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DILJA/12: Headhunter ( 9) - Der Countdown läuft (SB)


HEADHUNTER

Teil 9: Der Countdown läuft

Science-Fiction-Story


Im Schrittempo fuhr Mike Rosefield durch die gottverlassene Gegend direkt hinter den Demarkationsanlagen, die nach der geglückten Sabotage des italienischen Hochenergie-Ingenieurs Sergio Lampurtini längst wieder instandgesetzt worden waren. Normalerweise hätte es kein Durchkommen durch diese tödliche Falle gegeben, doch was war schon für einen Headhunter normal?

Mike tastete sich einen starken 'Bloody Mary', noch immer sein Lieblingdrink, wenn er scharf nachdenken mußte. Sergio, nach wie vor bewußtlos, lag neben ihm im tiefgestellten Beifahrersitz und zuckte sich nicht einmal mit der Wimper; vielleicht befand er sich schon längst im Koma. In Mikes Plänen spielte der Italiener die wichtigste Rolle, deshalb ging es zuallererst einmal darum, ihn von der Schwelle des Todes - oder des Wahnsinns? - zurückzuholen.

Der Headhunter wußte, daß sich nur wenige Kilometer entfernt ein kleines Dorf namens Pretowsk befand, das wie alle Ortschaften in diesem Gürtel von seinen Bewohnern verlassen werden mußte - damals, als die Anlagen zur Nahrungsmittelproduktion unter anderem hier, sinnfälligerweise im Grenzgebiet zur Todeszone, errichtet worden waren. Mike bog von der kaum gefahrenen Euro- Route ab und folgte den verwitterten Ortsschildern, die im Halbdunkel des anbrechenden Morgens kaum auszumachen waren. Eines der mittlerweile halbverfallenen Häuser in Pretowsk sollte ihnen als Quartier dienen; vor dem nächstbesten hielt Mike an.

Ein kurzer Bioscann ergab, daß Sergios Lebensimpulse nach wie vor sehr schwach waren, sie hatten sich an der Schwelle zum Koma allerdings auf einem stabilen Niveau eingependelt. Der Headhunter konnte ihn gefahrlos allein lassen; im Ernstfall hätte er ohnehin kaum etwas tun können. Kurzentschlossen stieg Mike aus, um sich zu vergewissern, daß dieses Haus nicht zur tödlichen Falle werden könnte. Möglicherweise reagierten verborgene Abwehranlagen der früheren Besitzer auf ihre Annäherung, auch wenn die dazu erforderliche Technik in dieser Armutszone nicht weit verbreitet gewesen war.

Mike ging ein paar Schritte auf das flache Haus zu. Die Tür hing in den Angeln, doch der Headhunter ließ sich von der Leblosigkeit der gesamten Szenerie nicht täuschen. Erst ein Blick auf seinen Handscanner offenbarte ihm, daß es hier weder Lebewesen noch elektrische oder gar hochenergetische Anlagen gab, die ihnen in irgendeiner Weise hätten gefährlich werden können. Mike Rosefield sah sich einmal kurz zum Wagen um - Sergio schien sich noch immer nicht gerührt zu haben -, trat kurzerhand die Tür ein und stand in einem modrig-muffigen Flur. Die Bewohner dieser Hütte, allem Anschein nach eine Familie mit mehreren Kindern, mußte ihr Zuhause überstürzt verlassen haben - oder war wie so viele in jenen Jahren in völliger Ahnungslosigkeit abgeholt worden.

Für Mikes Zwecke war diese Hütte so gut geeignet wie jede andere auch, allerdings würde er nun um ein Minimum an Aufwand nicht herumkommen. Er ging zum Wagen zurück, holte das Licht- und Thermoaggregat aus dem Kofferraum, fischte Wasserflaschen und Nahrungskonzentrate aus dem Innenraum und eilte zum Haus zurück. Eine halbe Stunde später hatte er einen der Räume so präpariert, daß er für Sergios 'Wiederbelebung' geeignet war. Ein Raumdufter, ein Relikt aus besseren Zeiten, verströmte den zarten Duft von Lavendel und übertönte beinah den Rest des abgestandenen Miefs, der bleischwer in allen Räumen gehangen hatte und sich nicht so ohne weiteres herauslüften ließ.

Das Thermoaggregat verbreitete eine wohlige Wärme, der eingebaute Lichterzeuger ersetzte längst den grellen Strahl seiner Halogen-Lampe und tauchte die kleine Kammer in ein gedämpftes Halbdunkel. Unterm Fenster hatte Mike eine Liege aufgestellt und alle Decken ausgebreitet, die er in seinem Wagen hatte finden können. Nun stand das Schwierigste bevor: den bewußtlosen Sergio, der in seinem Zustand doppelt so schwer zu sein schien, hierher zu schleppen. Da half keine Technik, Mike lud sich den Bewußtlosen auf die Schultern und ging schweren Schrittes auf die Hütte zu. Ihm brach der Schweiß aus, er japste nach Luft; doch die Lebenswerte des Italieners veränderten sich, wie ein kurzer Blick auf den am Handgelenk befestigten Bioscanner zeigte, nur minimal. Der Türrahmen war zu eng, um Sergio mit einem Schwung hindurchzuwuchten. Warum bloß mußte dieser Kerl so schwer sein? Es blieb Mike nichts anderes übrig, als seine Last herunterzulassen und dann über die Türschwelle zu ziehen. Sergio wurde von Schritt zu Schritt zäher, doch schließlich hatte Mike die Kammer erreicht und bettete den Italiener so gut es eben ging auf die kleine Liege. Der Headhunter hatte noch so viel mit Sergio vor, daß er einfach nicht sterben durfte.


*


Das schrille Piepsen seines Funkgeräts riß Mike, der sich erschöpft in einem Sessel niedergelassen hatte, unvermittelt hoch. Sofort war er wieder hellwach, nur sein Atem ging noch immer viel zu schnell. Ein kurzer Blick auf den Display seines Armbandgeräts bestätigte ihm, daß es sich um einen Null-Level- Anruf seines Todfeindes handeln mußte - die dem Sicherheitshauptamt und damit dem Koordinator vorbehaltene Frequenz war aktiviert.

Mike holte noch ein paarmal tief Luft und nahm das Gespräch entgegen.

"Was gibt's?" fragte er, als hätte er das Procedere längst vergessen.

Nicht so sein Gegenpart. "Identifikation!" verlangte die ihm inzwischen sattsam bekannte Stimme.

"HY-C05", schnarrte Mike. "Und selbst?"

"Zentrale 25-DX. Wo stecken Sie?"

Mike gähnte hörbar. "Ich mach' gerade Urlaub. Mein Auftrag ist erfüllt."

"Das weiß ich", zischte der Koordinator, offenbar leicht verärgert über die unpräzise Antwort. "Ich habe gefragt, wo Sie im Moment sind."

"Das wissen Sie doch ganz genau. Oder können Sie meine Funkimpulse nicht mehr orten?"

"Antworten Sie!" brüllte Jack Clifton, der sich einmal mehr durch diesen Mann aus der Fassung bringen ließ. Mike sagte nach leichtem Zögern, so als müsse er ernsthaft nachdenken: "Ja, wie heißt das denn hier? Moment, ich hab's gleich. Oh, richtig: Petrowsk."

"Und nun hören Sie mir mal gut zu, ich habe einen weiteren Auftrag für Sie", fuhr der Koordinator fort.

Mike unterbrach ihn. "Ich? Einen nächsten Auftrag? So weit ich sehen kann, haben Sie mich noch nicht einmal für die Lampurtinis bezahlt." Bei diesen Worten sah der Headhunter unwillkürlich zu Sergio hinüber, so als befürchtete er, die Erwähnung seines Namens könnte den Italiener erwachen lassen.

"Die Zusatzprämien habe ich gestrichen. Was erwarten Sie eigentlich, wenn Sie so spät Ihren Pflichten nachkommen? Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß diese Verzögerung fast an Sabotage grenzt!"

Mike konzentrierte sich, denn hier bewegte er sich auf dünnem Eis. "Ich bestehe auf meiner Prämie, sonst rühre ich keinen Finger mehr für Sie." Es half nichts, er mußte seiner Rolle treu bleiben. Der Koordinator würde nur noch mißtrauischer werden, wenn sein unberechenbarster Charge so mir nichts dir nichts klein beigeben würde.

"Sie, Sie ...", Jack Clifton rang hörbar nach Worten. "Sie sind ein toter Mann, wenn Sie nicht tun, was ich verlange!"

Mit Genugtuung nahm Mike diesen Ausbruch zur Kenntnis und entgegnete seelenruhig: "Es bleibt dabei, ohne die Kohle läuft nichts." Ohne ein weiteres Wort unterbrach der Headhunter die Verbindung, ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen. Er wandte sich wieder Sergio Lampurtini zu, der noch immer wie tot dalag. Einer inneren Eingebung folgend fing Mike an, auf einem Mini-Kocher Ravioli heißzumachen. Ein paar Dosen hatte er in der Kochnische der kleinen Hütte gefunden; vielleicht würde dieser Duft, an den Nahrungskonzentrate nie heranreichten, Sergios Lebensgeister beflügeln.


*


Jack Clifton wischte sich den Schweiß von der Stirn. 'Jetzt mal ganz langsam', ermahnte er sich selbst, 'mir gehen sonst gleich die Pferde durch.' Mike Rosefield war schon immer recht schwierig gewesen, ein Kopfgeldjäger, den er noch nie gern im Rücken gehabt hätte - doch im Moment legte er es offensichtlich darauf an, ihn bis zur Weißglut zu provozieren. 'Warum rege ich mich derartig über diesen Nichtsnutz auf?' Der Koordinator versuchte vergeblich, sein eigenes Verhalten zu analysieren, denn schon drohte die nächste Zorneswoge ihn zu übermannen.

"So kommen wir nicht weiter", fuhr der Sicherheitsbeamte im Selbstgespräch fort und bemühte sich, die Situation ganz nüchtern anzugehen. Sollte er nachgeben und seinen besten Killer bezahlen? Jack Clifton biß sich auf die Lippen, denn nun wurde ihm bewußt, wie hohl die Drohungen waren, die er gegen Mike ausgestoßen hatte. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können? 'Wenn Sie nicht tun, was ich verlange, sind Sie ein toter Mann!' Sicher, er hätte einen oder am besten gleich mehrere andere Headhunter auf Mike Rosefield ansetzen können, doch was wäre damit gewonnen, sollte es ihnen tatsächlich gelingen, diesen wohl schwierigsten Auftrag zu erfüllen?

Ein anderes Problem, das sich zu einer konkreten Gefährdung seiner eigenen Person entwickeln könnte, war eigentlich viel wichtiger: das Geheimnis um den Doppelgänger des getöteten Sergio Lampurtini. Eigentlich hätte der Koordinator die Akte 'Lampurtini' längst schließen können, schließlich waren die beiden Zielpersonen, Sergio und auch seine Frau Clarissa, inzwischen der 'ultimaten Lösung' zugeführt worden, wie es im Verwaltungsjargon hieß. Das Auftauchen eines Doppelgängers warf Rätsel auf: Sollte er hier einem Projekt auf die Spur gekommen sein, das vor ihm, dem einzigen Sicherheitsverantwortlichen für die gesamte Region Beta-Nord, geheimgehalten wurde? Dieser Gedanke, mochte er auch noch so aberwitzig sein, ließ den Koordinator nicht mehr los. Er hielt es für undenkbar, daß außerhalb des Überwachungssystems, das buchstäblich alle Lebensbereiche nicht nur oberflächlich erfaßte, die Infrastruktur hätte aufgebaut werden sollen, die zu einem solchen Forschungsprojekt nötig wäre. Eigentlich undenkbar ... doch der Zweifel nagte an ihm; schließlich würde er seinem Aufgabenbereich nicht gerecht werden, wenn er nicht immer wieder das Unmögliche für möglich hielt.

Die einzige Spur, das bislang einzige Indiz führte nun aber zu Mike Rosefield, und deshalb konnte und wollte Jack Clifton nicht gerade jetzt an diesem Unbeugsamen ein Exempel statuieren. Ganz der Pragmatiker, der er schon immer gewesen war, entschloß er sich für das Naheliegendste. Er ließ sich an seiner Konsole nieder und tippte ein paar Daten ein; im selben Moment wurden Rosefield 200.000 Internationale Verrechnungseinheiten gutgeschrieben.


*


Mike Rosefield hatte es sich an einem kleinen Holztisch bequem gemacht. Der Ravioli-Topf war schon fast halb leer, doch noch immer rührte Sergio sich nicht, der Bio-Scanner zeigte nach wie vor niedrige Lebenswerte an. Der Mann sah aus, als sei er von einer Sekunde auf die nächste um zehn Jahre gealtert, und das lag nicht nur an den weißen Haaren - ein sichtbarer Ausdruck dessen, was ihm bei Valentins Leuten in der Todeszone widerfahren sein mußte. Ein Schock um den Tod der 'geliebten Frau'? Nein, das konnte es nicht sein; Mike wußte genug im allgemeinen wie im speziellen, um diese Möglichkeit ausschließen zu können. Er wußte, was hüben wie drüben mit frischen Leichen gemacht wurde, der Anblick dessen mochte Sergio bei seiner toten Frau um den Verstand gebracht haben.

Als der Tee, den Mike in dieser ruhigen Minute aufgesetzt hatte, sein volles Aroma entfaltete, schlug Sergio die Augen auf. Zuerst wirkte sein Blick leer und unstet, doch dann begann er sich zu regen, so als wolle er herausfinden, in welcher Hölle er nun gelandet sei.

Mit einem Becher Tee in der Hand setzte Mike sich zu ihm und sprach ihn an. "Möchtest du etwas trinken?"

Sergio sah ihn an ohne zu antworten, streckte aber seine Hand aus. Er nahm den Becher und trank, unendlich langsam zwar, aber immerhin. Mike wandte sich ab, um ihm etwas Zeit zu lassen, er stand auf und ging zum Tisch zurück.

"Wo bin ich?" fragte Sergio leise, aber mit klarer Stimme.

"Wir sind in einem verlassenen Haus in einem verlassenen Dorf dicht hinter der Grenze", antwortete Mike bereitwillig und fügte hinzu: "Vielleicht hast du Hunger. Magst zu Ravioli?"

Der Italiener sank auf die Liege zurück und schloß die Augen, so als hätte diese Frage entsetzliche Erinnerungen wachgerufen.

'Hoffentlich kippt er mir nicht wieder weg', murmelte der Headhunter und kehrte zu seinem Pflegling zurück. Doch Sergio war nicht wieder bewußtlos geworden, mit schmerzgeweiteten Augen schien er sein Gegenüber zu fixieren.

"Wer sind Sie?"

"Mein Name ist Mike Rosefield", antwortete der Headhunter mit belegter Stimme, denn die ganze Szene erschien ihm plötzlich unwirklich. Er zog einen kleinen Schemel heran und setzte sich Sergio zu Füßen.

"Wer sind Sie?" fragte der Italiener noch einmal.

"Ich sagte doch schon, ich ...", setzte Mike mit leichter Ungeduld an, doch Sergio unterbrach ihn.

"Ich will nicht wissen, wie Sie heißen, ich will wissen, wer Sie sind."

Der Headhunter wußte sich diese Frage nicht recht zu deuten und fragte irritiert zurück: "Wie meinen Sie das?"

"Hören Sie mal zu, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie von mir wollen. Mag sein, daß ich wahnsinnig geworden bin, das weiß ich selber nicht so genau. Aber deswegen müssen Sie mich noch lange nicht für blöd verkaufen; entweder Sie sagen mir jetzt, worum's geht, oder Sie können mich mal!"

Mike lächelte. "Ich bin froh, daß Sie schon wieder so gut zu Wege sind."

"Sparen Sie sich diese Höflichkeiten!"

Der Headhunter suchte nach Worten. Er, der für gewöhnlich Furcht und Schrecken verbreitete, wenn denn seine Opfer überhaupt die Zeit hatten, ihre Lage zu begreifen, war ganz offensichtlich verlegen. Hier hatten sich die Verhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt, denn nun war er es, der etwas von einem anderen wollte. Sergio schien zu spüren, was in dem Fremden vorging, denn er sagte in versöhnlichem Ton: "Ich würde gern etwas essen."

