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DILJA/13: Headhunter (10) - Das Ende naht (SB)


HEADHUNTER

Teil 10: Das Ende naht

Science-Fiction-Story


Schon vor Stunden hatten sie Pretowsk verlassen und fuhren im für Mike Rosefields Verhältnisse gemächlichen Tempo von etwa 150 Stundenkilometern in Richtung Westen. Die bedrückende Einöde der verlassenen Grenzregion lag hinter ihnen, und damit hob sich, zumindest bei Sergio Lampurtini, auch die Stimmung. Gegen das durchdringende Licht einer für Tages- und Jahreszeit eigentlich viel zu grellen Sonne boten die dunklen Sonnenbrillen, die Mike Rosefield aus dem Handschuhfach gefischt hatte, nur dürftigen Schutz.

"Wir sehen aus wie die Typen in diesen alten Mafia-Schinken", bemerkte Sergio, der es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte und augenscheinlich ganz guter Dinge war. Ihm stand das Bemühen ins Gesicht geschrieben, seinen Gefährten, den er noch immer nicht so recht einzuschätzen wußte, von seiner Melancholie zu befreien.

"Einen Heiermann für Ihre Gedanken." Der Italiener machte einen neuen Ansatz, den Headhunter aus der Schweigsamkeit hervorzulocken, in die er sich nach seinem Gefühlsausbruch geflüchtet hatte.

"Einen Heiermann?" fragte Mike verständnislos. Seine Stimme klang bedeckt, er schien noch immer nicht ganz Herr seiner Sinne zu sein. Dann huschte die Spur eines Lächelns über sein Gesicht.

"Ach ja, ich weiß schon. Sie müssen ein wenig Nachsehen mit mir haben, ich bin menschliche Gesellschaft nicht mehr gewohnt."

Nun, da der Headhunter etwas aufgetaut war, ließ Sergio seiner Neugier freien Lauf.

"Wo fahren wir eigentlich hin?" erkundigte er sich beiläufig.

"Nach Gent."

"Nach Gent? Äh, sind wir denn schon im belgischen Verwaltungsbezirk?" fragte Sergio weiter.

Mike warf ihm einen schwer zu definierenden Blick zu. "Ich nehme an", fragte er statt einer Antwort, "Sie wollen wissen, was ich mit Ihnen vorhabe?"

"Ja, ehm, sicher", stotterte der Italiener, den diese direkte Frage augenscheinlich irritierte.

"Nun, ich habe natürlich schon so meine Pläne", hob Mike an, machte dann jedoch eine Pause, um sich die nächste Zigarette anzuzünden. Dabei ließ er das Steuer los, ohne im mindesten auf die Straße zu achten.

"Passen Sie doch auf, da kommt eine Kurve", rief Sergio und machte Anstalten, ins Lenkrad zu greifen.

"Keine Panik", grinste der Headhunter und hielt seinem Beifahrer in aller Seelenruhe die Packung hin. Doch der Italiener reagierte nicht, er starrte wie gebannt durch die leicht abgedunkelte Frontscheibe. Wie von Geisterhand geführt vollzog der Wagen alle Biegungen der Schnellstraße mit, ohne das Tempo nennenswert zu reduzieren.

"Ich habe bei Ihrem technischen Sachverstand eigentlich vorausgesetzt, daß Ihnen die automatische Steuerung solcher Fahrzeuge ein Begriff ist." Offensichtlich hatte Mike Rosefield zu seinem gewohnten Sarkasmus zurückgefunden. Doch bevor Sergio sich dem Armaturenbrett zuwenden konnte, um sich mit dieser Variante der ihn immer wieder faszinierenden technischen Anwendungsformen vertraut zu machen, sprach der Headhunter mit leiser Stimme weiter.

"Doch um auf Ihre Frage zurückzukommen: Meine Pläne hängen nicht unwesentlich davon ab, was Sie bereit und in der Lage wären zu tun."

Verwirrt blickte Sergio auf. Ihm standen die Nackenhaare zu Berge. "Wie meinen Sie das? Ich soll einen umbringen, ist es das?"

"Ich laß' mir doch von Ihnen nicht ins Handwerk pfuschen", entgegnete Mike in aller Seelenruhe, und Sergio konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sein Gegenüber sich insgeheim über ihn lustig machte.

"Nein, Spaß beiseite, das können Sie getrost mir überlassen. Dennoch möchte ich gerne wissen, ob es Sie interessieren würde, den Mann zur Strecke zu bringen, der auch den Tod Ihrer Frau zu verantworten hat."

"Sie meinen diesen Typen, mit dem Sie vorhin dieses merkwürdige Gespräch führten?" fragte der Italiener zurück, um etwas Zeit zu gewinnen. Er hatte das grauenhafte Ende seiner Frau, die Irrfahrt in die Todeszone weit von sich geschoben und wollte auch nicht gern daran erinnert werden. Das war ein Gebot der Stunde. Trauern konnte er später noch - wenn es denn in dieser beschissenen Welt überhaupt noch ein Später gab ...

"Ja, genau den. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet." Mike ließ sich von seinem eingeschlagenen Pfad nicht abbringen. "Ich frage das nicht grundlos", fuhr er fort, als Sergio weiterhin schwieg, "oder aus purer Schikane. Von mir aus können Sie so weitermachen. Mir brauchen Sie auch nicht den trauernden Ehemann vorzufilmen, dazu kenne ich Sie viel zu genau."

"Wie können Sie mich kennen?" fuhr der ehemalige Hochenergie- Ingenieur dazwischen, um das Gespräch in für seinen Geschmack angenehmere Gefilde zu lenken.

