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DILJA/07: Headhunter ( 5) - Ein böses Erwachen (SB)


HEADHUNTER

Teil 5: Ein böses Erwachen

Science-Fiction-Story


Mike Rosefield widerstand dem Impuls, nach den vielen Stunden der Isolationshaft zu den Zigaretten zu greifen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Fraglos waren sie ein Mosaiksteinchen in dem Spiel, das sein ihm unbekanntes Gegenüber mit ihm treiben wollte. Die Versuchung war übermächtig, denn nach über 70 Stunden in dem kleinen Isolations-Container standen ihm buchstäblich die Haare zu Berge. Doch Mike blieb eisern, er würde sich diese Blöße nicht geben angesichts eines Gegners, der ihn ganz offensichtlich weichkochen wollte.

In der schimmernden Gestalt, die sich hinter einem großen Schreibtisch, dem fast schon klassischen Symbol für institutionelle Macht und Überlegenheit, ihm gegenüber aufgebaut hatte, mochte sich den vage erkennbaren Umrissen nach zu urteilen ein Mann verbergen. Mehr war aufgrund der mit Hilfe eines Opto- Verzerrers eingeschränkten Sichtverhältnisse nicht auszumachen.

Es reizte Mike, mit bloßen Händen auf diesen Mann loszugehen. Doch er konzentrierte sich darauf, auch diesem Impuls zu widerstehen; nicht etwa, weil er sich - unbewaffnet, wie er war - zu schwach gefühlt hätte. Nein, der Grund war ein recht simpler: Mike hatte seine sieben Sinne noch so weit zusammen, sich auszurechnen, daß sein unbekannter Gegner neben dem Optoverzerrer sicherlich auch über einen hochenergetischen Schutzschirm verfügte. Selbst mit einer Laser-Waffe hätte der ehemalige Söldner der internationalen Aufruhrbekämpfungstruppen kaum etwas gegen diesen Gegner ausrichten können.

"Nun sagen Sie mir doch mal, warum Sie Hauptmann Renier erschossen haben", drang eine leicht verzerrte Stimme recht unvermittelt aus der schimmernden Gestalt.

Mike stutzte. Was sollte das jetzt werden? Eine Art Gerichtsverhandlung? "Können Sie mir plausibel machen, warum ich einem Mann Fragen beantworten sollte, der sich nicht einmal zu erkennen gibt?", sagte er gedehnt und wußte selbst nicht, warum er sich so höflich ausdrückte.

"Nun seien Sie mal nicht so empfindlich", fuhr der Unbekannte einlenkend fort. "Namen tun ohnehin nichts zur Sache, und daß Sie mich nicht sehen können, dient einzig und allein Ihrem Schutz."

"Ach so, ich verstehe. Bei Ihren Anblick würde mich wohl der Schlag treffen", sinnierte Mike, griff nach einer Zigarette und zündete sie an. Er war sich inzwischen sicher, daß dieser Typ etwas von ihm wollte, also gab es für Mike keinen Grund, ungeduldig zu sein.

"Wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten, könnte ich Ihnen ein interessantes Angebot machen."

"So läuft das nicht", entgegnete des gefangene Soldat seelenruhig. "Wie wollen Sie denn wissen, was für mich interessant sein könnte?"

Doch die schimmernde Gestalt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Sie verkennen ein bißchen die Lage. Mir gegenüber brauchen Sie nicht den starken Mann zu markieren, ich weiß ohnehin, wen ich vor mir habe. Mir stehen mehr Informationen über Sie zur Verfügung, als Sie selber überhaupt erinnern können."

Der Unbekannte machte eine kleine Kunstpause, doch da Mike nicht darauf reagierte, fuhr er schließlich fort: "Wie dem auch sei. Bevor ich mit Ihnen ins Geschäft komme, möchte ich wissen, was Sie dazu bewogen hat, Ihren Vorgesetzten zu erschießen. Aus Ihren Akten geht zwar nicht hervor, daß Sie sentimentale Neigungen oder einen politischen Standpunkt hätten, die Sie zu Ihrer Tat veranlaßt haben könnten. Aber ich würde ganz gern einmal Ihre Meinung dazu hören."

Mike mußte sich eingestehen, daß es seinem Gegenüber gelungen war, ihn neugierig zu machen. Dabei hatte er mit seinem Leben schon längst abgeschlossen. Daß er für das reguläre Militär untragbar geworden war, stand außer Frage. Auch als Anwerbung für einen Geheimdienst konnte dieses seltsame Gespräch wohl kaum interpretiert werden, denn die Sicherheitsbehörden waren recht nahtlos miteinander verwoben. Doch eines war gewiß: Dieser geheimnisvolle Mensch würde ihn, Mike, wohl kaum zu Babysitter- Diensten verpflichten wollen - ganz im Gegenteil, es ging zweifellos um seine speziellen `beruflichen' Qualitäten.

Ein gewisses Interesse konnte und wollte Mike nicht verhehlen. Doch deshalb dieser Gestalt zu erzählen, warum er den Hauptmann erschossen hatte? Das war noch mal eine andere Geschichte - andererseits ... warum eigentlich nicht?

"Nun, ich bin zwar nach wie vor nicht davon überzeugt, daß Sie das überhaupt etwas angeht. Und wenn Sie nun hören wollen, daß es mir leid täte, können Sie das ganze Theater hier ohnehin vergessen."

"Nein, nein, damit habe ich nicht im mindesten gerechnet. Ich wollte nur ganz sicher sein, daß Sie für den Job, den ich Ihnen in Aussicht stellen könnte, auch die erforderlichen psychischen Voraussetzungen haben."

Mike mußte sich eingestehen, daß sein Gegenüber ihn in Erstaunen versetzte. Was war das bloß für ein Mensch, der den Eindruck eines Verwaltungsangestellten machte und dennoch - so hatte es zumindest den Anschein - ganz offensichtlich an einem eiskalten und skrupellosen Killer interessiert war? Oder sollte die Frage viel eher lauten: Für wen oder was arbeitet dieser Typ?

An dieser Stelle brach die Erinnerung ganz plötzlich ab. Mit einem Ruck kam der Headhunter wieder zu Bewußtsein, blitzschnell hatte er sich reorientiert und wußte, daß dies eine Episode seines Lebens war, die sich vor über 15 Jahren ereignet hatte und die er jetzt noch einmal `live' durchlebte. Nach wie vor saß Mike in seinem Ferrari, dessen Steuerung er schon seit Stunden der Automatik überlassen hatte, damit er sich auf dem bequemen Liegesitz ausruhen konnte. Nun aber hatte ihn ein Warnimpuls der Bordelektronik aus seiner `Vision' zurückgeholt, die ein solch hohes Maß an Realität erreichte, wie er es bislang selten erlebt hatte. Diese Begegnung mit der schimmernden Gestalt markierte einen Wendepunkt in seinem Leben. Zu jenem Zeitpunkt hatte er freilich noch nicht begriffen, daß er kurz davor stand, ein Headhunter zu werden - oder zu sterben. Er hatte - wie auch? - damals noch nicht einmal gewußt, daß es solche Kopfgeldjäger im Auftrag der Sicherheitsbehörden überhaupt gab. Offiziell existierte dieser `Beruf' überhaupt nicht, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.


*


Langsam stieg Adriano Capertino die enge Treppe hinauf, um in die kleine Wohnung zu gelangen, in der Felita Borgio wohnte. Der Commissioner ließ sich Zeit, denn ihm graute schon davor, dieser alleinstehenden Frau, einer Witwe, die Nachricht vom Tod ihres einzigen Sohnes zu überbringen. Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, diese unangenehme Situation zu umgehen, denn so etwas gehörte beileibe nicht zu den Pflichten eines Commissioners. Längst hatte es sich eingebürgert, auch im internen Polizeibetrieb, solche Nachrichten elektronisch zu übermitteln.

Als Adriano - kurzatmig, wie er war - das fünfte Stockwerk in diesem in der Rue de Mordana gelegenen Mietshaus erreicht hatte, blieb er erst einmal auf dem Treppenabsatz stehen, um nach Luft zu schnappen. Ihm gegenüber befand sich die Wohnung der alten Dame, er brauchte nur noch zu klingeln. Der Commissioner prüfte den Sitz seiner Krawatte, eine Handbewegung, derer er sich nicht einmal bewußt war, und betätigte kurz entschlossen den mechanischen Türmelder. Alsbald erklang eine recht energische Stimme: "Uno momento, prego." Und dann, leise, so als habe Madame Borgio etwas Mut gefaßt: "Bist du es, Francesco?"

Dem Commissioner wurde ganz flau im Magen. Er räusperte sich vernehmlich und antwortete lauter, als ihm eigentlich lieb war: "Hier ist Commissioner Capertino von der Polizeipräfektur. Madame Borgio, ich würde gerne mit Ihnen sprechen."

Einen kurzen Moment lang blieb es still hinter der Tür, dann sprang sie auf. "Ja, kommen Sie doch bitte herein", begrüßte ihn die alte Dame freundlich. "Signore, Francesco hat so viel von Ihnen erzählt." Mit diesen Worten bat die Witwe ihn herein, die - wie Adriano vermutete - ihr Erstaunen über sein Erscheinen gut zu verbergen wußte. Ahnte sie denn wirklich nicht, was das zu bedeuten hatte? Sie sah ihm fest in die Augen, und fragte mit tonloser Stimme: "Was ist passiert?"

"Signora, es tut mir sehr leid, aber ich muß Ihnen etwas sehr Trauriges mitteilen. Francesco" - Adriano sah einen Moment zu Boden und wandte sich dann wieder dessen Mutter zu - "Francesco ist tot."

Unwillkürlich hatte der Commissioner ebenfalls italienisch gesprochen, diese Regelverletzung wurde ihm nicht einmal bewußt. Folgte er den Buchstaben des Gesetzes, müßte er jetzt Madame Borgio - und sich selbst - anzeigen, wegen dieses Verstoßes gegen die "Bestimmungen zur Vereinheitlichung der sprachlichen Verständigung".

"Was ist passiert?", fragte Madame Borgio noch einmal auf italienisch, nachdem sie den Commissioner in ihr behaglich eingerichtetes Wohnzimmer gebeten hatte. Auch Adriano Capertino antwortete in ihrer gemeinsamen Muttersprache. "Er ist in der vergangenen Nacht von bislang unbekannten Tätern getötet worden." In seiner Hilflosigkeit verfiel der Beamte in die nüchterne Behördensprache, obwohl er eigentlich sein Mitgefühl zum Ausdruck bringen wollte. "Es geschah in einem kleinen Waldstück in der Nähe eines Autobahn-Parkplatzes, etwa 30 Kilometer nördlich von Corina, an der EURO 5."

"Und wie, wie wurde er umgebracht?" fragte sie weiter mit einer fast unheimlichen Ruhe.

"Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten."

Daraufhin sagte Francescos Mutter eine Weile lang gar nichts, auch Adriano unterbrach das Schweigen nicht. Sie saß auf dem Sofa und schien sich der Gegenwart des Commissioners nicht mehr bewußt zu sein. "Was sind das für Menschen, die so etwas tun", murmelte sie schließlich, doch Adriano hatte nicht den Eindruck, als sei dies eine Frage, auf die sie eine Antwort erwartete.

"Signora, ich möchte Ihnen noch sagen ..."

"... wie leid es Ihnen tut?" unterbrach ihn Francescos Mutter und sah ihm direkt in die Augen. "Das weiß ich, sonst wären Sie nicht hier. Eine Frage habe ich allerdings noch, und vielleicht lassen Ihre Dienstvorschriften es zu, daß Sie mir eine Antwort geben: Wer ist für den Tod meines Sohnes verantwortlich?"

`Um Himmels willen' dachte Adriano entsetzt, dessen schlimmste Befürchtungen durch diese Reaktion noch übertroffen wurden. Er hatte mit allem gerechnet, mit einem Nervenzusammenbruch, der schier unerträglichen Verzweiflung einer Mutter, ja, sogar mit Vorwürfen ihm gegenüber, der Frage etwa, ob er, als Francescos Vorgesetzter, ihren Sohn etwa in den Tod geschickt habe. Doch nun stand er vor einer echten Gewissensentscheidung, wollte er nicht dieser Frau angesichts des Todes ihres einzigen Sohnes etwas vormachen.

"Signora, ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wer es getan hat. Aber ich weiß, daß es ein Killer war, der im Auftrag der Zentralverwaltung tätig ist."

"Sie meinen, er wurde von Staats wegen getötet? Aber er war doch Polizist!"

Adriano überlegte kurz, ob er der Witwe noch mehr offenbaren sollte. Im Grunde spielte diese Frage keine Rolle mehr, denn er hatte längst zuviel gesagt. Sollte diese Wohnung der aktiven Akustik-Überwachung unterliegen, war ohnehin nichts mehr zu retten.

"Signora Borgio, Sie verstehen vielleicht nicht ganz, wie die Verhältnisse sich entwickelt haben", versuchte er ihr begreiflich zu machen, was eigentlich nicht zu fassen war. "Ich glaube nicht, daß Francescos Mörder den Auftrag hatte, ihn zu töten. Viel wahrscheinlicher ist, daß Ihr Sohn seine Pflichten zu wörtlich genommen hat." Da die alte Dame ihn noch immer recht verständnislos ansah, fuhr der Commissioner fort: "Er hat sich schlichtweg in Dinge eingemischt, die uns, ich meine die hiesigen Polizeibehörden, absolut nichts angehen. Und dabei war er dann ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort."

Der Commissioner konnte nicht wissen, wie genau er mit dieser Vermutung ins Schwarze traf. Es war wohl seinem Instinkt - oder seiner Lebenserfahrung? - zuzurechnen, daß er zwischen den Zeilen lesen und sich Dinge zusammenreimen konnte, die so ohne weiteres nicht ersichtlich waren. Daß Francesco ausgerechnet ihn in Verdacht gehabt hatte, mit den flüchtigen Kriminellen zu kooperieren und deshalb ihre Festnahme zu vereiteln, war dem Commissioner allerdings nicht klar geworden. Wie auch?!

Francescos Mutter wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ich glaube, allmählich begreife ich, was Sie mir sagen wollen. Es gibt ja so viele Menschen, auch hier bei uns im Viertel, die einfach spurlos verschwinden. Gibt es denn gar keine Hoffnung, daß Francescos Mörder zur Verantwortung gezogen werden?"

Damit traf sie ungewollt Adrianos wundesten Punkt. Zähneknirschend hatte er sich dazu durchgerungen, die ganze Geschichte unter den Teppich zu kehren. Allein hätte er kaum etwas ausrichten können, und wenn er weitere seiner Beamten mit Nachforschungen beauftragt hätte - sie wären buchstäblich ins offene Messer gelaufen. Und wie hätte er das vor sich verantworten können?

"Nein", sagte er deshalb mit gepreßter Stimme. "Wenn es Kriminelle wären, würde ich alle Hebel in Bewegung setzen, um die Täter zur Elimination zu bringen, das können Sie mir glauben. Aber in diesem Fall würde ich meine Beamten, würden noch mehr Mütter ihre Söhne verlieren." Adriano wandte sich ab, denn er war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Wußte diese Frau denn nicht, daß Francesco für ihn fast wie ein Sohn gewesen war?

Madame Borgio tippte ihm leicht auf die Schulter. Der Commissioner wandte sich wieder um und hielt ihrem Blick stand. Sie hatte wohl seine Stimmung erfaßt, und dennoch durchlief ihn ein bei ihren Worten ein eisiger Schauder. "Wenn ich nicht wüßte, daß Francesco so große Stücke auf Sie gehalten hat, würde ich Sie hassen. Und es wäre mir fast lieber so."


*


In den frühen Morgenstunden, die Lampurtinis hatten die Alpen längst hinter sich gelassen, erreichten die Flüchtlinge das frühere Staatsgebiet Polens. Die Landschaft, soweit man überhaupt noch diesen harmlosen Begriff für die auch in der Nordregion recht verdörrte Umgebung verwenden wollte, hatte sich unmerklich verändert. Ebenes Land, so weit man blicken konnte, karge Felder, auf denen nur noch wenig Landwirtschaft betrieben wurde. Der Verkehr hatte merklich nachgelassen. Größere Städte gab es in diesem Verwaltungsbezirk nicht mehr, hier und da konnten sie kleine Ortschaften ausmachen. Die Stille des Grenzbereichs war schon zu spüren, obwohl die Demarkationslinie noch über 80 Kilometer entfernt lag.

"Hier ist ja nicht mehr viel los", murmelte Clarissa gedankenversunken.

"Ja, und das wird noch schlimmer werden. In den letzten Dörfern vor der Grenze leben kaum noch Menschen, und Fremde kommen da erst recht nicht mehr hin. Je weiter wir in diese gottverlassene Gegend vordringen, umso eher müssen wir damit rechnen, daß jemand auf uns aufmerksam wird." Sergio zeigte sich entgegen seiner sonstigen Gewohnheit an diesem Morgen recht gesprächig.

"Gottverlassen ist gut", fügte Clarissa hinzu. "Hier ist doch schon fast alles tot. Da drüben ein paar Felder, aber das meiste ist nur noch verbrannte Erde."

In Italien war die Versteppung des europäischen Festlandes noch nicht so weit fortgeschritten, deshalb war den Lampurtinis der Anblick, der sich ihnen hier bot, nicht vertraut.

"Wenn man bedenkt, daß wir hier noch in der Nordregion sind - wie muß es dann erst in der Dürrezone aussehen?" Sergio runzelte die Stirn. Bislang hatte ihre Flucht - entgegen jeder Wahrscheinlichkeit - reibungslos geklappt. Es war ihnen sogar gelungen, zu tanken und ihre Vorräte aufzufüllen. Sie hatten zwar lange darüber diskutiert, wann der beste Zeitpunkt dazu wäre, doch dann, es mußte schon hinter den Alpen gewesen sein, hatten sie kurzentschlossen die nächste Tankstelle angesteuert. Wie hätten sie auch wissen sollen, wann die bewußtlosen Spanier entdeckt, identifiziert und mit ihrer Flucht in Zusammenhang gebracht werden würden?

Das kam einer Gleichung mit fünf Unbekannten gleich; und als sie morgens um fünf des Abwartens und Debattierens müde geworden waren, hatten sie es einfach drauf ankommen lassen. Der Angestellte an der Tankstelle hatte nicht einmal aufgesehen, als er die Chipkarte des spanischen Geschäftsmannes aus Sergios Hand entgegennahm. Dessen Konto mußte ausreichend gedeckt gewesen sein, sonst hätte die zentrale Abrechnungsstelle sofort Alarm geschlagen und die Abbuchung verweigert. Es hatte Sergio alle Willenskraft gekostet, sich seine Nervenanspannung und vor allem die anschließende Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

Doch jetzt, angesichts der düsteren und kargen Umgebung, legte sich bei dem Gedanken an ihre Zukunft, und zwar ganz konkret an die nächsten Stunden, in der zwielichten Atmosphäre des heranbrechenden Morgens ein Alb auf ihre Gemüter. Die Idee, die doppelt gesicherten Demarkationslinien zu durchdringen, hatte von Anfang an etwas Wahnwitziges an sich gehabt, doch jetzt, je näher sie ihrem Zielgebiet kamen, erschien sie nahezu aussichtlos - jedenfalls für Clarissa.

Seit jeher galten diese Anlagen als absolut sabotage-sicher, doch genau zu diesem Punkt hatte Sergio eine eigene Meinung, allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz. Immerhin war er vor über 15 Jahren leitender Ingenieur dieses Bauabschnitts gewesen - damals, als im Vorfeld der Großen Verwaltungsreform im Nordwesten Europas sowie den ehemaligen Vereinigten Staaten umfangreiche hochenergetische Grenzanlagen hochgezogen worden waren. Clarissa blieb gar nichts anderes übrig, als auf das technische Know How ihres Mannes zu vertrauen, doch sie war realistisch genug, um zu wissen, daß auch er keine Wunder vollbringen konnte. Schließlich war er seit der Bauzeit nicht mehr hier gewesen, wie sollte er also wissen, wie es an diesem Streckenabschnitt inzwischen aussah?

Sergio hingegen wußte ganz genau, daß er nicht blindlings auf das Gelingen seines Planes vertrauen konnte, weil es einfach viel zu viele Unwägbarkeiten gab. Erst vor Ort würde sich herausstellen, ob seine Idee sich technisch realisieren ließe und ob es ihm gelänge, bei den nahezu unweigerlich auftretenden Komplikationen tragfähige Lösungen zu improvisieren. Clarissa gegenüber hatte der seit langen Jahren arbeitlose Hochenergie- Ingenieur seine Bedenken eher verschwiegen - was hätte es auch für einen Sinn gehabt, sie über Gebühr zu verunsichern? Und solange sie keine konkreten Fragen stellte, kam er nicht einmal in die Verlegenheit, ihr einen Bären aufbinden zu müssen. Sie schien sich mit seinen vagen Angaben längst zufrieden gegeben zu haben.

Vielleicht war das ihre Art, so sinnierte Sergio, mit der aufkeimenden Verzweiflung fertig zu werden. Seine zunehmende Nervosität, die rapide anwuchs, je näher sie besagtem Bauabschnitt kamen, war nicht zu übersehen. Doch nicht nur der Wahnwitz ihres Fluchtplans bremste unmerklich seinen Tatendrang, auch der Gedanke an das `Danach', an die andere Seite der Demarkationslinie, das `Drüben', machte ihm immer mehr zu schaffen.

Einmal angenommen, es würde ihm tatsächlich gelingen, die doppelt abgesicherte Stromversorgung der Sicherungsanlagen in diesem Teilabschnitt lahmzulegen und ihnen dadurch den Übergang in die Dürrezone zu ermöglichen - was würden sie dort vorfinden? Würde es drüben überhaupt noch Menschen geben? Könnten sie dort noch das Nötigste zum Leben finden - Wasser, Lebensmittel etc.? Schließlich verfügten sie nur über recht begrenzte Vorräte, die bestenfalls für zwei, drei Tage reichten. Unwillkürlich stieß Sergio einen tiefen Seufzer aus, als er nur daran dachte, daß sie nur fünf Liter Trinkwasser hatten.

Es gab so gut wie keine verläßlichen Informationen über die Verhältnisse in der Dürrezone, und das schon seit Jahren. Seit der Großen Verwaltungsreform wurde in den Medien und von seiten der Behörden kaum noch über die andere Seite berichtet. Längst war es üblich, auf Landkarten oder graphischen Darstellungen lediglich die Bereiche der Nordregion, im wesentlichen also Nordamerika und das nordwestliche Europa, darzustellen; der Rest blieb einfach weiß, so als habe er längst aufgehört zu existieren.


*


Jack Clifton ging bedächtigen Schrittes um seinen Schreibtisch herum und langte nach einem unscheinbaren, aus Holz gefertigten Karteikasten, wie sie in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Büros und Behörden gang und gäbe gewesen waren. Gedankenversunken blätterte der Koordinator die Karteikarten, von denen einige schon etwas abgegriffen aussahen, hin und her. "Ja, wen nehmen wir denn da", murmelte er, "allzu schwierig dürfte das eigentlich nicht werden." Der Auftrag, um den es diesmal ging, war einer jener Fälle, in denen der Betroffene nicht im mindesten ahnte, welch gnadenloses Schicksal ihm so unmittelbar bevorstand. "Da könnte sich doch mal einer von den Neuen bewähren", mit diesen Worten fischte Jack sich eine bestimmte Karte heraus und stellte den Kasten auf den Schreibtisch zurück.

Der weitere Ablauf stellte eine reine Routineangelegenheit dar. Ganz am Rande bezog der Koordinator die Frage in seine Planungen mit ein, ob es in Corina durch den Ausfall des Commissioners in der Organisation der Polizeiarbeit zu nennenswerten Störungen kommen könnte. Zwar war Jack für die Sicherheit der gesamten Verwaltungsregion Nord-Beta, also dem nordwestlichen Europa, verantwortlich und konnte deshalb auf lokal begrenzte Komplikationen auch nur begrenzt Rücksicht nehmen, dennoch kam dem Funktionieren selbst kleinster Rädchen ein gewisser Stellenwert zu.

Nach einem kurzen Blick auf den Chronometer - es war mittlerweile 7.35 Uhr - ging der Koordinator an die Konsole des Sicherheitssystems, auf das er auch von seinen `Privatgemächern' aus vollständig zugreifen konnte. Seit langem hatte er es sich angewöhnt, seine eigenen Räume im Sicherheitshauptamt so zu nennen; mit einer gewissen Selbstironie zwar, doch auch mit halbem Ernst - schließlich fühlte er sich so manches Mal wie der Herrscher eines Riesenreiches, eines wahren Imperiums.

Mit ein paar Eingaben stellte Jack Clifton die nötigen Verbindungen her, um die Ausführung seines neuesten Auftrags in die Wege zu leiten. Das erforderte zwar einigen Aufwand, doch der Koordinator legte größten Wert darauf, nie persönlich als Auftraggeber in Erscheinung zu treten, dafür hatte er immer Mittelsmänner oder technische Übertragungswege eingesetzt. Aufgrund seines ausgeprägten Sinns auch für die eigene Sicherheit hatte er es in all den Jahren tunlichst vermieden, einem Headhunter gegenüber als `Koordinator' aufzutreten.

Die Stunden, die Adriano Capertino nun noch zu leben hatte, waren gezählt, zumal der Polizeichef von Corina völlig arglos war. Der Vollstreckungsmeldung dieses Auftrags sah Jack gelassen entgegen; umso mehr beunruhigte ihn sein bester Mann, Mike Rosefield, der seinen Job noch immer nicht erledigt hatte, obwohl er schon vor über 20 Stunden die entsprechende Anweisung in Nijmegen erhalten hatte.


*


Damals ...

Die Gestalt, die Mike Rosefield gegenüber saß und sich vor einer Identifizierung durch einen Opto-Verzerrer schützte, stand abrupt auf, ging um den Schreibtisch herum und kam direkt auf den Gefangenen zu.

`Was will der bloß von mir', überlegte der ehemalige Soldat einer speziellen Aufruhrbekämpfungs-Einheit, der erst vor einer knappen halben Stunde die kleine Isolationskammer verlassen durfte, in der er über 70 Stunden zugebracht hatte. Noch taten ihm alle Knochen weh, doch weit schlimmer waren die psychischen Folgen dieses recht vollständigen Reizentzugs. Mike hatte inzwischen erfahren, daß dieser zwei mal drei Meter große Container einem `Interkontinentalen Transport unter verschärften Sicherheitsbedingungen' diente. Mit anderen Worten: In diesem Käfig hatte man ihn von Somalia aus direkt ins Brüsseler Sicherheitshauptamt gebracht und dabei `weichgekocht'.

Mike war sich sofort darüber im klaren gewesen, daß sein Leben keinen Pfifferling mehr wert war; in den langen Stunden des Transports kam er nicht umhin, darüber nachzudenken, warum er Hauptmann Renier eigentlich erschossen hatte. Eine `Wahnsinnstat' stellte das wohl nur in den Augen der Militärbehörden dar. Mike wußte ganz genau, daß davon keine Rede sein konnte; das war der Sprachgebrauch allein der Machthaber. Einen konkreten Grund gab es allerdings auch nicht, der Hauptmann hatte ihn an jenem Tag nicht einmal besonders genervt, nicht mehr jedenfalls als an anderen Tagen. Mike hatte diese Aktion weder geplant noch vorbereitet, insofern war es eine spontane Sache gewesen - doch deshalb noch lange keine `Kurzschlußreaktion' oder `Übersprungshandlung'. Der ehemalige Söldner wußte, daß er dafür mit dem Leben zu bezahlen hatte, doch erstaunlicherweise bereute er diese Geschichte nicht einmal angesichts dieser Konsequenz. Im Gegenteil, er hätte wieder geschossen, wenn das Rad der Zeit sich entsprechend zurückdrehen würde.

Mike saß dem anderen gegenüber, ohne sich zu rühren. Der Unbekannte, der sich bislang von ihm nicht hatte provozieren lassen, musterte ihn seit geraumer Zeit.

"Wenn Sie was von mir wollen, müssen Sie mir schon sagen, worum's geht", bemerkte Mike recht unvermittelt und überlegte zugleich, ob sein Gegenüber den in den Optoverzerrer integrierten hochenergetischen Schutzschirm wohl aktiviert hatte. Ein Dummkopf schien er ja nicht zu sein, aber man weiß ja nie ...

"Ich will Ihnen ein Angebot machen. Sie könnten für mich arbeiten, und zwar völlig auf eigene Faust."

"Als Sekretär bin ich wohl nicht ausreichend qualifiziert", warf Mike ein, um den anderen aus der Reserve zu locken.

Der Unbekannte kam noch einen Schritt näher. Jetzt war sich der ehemalige Söldner sicher, daß der Schutzschirm des Fremden aktiviert war, dieser Typ wäre ihm sonst nie so nahe gekommen. Da er sicherlich auch über eine aktive Bewaffnung verfügte, konnte Mike mit bloßen Fäusten nichts gegen ihn ausrichten.

"Falls Sie damit einverstanden sind, für mich zu arbeiten, wird das in strikter Geheimhaltung geschehen. Sie bekommen die Aufträge zugespielt und sind nur mir verantwortlich. Sie allein tragen das völlige Risiko, das heißt, wenn Sie versagen, wird Ihnen niemand helfen. Es gibt weder mich noch Ihren Auftrag, genaugenommen gibt es Sie nicht einmal. Sie machen Ihre Arbeit, ohne Spuren zu hinterlassen - oder Sie machen gar nichts."

Das war eine recht lange Rede für diesen ominösen Geheimnisträger. Mike lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte seinerseits den Unbekannten, so als könne er ungeachtet des Optoverzerrers dessen Augen ausmachen. "Ich nehme mal an", sagte er gedehnt, "Sie haben auch für den Fall vorgesorgt, daß ich Ihr Angebot ablehne."

"Es wäre mir sehr lieb", antwortete der andere ausweichend, "wenn Sie mir erzählten, warum Sie Hauptmann Renier erschossen haben. Sehen Sie, ich kann keinen Weltverbesserer, Träumer oder Idealisten gebrauchen. Skrupellos genug sind Sie ja, soweit ich das Ihren Akten entnehmen kann. Doch ich will wissen, wo bei Ihnen der weiche Kern steckt, die schwache Stelle, das `Blatt des Siegfried', wenn Sie verstehen, was ich meine."

Wenn Mike gekonnt hätte, wäre er auf diesen Schwätzer losgegangen, doch ihm war klar, daß der andere ihn mit dieser dümmlichen Frage ebenfalls provozieren wollte. "Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Was haben Sie mit mir vor, wenn ich nein sage?"

Es war offensichtlich, daß der Unsichtbare die Beantwortung dieser Frage liebend gern vermieden hätte. "Nun, die Aufträge, die Sie für mich zu erledigen hätten, erfordern ein Höchstmaß an Eigenständigkeit, Initiative und Durchsetzungsvermögen. Kurz gesagt, ich kann keinen Sklaven gebrauchen. In Ihrer gegenwärtigen Situation müssen Sie - und das zu Recht! - den Eindruck gewinnen, die einzige Alternative wäre der Tod. Eine solche Zwangslage läßt sich jedoch mit dem Geschäft, das ich mit Ihnen vorhabe, nicht vereinbaren. Wenn ich Ihnen nun eröffnete, daß Sie frei sind, auch wenn Sie mein Angebot ablehnen, und daß ich Ihnen selbst dann eine neue Identität verschaffen würde, werden Sie mir mit Sicherheit nicht glauben. Was also könnte ich tun, um dennoch mit Ihnen ins Geschäft zu kommen?"

Mike griff sich an die Stirn, das wurde ja immer vertrackter. `Was für ein Scheißspiel zieht dieser Kerl bloß mit mir ab?' Der Noch-Gefangene war sich darüber im klaren, daß diese Argumente wie ein süßes Gift in ihn einzuträufeln begannen und daß er weder willens noch fähig war, sich dagegen aufzulehnen. `Was wäre denn', so begann er zu überlegen, `wenn der tatsächlich meint, was er sagt?' Und im nächsten Moment: `Verflucht noch mal, wie kann ich bloß so naiv sein ...?'

"Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt", unterbrach der andere Mikes Gedankensprünge, "was für Sie bei diesem Geschäft eigentlich herausspringt. Sollte sich unsere Zusammenarbeit als erfolgreich erweisen, können Sie" - hier zögerte der Unbekannte einen Moment lang - "mit einer Vergütung in Höhe von 200.000 IVE (Internationalen Verrechnungseinheiten) pro Auftrag rechnen, zuzüglich etwaiger Spesen."

"Warum so viel?" fragte der Söldner knapp.

"Weil ich will, daß Sie hervorragende Arbeit leisten. Gibt es sonst noch etwas, was Sie wissen wollen?"

Mike dachte angestrengt nach. Die Frage, um was für Aufträge es sich eigentlich handelt, lag ihm zwar noch auf der Zunge, doch mittlerweile nahm er das Angebot so ernst, daß er sich diesen Aufwand sparen wollte. "Wenn Sie mir einen Anhaltspunkt für Ihre Glaubwürdigkeit liefern, können wir ins Geschäft kommen."

Der andere schien mit einer solchen Antwort gerechnet zu haben. "Stellen Sie Ihre Bedingungen", entgegnete er seelenruhig.

"Ich will Ihr Gesicht sehen", sagte Mike unverzögert.

In Sekundenbruchteilen erlosch das schimmernde Feld. Mike sah sich einem Mann gegenüber, der durch und durch einen unscheinbaren Eindruck machte - ein Europäer der gehobenen Mittelklasse, der wie ein Bank- oder Verwaltungsangestellter wirkte. Er war ca. 1,75 m groß, schlank, Anfang 30 und hatte schütteres, aschblondes Haar. Das Gesicht war bestensfalls nichtssagend zu nennen, ein Gesicht, das auch Mike sofort wieder vergessen hätte, wenn nicht die mehr als sonderbaren Umstände dieser Begegnung gewesen wären, die dafür Sorge trugen, daß sich das Aussehen dieses Mannes in Mikes Gedächtnis einbrannte.

"So, reicht Ihnen das jetzt?", fragte der Unbekannte.

"Nein. Ich will wissen, wer Sie eigentlich sind."

"Sie können mich `Koordinator' nennen. Wenn Sie einen Namen haben wollen, denken Sie sich einen aus." Und mit diesen Worten aktivierte der geheimnisvolle Mann erneut seinen Optoverzerrer, so als wollte er seine Identität Mike schnellstens wieder vergessen machen.


*


Mit Befriedigung nahm Jack Clifton eine Meldung entgegen, die ihn über eine interne Leitung vor wenigen Sekunden erreicht hatte. Auftrag Nr. XP-Cor-422189, so hieß es da lapidar, sei um 9.47 Uhr Ortszeit ausgeführt worden. Einen kurzen Moment lang hatte der Koordinator vermutet, es wäre endlich die Vollstreckungsmeldung im Falle Lampurtini, doch konnte er den weiteren Angaben zweifelsfrei entnehmen, daß es sich hier um seinen jüngsten Auftrag handelte. "Wirklich fix, der Junge", murmelte der Beamte und nahm sich vor, diesen jungen Headhunter im Auge zu behalten. Nicht einmal eineinhalb Stunden hatte der talentierte Bursche gebraucht, um bei einer passenden Gelegenheit den Polizeichef von Corina zu stellen und zu exekutieren. Adriano Capertino, so hieß es in dem spezialkodierten Bericht weiter, war auf offener Straße erschossen worden, als er gerade ein Haus in der Rue de Mordana verließ. "Nun ja, ob das nun eine besonders `passende' Gelegenheit war", sinnierte der Koordinator skeptisch, "ist noch die Frage. Da wird es doch eine Reihe Augenzeugen gegeben haben, die womöglich Schwierigkeiten machen könnten".

Er persönlich bevorzugte die völlig spurlose und unaufwendige Art und Weise, mit der Mike Rosefield solche Angelegenheiten zu erledigen pflegte. `A propos Mike', schoß es ihm durch den Kopf, `wo steckt der eigentlich und wieso habe ich immer noch nichts von ihm gehört? Wenn der so weiter macht, ruiniert er noch seinen Ruf als bester Headhunter.' Eine kurze Datenabfrage ergab, daß Mikes Ferrari in Richtung Norden unterwegs war, die Alpen längst hinter sich gelassen hatte und auf die Grenzregion im ehemaligen Polen zuzusteuern schien.

Der momentane Aufenthaltsort der Lampurtinis ließ sich auf indirektem Wege ebenfalls ermitteln, und siehe da, sie kamen ihrem Schicksal allmählich näher. Jack konnte sich zusammenreimen, was sich an der Autobahnraststätte in etwa ereignet hatte. Der Wagen der Lampurtinis war mit desaktiviertem Impulsgeber aufgefunden worden, eine Suchaktion in der näheren Umgebung hatte zwei bewußtlose Menschen zu Tage gebracht und, ganz in ihrer Nähe, die Leiche eines jungen Polizeibeamten aus Corina. Mike Rosefield hatte sich etwa 20 Minuten an jenem Rastplatz aufgehalten. In diesem Fall hatte er sich wohl nicht einmal die Mühe gemacht, seine Spuren ihm, dem Koordinator, gegenüber zu verwischen, wie er es in der Regel tat, wenn es ans `Eingemachte' ging. Daß weder die beiden paralysierten Spanier, die inzwischen reanimiert worden waren, aber keine brauchbaren Angaben machen konnten, noch die flüchtigen Lampurtinis den jungen Polizisten namens Francesco Borgio getötet hatten, lag für den Koordinator auf der Hand. Doch was spielte die offizielle Aufklärung dieser Fragen schon für eine Rolle?

Viel wesentlicher war die Tatsache, daß Sergio Lampurtini, der aufgrund seiner beruflichen Kenntnisse als Zielperson Alpha, das heißt als potentielles Sicherheitsrisiko, eingestuft worden war, sich immer noch auf freiem Fuß befand. Was war nur mit Mike Rosefield los? Zwar hatte der Headhunter seine `Opfer' bereits überholt, wie an den Auto-Impulsen abzulesen war, dennoch dauerte die ganze Geschichte für Mikes Verhältnisse ungewöhnlich lange.


*


Der Unwillen des Koordinators hätte den Headhunter, der im gleichen Augenblick aus seinem `Erinnerungsflash' wieder auftauchte, kaum gestört. Nach wie vor saß Mike in seinem per Automatik gesteuerten Ferrari, der ihn, sozusagen im Halbschlaf, weit nach Norden gebracht hatte, bis in den polnischen Verwaltungsbezirk hinein. Den Kontrollanzeigen zufolge mußte er schon das Niemandsland vor den Demarkationslinien erreicht haben, nur noch 20 Kilometer trennten ihn von den eigentlichen Grenzanlagen. Eine kurze Nachfrage beim Informationssystem ergab, daß er unterwegs die Lampurtinis überholt haben mußte. Die Impulse des von ihnen geklauten Wagens befanden sich nun etwa 70 Kilometer südlich von seiner aktuellen Position, mit abnehmender Tendenz.

Das bedeutete, daß der Headhunter mit seiner Einschätzung der Absichten seiner Opfer richtig lag; allem Anschein nach schickten die Lampurtinis sich an, die Nordregion hier zu verlassen, um in der Todeszone Schutz zu suchen. Die Anlagen galten zwar als unüberwindbar, aber das war zunächst einmal die Propaganda der Sicherheitsbehörden - was nicht hieß, daß das Ganze nicht ein nahezu aussichtsloses Unterfangen darstellte. Mike wußte allerdings auch, daß gerade Sergio Lampurtini aufgrund seiner Kenntnisse einer der wenigen Menschen war, denen er so etwas zutraute.

Um seinen Auftrag brauchte Mike sich also keine Sorgen zu machen. Ja, ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er es mit der Vollstreckung in diesem Fall nicht einmal eilig - weshalb er schon mit dem Gedanken spielte, die beiden in die Todeszone entkommen zu lassen und dort zu stellen.

`Die werden noch ihr blaues Wunder erleben, wenn sie erst einmal drüben sind', dachte Mike und wandte sich mit einem herzhaften Gähnen seiner Kühlbox zu, um sich einen Koffein-Drink zu mischen. Ein `kleiner Schuß' konnte nach einer durchfahrenen Nacht schließlich nicht schaden. Was ihn allerdings viel mehr beschäftigte als die bevorstehende Routine-Angelegenheit, war sein damaliges Gespräch mit jenem ominösen Koordinator, das er soeben nahezu authentisch wiedererlebt hatte. Als `Traum' konnte dieser Erinnerungsschub kaum bezeichnet werden, doch darüber weiter zu spekulieren, kam Mike nicht in den Sinn. Ihn interessierte einzig und allein die Frage nach dem fehlenden Verbindungsstück, denn noch war ihm unklar, wodurch diese Schübe - nach dem ersten in dem kleinen Café in Corina am vergangenen Abend war dies nun schon der dritte binnen kürzester Zeit - ausgelöst wurden. Daß es einen Zusammenhang geben mußte, stand für den Headhunter außer Frage, und er spürte mit sicherem Instinkt, daß diese Geschichte ihn persönlich betraf.

Der `Koordinator' hatte sich seit damals ihm gegenüber nie wieder zu erkennen gegeben, dennoch konnte Mike sich noch gut an das Gesicht erinnern. An jenem Tag war der gefangene Söldner zum Headhunter geworden, denn er hatte das merkwürdige Angebot des geheimnisvollen Unbekannten ohne weitere Verzögerungen angenommen. Seitdem erledigte er, in mehr oder weniger unregelmäßigen Abständen und unter wechselnden Identitäten, die Arbeit eines staatlich beauftragten, aber unlegitimierten Kopfgeldjägers. Die Kasse stimmte, Skrupel kannte er ohnehin nicht - und nach dem Sinn und Zweck dieser Einsätze zu fragen, hatte er sich längst abgewöhnt, zumal er wußte, daß er den Leidensweg seiner Opfer ohnehin nur verkürzte.

(Ende des 5. Teils)


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Wird es Sergio Lampurtini tatsächlich gelingen, die Sicherungsanlagen an der Demarkationsgrenze lahmzulegen, um einen Übergang in die Dürrezone zu ermöglichen? Dabei sind die Stunden der Flüchtlinge ohnehin gezählt, denn der Headhunter - was sie nicht wissen - hat schon vor ihnen den Grenzbereich erreicht ...

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 6: Die Konfrontation


Erstveröffentlichung am 13. September 1995

22. Dezember 2006