Wortlos stand Mike auf und reichte dem ehemaligen Hochenergie- Ingenieur einen randvoll gefüllten Teller. Der Headhunter kam sich vor, als spielte er eine ihm unbekannte Rolle in einem absurden Theater. Dieser Mann wäre längst tot gewesen, wenn er, Mike, nicht Gründe gehabt hätte, diesen Auftrag nicht auszuführen - und nun sollte er ihm das erklären! Einfach absurd, und dennoch würde er nicht umhinkommen, diese Hürde zu nehmen, denn ohne ein Mindestmaß an Einverständnis würde Sergio die ihm zugedachte Rolle als Lockvogel kaum spielen können.

"Noch einen Tee?" fragte Mike den Italiener, der sich sichtlich erholt hatte. Dieser schnelle Wechsel von komatöser Bewußtlosigkeit zu einem geradezu überschwenglichen Interesse an seiner Umgebung irritierte den Headhunter etwas, doch ihm war klar, daß er nun nicht länger kneifen konnte.

"Ja, bitte", antwortete Sergio und hielt Mike seinen Becher hin. "Und nun legen Sie mal los. Ich bin nicht halb so naiv, wie Sie zu befürchten scheinen."

"Eigentlich sind Sie ein toter Mann", begann der Headhunter und behielt sein Gegenüber genau im Auge. "Unter normalen Umständen wären Sie seit zwei, drei Tagen tot, und wir säßen jetzt nicht hier."

Sergios Miene wurde ausdruckslos, denn unweigerlich mußte er bei dieser Einleitung an Clarissa denken. "Was nennen Sie denn 'normale Umstände'? Wozu haben Sie uns da drüben ausfindig gemacht?"

"Sie müssen gewußt oder zumindest geahnt haben, daß Ihre Zeit abgelaufen war, sonst hätten Sie kaum Ihr Heil in der Flucht gesucht", antwortete Mike ausweichend.

"Ich hatte in Corina einen Tip bekommen. Viele Menschen, auch viele, die wir kannten, waren schon spurlos verschwunden. Es gab also keinen Grund, diese Warnung nicht ernstzunehmen, auch wenn ich bis heute nicht weiß, was mit den Verschwundenen passiert."

"Genaugenommen wären Sie schon zweimal gestorben", fuhr Mike sachlich fort, so als diskutierte er über Sportergebnisse. Er sah keine Veranlassung mehr, über sogenannte Staatsgeheimnisse zu schweigen, auch wenn ihm als altgedientem Soldat Verschwiegenheit in Fleisch und Blut übergegangen war. Er hatte seine Loyalität aufgekündigt, und in diesem Fall wollte er Sergio zur Zusammenarbeit motivieren. Nach wie vor machte der Italiener einen gefaßten Eindruck, kein Grund also, die ganze Geschichte noch weiter hinauszuzögern.

"Vielleicht ist Ihnen nicht klar, daß die Sicherheitsbehörden zweigleisig operieren. In der Regel kümmert sich die Verwaltung um die Menschen, die endgültig durch die von ihr definierten Maschen gefallen sind, mit 'unnötigen Essern' wird kurzer Prozeß gemacht. 'Ultimater Verwaltungszugriff' heißt in der Sprache der Behördenmenschen, was für die Betroffenen übel endet. Gerade auch hier in den Randgebieten gibt es Fabriken, die sich um deren 'Verwertung' kümmern. Sie müßten an welchen vorbeigekommen sein."

Sergio machte ein Gesicht, als wolle er davon nichts weiter wissen. Mike fuhr ungerührt fort: "Es dürfen in etwa so viele Menschen leben, wie Nahrungsmittel vorhanden sind. Die Bevölkerung der 'Lebenszone' wurde auf diese Weise in den vergangenen Jahren erheblich dezimiert, die Grenzwerte zwischen lebenswertem und -unwertem Leben wurden und werden immer weiter gesenkt. Dann gibt es Menschen, die das zweifelhafte Privileg haben, von den Sicherheitsbehörden als potentielle Gefahr eingestuft zu werden. Und dazu gehörten Sie, und mit Ihnen auch Ihre Frau."

Der Headhunter erwähnte Clarissa mit voller Absicht, denn über kurz oder lang würde Sergio sich ohnehin an das Entsetzliche erinnern müssen. Der Italiener hörte weiter zu, er schien auf die Erwähnung seiner Frau überhaupt nicht zu reagieren. "Warum ich?" fragte er statt dessen.

"Das ist nicht weiter schwierig. Aufgrund Ihrer früheren Tätigkeit als Hochenergie-Ingenieur verfügen Sie über sicherheitsrelevante Kenntnisse, deren Gefahrenpotential Sie ja bereits eindrücklich unter Beweis gestellt haben."

Sergio Lampurtini schmunzelte, offensichtlich faßte er diese Bemerkung als Kompliment auf. "Und weiter?"

"Nun, um ganz sicherzugehen, daß diejenigen, in denen das Überwachungssytem ein Sicherheitsrisiko zu sehen glaubt, sich nicht dem 'ultimaten Verwaltungszugriff' entziehen, wurde ein ganz unbürokratischer und in der Regel hundertprozentig erfolgreicher Weg gewählt."

Fast konnte man sehen, wie es hinter Sergios Stirn arbeitete, denn mittlerweile war der Headhunter auf Dinge zu sprechen gekommen, von denen der Italiener nicht einmal etwas geahnt hatte.

"Wir hatten uns schon gewundert, warum uns auf der Autobahn niemand eingeholt hat", murmelte er gedankenversunken. "Aber was ... ich meine ...", stotterte er und sah Mike mit angstvoll geweiteten Augen an, so als habe er erst jetzt in ihm den leibhaftigen Tod erkannt.

"Sie können ganz beruhigt sein, wenn ich Sie hätte töten wollen, hätte ich es längst getan."

In Sergios Gesicht konnte man lesen wie in einem offenen Buch; Entsetzen, Angst und Erleichterung kämpften um die Vorherrschaft. Dann kam ihm der nächste Gedanke: "Aber haben Sie ... Clarissa?"

"Nein. Ihre Frau hat Gift geschluckt. Sie hat es vorgezogen ..." In diesem Moment fing das Handfunkgerät erneut an zu piepsen. "Kein Muckser jetzt, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist", raunte Mike dem Italiener zu. "Und passen Sie genau auf, wenn Sie die Stimme des Mannes hören wollen, der den Tod Ihrer Frau zu verantworten hat."


*


Eine Stunde war seit dem letzten Funkkontakt vergangen, das Geld war längst angewiesen, und noch immer hatte der Headhunter nichts von sich hören lassen. Jack Clifton stand am Fenster seines Wohnbüros im Brüsseler Sicherheitshauptamt; er genoß die Geschäftigkeit des Feierabendverkehrs. Viele Leute liefen eilig hin und her; auf den Straßen herrschte das übliche Verkehrschaos. Diese Bilder erinnerten an frühere Blütezeiten europäischer Hauptstädte und konnten den Betrachter vergessen lassen, wie sehr sich die Welt in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren gewandelt hatte.

"Sind das nicht alles meine Schäfchen?" fragte der 48jährige Beamte, der sich manchmal, wie er sich durchaus eingestand, wie ein kleiner Gott fühlte oder zumindest wie Gottes Stellvertreter auf Erden. Wer außer ihm kümmerte sich denn darum, daß alles wie am Schnürchen lief? Doch niemand würde es ihm je danken - die vorbeihuschenden Büroangestellten wußten ja nicht einmal, wem sie ihr sorgloses Leben zu verdanken hatten. Und doch gab es Probleme und Gefahren; niemals durfte er nachlassen in seinem unentwegten Bemühen um Sicherheit und Ordnung.

Die Geschichte mit dem Doppelgänger duldete keinen weiteren Aufschub. Kurzentschlossen peilte der Koordinator Mike Rosefield an, der seinen Aufenthaltsort noch immer nicht verändert hatte - soweit sich das aus Brüssel feststellen ließ. Funkgerät und Ferrari des Headhunters befanden sich noch immer in Petrowsk, theoretisch hätte Mike sich auf anderen Wegen unbemerkt entfernen können. Kostproben seiner Fähigkeit, sich den Überwachungsmaßnahmen zu entziehen, hatte er früher schon oft genug geliefert, das ließ sich bei einem Headhunter ohnehin nicht völlig umgehen.

Jack Cliftons Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, der Headhunter meldete sich.

"HY-C05."

"Zentrale 25-DX."

Mike stellte die akustische Wiedergabe so laut, daß Sergio problemlos mithören konnte. Ihm stand die Neugierde ins Gesicht geschrieben, der Headhunter gab ihm noch einmal den Wink zu schweigen.

"Was gibt's nun schon wieder?" fragte er dann. Am anderen Ende der Leitung im Sicherheitshauptamt im fernen Brüssel gab der Koordinator sich einen Ruck.

"Die vereinbarte Prämie ist Ihnen angewiesen worden. Wir haben einen weiteren Auftrag für Sie."

"Wer sind eigentlich 'wir'?" unterbrach Mike.

"Hören Sie jetzt einfach mal zu. Es geht um diesen Doppelgänger, von dem Sie mir berichtet haben. Es ist außerordentlich wichtig, daß Sie diesen Mann ausfindig machen."

"Und was dann? Das Übliche?"

"Nein, auf gar keinen Fall! Ich will den Mann lebend. Sie sind mir persönlich dafür verantwortlich, daß er wohlbehalten hier ankommt."

Mike lachte. "Bin ich Gott? Dem könnte doch längst der Himmel auf den Kopf gefallen sein!"

"Dann sehen Sie eben zu, daß Sie ihn schnell genug herbringen!"

"Und der Preis?"

"Die Hälfte. Schließlich brauchen Sie sich die Hände nicht schmutzig zu machen."

"Schmutzig? Wie reden Sie eigentlich von meinem Handwerk?"

Jack Clifton seufzte hörbar. Es war schon ein Kreuz mit diesen Headhuntern, insbesondere mit Mike. Einerseits brauchte er solche Leute, andererseits mochte er nicht einem von ihnen im Dunkeln begegnen.

"Also was ist? Nehmen Sie den Auftrag an?"

"Habe ich denn die Wahl? Wie ich Sie kenne, bin ich sonst mal wieder ein 'toter Mann'."

Der Koordinator hörte den Sarkasmus in diesen Worten sehr wohl heraus und begann sich wieder einmal darüber zu ärgern, daß er sich zu solch plumpen Einschüchterungsversuchen gegen einen Mann wie Mike hatte verleiten lassen.

"Der Preis stimmt nicht. Ich verlange 400.000 Einheiten."

"Das Doppelte wie sonst? Sind Sie denn verrückt geworden?"

Mike grinste und nickte Sergio, der inzwischen überhaupt nichts mehr zu begreifen schien, aufmunternd zu.

"Das ist das mindeste, schließlich muß ich bei dieser Sache auf das einzige verzichten, was mir so richtig Spaß macht. Wenn Sie nicht zahlen wollen ..."

"Schon gut, schon gut", gab der Koordinator nach. "Dafür verlange ich aber auch, daß Sie diesen Menschen bis morgen, sagen wir mal 12.00 Uhr, hierher geschafft haben. Und ihm darf kein Haar gekrümmt werden, haben Sie das verstanden?"

"Du kannst mich mal", murmelte Mike und unterbrach die Verbindung.


*


Sergio Lampurtini gab sich gar nicht erst die Mühe, sein Unverständnis zu verbergen.

"Was ist das für ein Doppelgänger?"

"Ach, ist Ihnen das nicht aufgegangen? Das sind Sie!"

"Ich?? Wieso das denn? Ich versteh' überhaupt nichts mehr." Mike stand auf und sah den Italiener einen Moment lang unschlüssig an.

"Was ist?" fragte Sergio.

"Wir müssen unsere kleine Unterhaltung ein Weilchen verschieben. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen, die unter keinen Umständen weiter aufgeschoben werden darf."

"Das klingt ja interessant. Wo wollen Sie hin?" hakte Sergio nach und stand ebenfalls auf. Er schien seinen Schock völlig überwunden zu haben, und das konnte Mike nur recht sein. Nun machte der Italiener Anstalten, dem Headhunter zu folgen - wohin auch immer er gehen würde. Ein stechender Blick aus Mikes graublauen Augen ließ ihn in der Bewegung innehalten; irritiert blieb Sergio stehen.

"Nun mal langsam, mein Freund. Ich nehme an, Sie haben sich nicht überlegt, worauf Sie sich da einlassen."

"Wie könnte ich auch? Bislang haben Sie mir ja kaum etwas erzählt. Ich weiß immer noch nicht so recht, wer oder was Sie eigentlich sind. Ich sehe das so, daß Sie mir das Leben gerettet haben, drüben, auf der anderen Seite, bei diesen Leuten, die Clarissa ..."

"Von mir aus kommen Sie mit, aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, wenn es kein Zurück mehr gibt."

Sergio achtete kaum auf diese Worte und folgte dem Headhunter, der längst die Stube verlassen hatte und auf seinen Wagen zueilte. Als der Italiener den Ferrari erreicht hatte, saß Mike bereits auf dem Fahrersitz und machte sich an der Pilotenkonsole zu schaffen.

Kurz entschlossen öffnete Sergio die Beifahrertür und ließ sich neben dem so geheimnisvollen Mann nieder, von dem unbestreitbar eine latente Gefahr ausging. "Was machen Sie da?" fragte er und ließ seinen Blick über die Armaturen schweifen, so als könne er deren Funktion auf Anhieb erheischen.

Mike Rosefield bedachte seinen Begleiter mit einem schwer zu definierenden Blick und begann dann ohne weitere Einwände mit seiner Erklärung.

"Was Sie hier sehen, ist eine technische Neuerung auf dem Gebiet der hochenergetischen Anwendungen, die, soweit ich weiß, erst nach Ihrer aktiven Zeit entwickelt wurde und sich noch immer im Beta-Test befindet. Sie erinnern sich vielleicht daran, was ich Ihnen beim Durchqueren der Demarkationsanlagen gesagt habe: Innerhalb der hochenergetischen Gitter wurde um unseren Wagen herum ein 'Energievakuum' erzeugt, das uns eine gefahrlose Passage durch diese tödliche Barriere ermöglichte."

Sergio dachte einen Moment lang nach, nur undeutlich konnte er sich daran erinnern, obwohl das Ganze nicht einmal einen halben Tag lang her war. Zu jenem Zeitpunkt hatte er noch nicht gewußt, ob er sich im Himmel oder in der Hölle befand, der Anblick des Headhunters hatte ihn letzteres vermuten lassen.

"Das gleiche Prinzip wurde nun etwas verfeinert, man könnte sagen, mit umgekehrten Vorzeichen. Statt eines Vakuums innerhalb eines bestehenden Gitters lassen sich per Funkimpuls geographisch exakt begrenzte 'Energieblasen' schaffen, auch über die Distanz von mehreren Kilometern hinweg." Mike Rosefield nahm ein paar weitere Schaltungen vor und wandte sich dann wieder seinem Gast zu. "So, das wär' erledigt."

"Was, was ist erledigt?"

"Sie brechen sich noch das Genick mit Ihrer Neugier", bemerkte Mike, doch nur kurz streifte Sergio den Gedanken, daß seine eigene Situation und Zukunft eigentlich alles anders als geklärt und gesichert war. Dann gewann sein Wissensdurst die Oberhand, immerhin ging es um eine Neuentwicklung auf seinem Spezialgebiet. Ganz offenkundig hatte er den Anschluß an den neuesten Trend verpaßt; was also lag näher, als diese wohl einmalige Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen?

Sergio war klug genug, den Headhunter nicht noch einmal zu drängen.

"Ich erwähnte bereits", nahm Mike den Faden wieder auf, "daß sich mit Hilfe dieser Anlage eine hochenergetische Blase auf Distanz errichten läßt - eine absolut tödliche Waffe. Das Problem liegt in der Feinjustierung, denn es erfordert einigen Aufwand, den Bereich auf den Meter genau zu definieren. Hier springt das geographische Ortungssystem ein; ich könnte mir den 'roten Bereich' sogar mit Luftaufnahmen zeigen lassen, um jeden Zweifel auszuschalten."

"Das ist ja ...", Sergio fehlten die Worte, er begann sich auszumalen, was mit einer solchen Waffe möglich wäre.