"Sie scheinen sogar schon vergessen zu haben, wer oder was ich bin." Unbarmherzig durchkreuzte Mike die durchsichtigen Ablenkungsmanöver des Italieners. "Ich habe meine bisherigen Aufträge hundertprozentig erfüllt, und dazu gehört eben auch, mich haarklein über die jeweiligen Zielpersonen zu informieren. Ich könnte Ihnen Dinge aus Ihrem Leben erzählen, die Sie mit Sicherheit längst vergessen haben."

Beklommen hörte Sergio zu. Wieder einmal wußte er nicht, ob er in seinem Gegenüber eigentlich seinen Retter oder seinen Henker sehen sollte.

"Vielleicht sollte ich die Frage anders formulieren", nahm der Headhunter den Faden wieder auf, "wenn schon die bloße Erwähnung von Clarissas Namen eine solche Abwehr bei Ihnen hervorruft."

Unbehaglich blickte Sergio zum Seitenfenster hinaus. Er fühlte sich von vorne bis hinten durchschaut und wünschte diesen unheimlichen Mann dorthin, wo der Pfeffer wächst.

"Dieser Mann, um den es mir geht", hörte er den Headhunter sagen, "hat mir schließlich auch den Auftrag gegeben, Sie zu töten. Ich habe ihn zwar in dem Glauben gelassen, diesen Job erledigt zu haben, aber eine hundertprozentige Sicherheit ist das für Sie nicht. Trotz all der hochgezogenen Überwachungstechnik hat er keine Möglichkeiten, diesen Sachverhalt zu überprüfen. So weit reichen die Individualimpuls-Scanner einfach nicht, und in die Todeszone schon gar nicht. Sie werden sich sicherlich daran erinnern können" - und hier war der zynische Unterton in Mikes Stimme wieder einmal nicht zu überhören -, "daß wir die Todeszone inzwischen verlassen haben. Früher oder später könnten Ihre Impulse aufgefangen werden, und das würde einen sofortigen Alarm und im nächsten Schritt Ihre Liquidierung nach sich ziehen. Die Doppelgänger-Story verschafft Ihnen einen gewissen Aufschub, aber auf Dauer können Sie sich darauf nicht verlassen. Haben Sie schon 'mal einen Moment lang darüber nachgedacht, wie Sie die nächsten Tage lebend überstehen wollen?"

"N-, n-, nein", stotterte Sergio kleinlaut. "Ehrlich gesagt nicht. Haben Sie vielleicht 'ne Idee?"

"Nun ja", entgegnete Mike Rosefield und sah ihm ins Gesicht. "Ich habe dem Koordinator die Doppelgänger-Geschichte nicht aufgetischt, um Ihnen eine neue Legende zu verschaffen - daß wir uns da nicht falsch verstehen, ich bin schließlich nicht der Erlöser. Sie haben allerdings das seltene Glück, von meinen Plänen profitieren zu können, wenn Sie denn gewillt sind, eine kleine Komödie mitzuspielen."

"Eine Komödie?" fragte Sergio erstaunt.

"Nun, mit tragischem Ausgang sicherlich, kommt nur drauf an, für wen. Als Doppelgänger des in der Todeszone liquidierten Sergio Lampurtinis könnten Sie für mich den Lockvogel spielen, um den einen, den ich meine, aus seiner Höhle hervorzulocken."

Sergio wußte genau, wen der Headhunter meinte. Und als er nun in dessen Augen sah, wünschte er sich, diesen Mann nie zum Feind zu haben. "Ist das denn gefährlich?" fragte er beklommen. "Und was genau habe ich dabei zu tun?"

"Für Sie gefährlich? Nicht halb so sehr wie für den Koordinator", lachte Mike Rosefield und fügte hinzu: "Wenn alles glatt läuft. Das kann ich Ihnen natürlich nicht garantieren, wenn Sie also eine bessere Möglichkeit für sich sehen ... Sie hätten, würden Sie sich entschließen, das Spiel mitzuspielen, nicht viel zu tun, außer in meiner Nähe zu bleiben. Alles andere können Sie mir überlassen. Wenn ich diesen Menschen erst einmal zwischen den Fingern habe, sollten Sie sich allerdings so schnell wie möglich in Sicherheit bringen - wo auch immer das sein mag."

Der Italiener gab sich einen Ruck und setzte sich kerzengerade auf. "Okay, ich bin Ihr Mann", sagte er mit fester Stimme. Mochte ihn bei diesem Unternehmen eine verirrte Kugel treffen - es schien immer noch die klügere Wahl zu sein, als sich allein durchs Leben zu schlagen. Was hätte er hier ohne Papiere, ohne Auto, ohne Identität und ohne Scheckkarte schon ausrichten können?

"Eine Frage hätte ich allerdings noch", fuhr Sergio fort. "Wie kommen Sie eigentlich zu der Annahme, der Koordinator würde so einfach schlucken, daß ich mein eigener Doppelgänger bin? Dafür gibt es doch, so weit ich verstanden habe, keinerlei Beweise!"

"Nee, wie denn auch", grinste Mike ihn an. "Eine gute Frage, die zeigt, daß Sie den Kern des Problems verstanden haben. - Sie haben wohl nie Poker gespielt?"

Sergios Miene wirkte nicht eben geistreich, als ihm dämmerte, was der Headhunter ihm damit sagen wollte.

"Wir sind übrigens bald da. Darf ich Sie in meine bescheidene Hütte einladen?" