnden Formen und Farben zog die ganze Welt an Wietje vorbei.

Doch gar nicht lange, da wurde das Mädchen des bunten Treibens überdrüssig und sehnte sich danach, wenigstens eines von den Dingen, die an ihr vorbeisausten, eingehender betrachten zu können, statt gleich wieder vom nächsten Eindruck überwältigt zu werden. "Halt!" rief sie. "Brrrr, anhalten!" Aber das Pferdchen dachte gar nicht daran stehenzubleiben, sondern galloppierte nur noch schneller. Verzweifelt zerrte Wietje an den Zügeln, und als auch das nicht wirkte, stieg in ihr langsam die Furcht auf, daß sie das Pferdchen vielleicht nie mehr anhalten könnte und für alle Zeit so durch die Welt rasen mußte, ohne auch nur ein einziges Blütenblatt oder einen Grashalm berühren zu können. All die erstaunlichen, bunten Dinge, die Wietje ständig neu vor sich entdeckte, kümmerten sie nun nicht mehr. Sie vergrub den Kopf in der struppigen Mähne des Pferdchens und weinte.

Da ertönte die Stimme der alten Frau plötzlich dicht neben ihr: "Weine nicht, mein Kind, du bist ja wieder zurück." Verwundert hob Wietje den Kopf, und tatsächlich, das Pferdchen stand wieder hinter den Wohnwagen inmitten dem anderen alten Trödel, genau so, als hätte es sich nie von der Stelle gerührt.

"Du gehst nun besser zurück zu deinem Vater", mahnte die Alte freundlich, "damit er sich keine Sorgen machen muß." Und sie hielt dem noch etwas verwirrt dreinblickenden Kind einen kandierten Apfel hin mit den Worten: "Ich wollte dir etwas wirklich ganz Besonderes zeigen. Hier ist es nun."

Und tatsächlich, nach ihrem rasenden Ritt war für Wietje dieser tiefrot leuchtende, fruchtig-süß duftende Apfel, den sie an seinem klebrigen Holzstiel fest in der Hand halten konnte, das schönste Ding der Welt.


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LIEBESÄPFEL
(Zutaten für 12 Stück)

12 größere Äpfel
1 kg Zucker
250 ml Erdbeersirup (oder Himbeer)
100 ml Wasser
12 kräftige Holzspieße (z.B. Schaschlikspieße)
Eiswürfel für Eiswasser


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Ein Gefäß mit kaltem Wasser und Eiswürfeln füllen und beiseite stellen.

Zucker, Wasser und Sirup unter Rühren erhitzen (nicht kochen), bis sich der Zucker gelöst hat und dann 5-10 Minuten leicht köcheln lassen.

Die gewaschenen, gut abgetrockneten Äpfel mit Holzspießen versehen und in der Zuckermasse wenden. Dann kurze Zeit in Eiswasser halten und danach auf einem Stück geölter Alufolie vollständig erkalten lassen.


Erstveröffentlichung am 24. Mai 1998

12. Oktober 2007