"Wie gesagt, dieses System ist noch längst nicht serienreif; es ist lediglich ein Prototyp, der bislang allerdings schon sehr zuverlässig gearbeitet hat."

"Und was haben Sie jetzt damit gemacht? Haben Sie diese Wahnsinnsmaschine etwa eingesetzt?" Sergio konnte sein Entsetzen nicht ganz verbergen, solch eine Waffe hätte er sich nicht einmal vorzustellen vermocht.

"Wenn Sie ein Gebiet auslöschen, in dem sich Menschen befinden, haben die doch überhaupt keine Chance!"

"Richtig", bestätigte Mike Rosefield in nach wie vor nüchternem Tonfall. "Das macht diese Waffe so interessant. Allerdings ist der Energieaufwand erheblich, so daß sie beim momentanen Entwicklungsstand nur in Einzelfällen angewandt wird."

"Nur in Einzelfällen?" echote der Italiener. "Ja, ginge das denn auch für ganze Landstriche oder gar Kontinente?"

"Theoretisch ja. Praktisch wäre das zur Zeit kein Thema, weil wie gesagt der dafür erforderliche Energieaufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen stünde."

"Ich verstehe", murmelte Sergio, um nur überhaupt irgendetwas zu sagen. Im Grunde ging das alles über seinen Horizont bzw. über das, was er noch wissen wollte. "Und was", fragte der Italiener weiter und schluckte hörbar, "haben Sie jetzt damit 'erledigt'"?

"Das lag in Ihrem wie in meinem Interesse. Schließlich gab es da drüben eine ganze Reihe Typen, die Sie und mich zusammen wegfahren sahen, zurück in die Lebenszone."

"Waaas? Wollen Sie damit sagen, daß die jetzt alle tot sind?"

"Ja, es ist sehr schnell gegangen. Wäre Ihnen ein qualvoller Tod Ihrer Peiniger lieber gewesen?"

Sergio blieb die Antwort schuldig; ihm war, als sprächen der Unheimliche und er verschiedene Sprachen, und doch konnte es sich des Eindrucks nicht erwehren, als wolle der andere ihn ganz absichtlich provozieren.

"Was haben Sie eigentlich mit mir vor?" fragte der ehemalige Hochenergie-Ingenieur schließlich mit leiser Stimme.

"Habe ich das noch nicht erwähnt? Sie sollen für mich den Lockvogel spielen", antwortete der Headhunter.

Innerhalb weniger Minuten war der Italiener blaß und blässer geworden. Nun kippte er ohne Verankündigung vornüber und schlug recht unsanft mit der Stirn auf der Konsole auf. Er hatte sich wieder einmal in eine Ohnmacht geflüchtet.

Ein kurzer Einsatz des Bioscanners, und Mike wußte, daß er sich um Sergio keine ernsthaften Sorgen machen mußte. Früher oder später würde der Italiener wieder erwachen; das war nun schon zweimal so gewesen. Dem Headhunter war die momentane Entwicklung nicht unlieb; nun konnte er in Ruhe seine Vorbereitungen treffen. Er stellte den Beifahrersitz so ein, daß Sergio bequem liegen konnte und überließ seinen Gefährten sich selbst. Mit wenigen Schritten eilte er in die Hütte zurück und sammelte seine Habseligkeiten ein. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, niemals Spuren zu hinterlassen, auch wenn wie hier kaum damit zu rechnen war, daß je wieder ein Mensch seinen Fuß über diese Türschwelle setzen würde.

Sergio Lampurtini verlangte dem Headhunter mehr ab, als er gedacht hatte. Mike schlenderte durch die kleine Kate, die nun wohl zum allerletzten Mal Menschen beherbergt hatte. Die hinterlassenen Gegenstände der letzten Bewohner - Spielzeug und Geschirr, eben alles, was im Alltagsleben so anfiel - würden weiterhin stummes Zeugnis abgeben über die Tragödie, die sich hier wie in wohl allen Häusern von Petrowsk abgespielt haben mußte. Mike Rosefield hatte solche Stätten schon so oft gesehen, sie konnten normalerweise nicht die kleinste Regung in ihm entfachen. Heute aber war das anders, das mag an dem ungewohnten Kontakt zu einem Menschen gelegen haben, der eigentlich auf der Seite der Opfer steht.

Mike gab sich einen Ruck, kehrte zum Ferrari zurück und verstaute gedankenversunken seine sieben Sachen. Sergio hatte sich noch nicht wieder gerührt. 'Was soll ich bloß mit einem Kerl anfangen, der in Ohnmacht fällt, noch bevor es hart auf hart geht?' sinnierte er, während er sich gemächlich auf dem Pilotensitz niederließ. Er griff in seine Jackentasche, zog zwei Zigaretten heraus und steckte sich die erste an. Mike wußte, daß der Italiener ein leidenschaftlicher Raucher war. Wenn Sergio früh genug wieder aufwachte, würde er die zweite Zigarette bekommen; wenn nicht, hatte er eben seine Wahl getroffen.

Der Headhunter aktivierte die Klimaanlage, eine wohlige Wärme breitete sich aus und absorbierte den Rauch. Obwohl eine ganze Menge konkreter Fragen zu klären waren, wanderten Mikes Gedanken zu Darja, seiner Frau, die vor Jahren in ihrem gemeinsamen Haus in Gent den Tod gefunden hatte. Einen gewaltsamen Tod, wie Mike sofort gewußt hatte, denn er hatte die miminalen Spuren, die Leute seines Schlages bei einer Brandstiftung hinterließen, sehr wohl erkannt.

In all den Jahren, die Mike seitdem als lebende 'Killermaschine' zugebracht hatte, gab es nur ein Ziel - Rache. In unzähligen Nächten malte er sich aus, was er mit demjenigen tun würde, der Darjas Tod zu verantworten hatte - Darja, die nur sterben mußte, um den letzten Rest Menschlichkeit in ihm zu töten. Und das hatte funktioniert, er hatte keine Skrupel mehr gekannt und führte ein Doppelleben, wie es krasser kaum sein konnte. Seine Legende als Handelsvertreter einer Brüsseler Immobilienfirma erlaubte ihm ein ungehindertes Umherreisen in der gesamten Region Beta-Nord - und, wenn es sein mußte, auch darüber hinaus.

So gut es ging, mied er die Genter Wohnung, die noch immer so viele Erinnerungen an Darja barg, und konnte sich doch nicht entscheiden, das nach dem Brand restaurierte Haus völlig aufzugeben. Er mußte sich seine nächsten Schritte jetzt sehr genau überlegen, zumal Sergio Lampurtini sich zu einem unberechenbaren Faktor entwickelte. Doch ohne ihn ging es nicht, er war der Köder, mit dem er seinen Todfeind aus der Reserve, sprich seiner Festung, locken wollte. Die mehrfach gesicherten Räume des Koordinators in der Brüsseler Sicherheitszentrale stürmen zu wollen, war eine schlichtweg naive Idee. Mike sah das Gesicht seines Widersachers vor seinem inneren Auge, er starrte und starrte und verlor sich in diesem Anblick, der ihm immer realer zu werden schien.

Achtlos drückte er die Zigarette aus, deren Asche schon herabgefallen und ihn am Handrücken gebrandmarkt hatte. Der Koordinator, von dem er nicht mehr kannte als die Stimme und das Gesicht, wurde zur überlebensgroßen Vision, blähte sich immer weiter auf, grinste hämisch und schien direkt auf ihn zuzukommen.

"Ich erwisch' dich noch, und wenn es das letzte ist, was ich tue", murmelte Mike Rosefield, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er war so vertieft in den Anblick dieser Gestalt, deren Gesicht er nur einmal gesehen und niemals vergessen hatte, daß er nicht bemerkte, wie Sergio sich zu rühren begann. Im Halbnebel der Zwischenwelt, in die der Italiener sich gerettet hatte, hörte er die Worte des Headhunters wie von ferne. Es dauerte lange, bis er den Sinn verstand, doch dann war er wie elektrisiert.

Unterdessen durchlebte Mike einen wahren Alptraum, denn die riesenhafte Gestalt seines Intimfeindes wurde nun überlagert von Bildern der brennenden Wohnung in Gent. Schreie, lautlose Schreie strömten in sein Gehirn, der Headhunter meinte Darjas Todesschreie zu hören. Er war damals zu spät gekommen, viel zu spät, um sie noch retten zu können. Und doch hatte er im nachhinein die ganze Szenerie so intensiv durchlebt, wieder und wieder, daß er mittlerweile schon glaubte, dabeigewesen zu sein. Das zur Fratze entstellte Gesicht des Koordinators war an Häme kaum zu überbieten, so als habe es dem Sicherheitsbeauftragten einen persönlichen Genuß bereitet, ihn, Mike, durch die Ermordung Darjas bis ins Mark zu treffen.

Ganz entfernt, am äußersten Zipfel seines Bewußtseins, gewahrte er, daß ihn jemand am Ärmel berührte, ein sanftes Zupfen, das sich schon eine ganze Weile in seine Vision zu mischen versucht hatte. Nur mit größter Anstrengung riß Mike sich los, bedeutete doch die Rache an diesem Mann seinen Lebensinhalt. Mit Gewalt mußte er sich klarmachen, daß er sein Ziel noch nicht erreicht hatte; die Gestalt war alles andere als zum Greifen nah.

Nun vernahm er auch Sergios Stimme, der sich wohl schon seit einiger Zeit bemühte, ihn anzusprechen. "... Ihnen irgendwie helfen? Was haben Sie denn?"

Unendlich langsam wandte Mike den Kopf und sah Sergio verständnislos an.

"Mein Gott, ich bin ja wohl nicht der einzige, der ein bißchen durchgeknallt ist. Wo waren Sie denn bloß?"

Noch immer fand Mike keine Worte, doch inzwischen dämmerte ihm, wen er vor sich hatte: den 'Schlüssel zum Glück', den Mann, der ihm zu der wohl einzigen Chance verhelfen konnte, sich Darjas Mörder zu nähern. "Werden Sie mir helfen?" flüsterte Mike und verzichtete auf weitere Worte.

"Ja." Nun war es die Stimme des Italieners, die fest und entschlossen klang. "Ich weiß zwar nicht wobei, aber das ist mir auch egal. Sie haben es ja schon gesagt - eigentlich bin ich ein toter Mann." Mike sank in seinem Sitz zurück. Ihm fiel eine Last vom Herzen, denn mit aller Gewalt und Grausamkeit hätte er diesen Mann nicht zur Kooperation zwingen können - nicht bei dem, was er nun vorhatte.

(Ende des 9. Teils)


*


Der Countdown läuft, das noch unwissende Opfer hat den Termin selbst festgelegt; doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wird sich Sergio Lampurtini als zuverlässig erweisen bei dem Vorhaben des Headhunters, der nach Jahren der verzweifelten Suche der Verwirklichung seiner Rachepläne so nah gekommen ist wie nie zuvor?

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 10: Das Ende naht


Erstveröffentlichung am 13. November 1996

8. Januar 2007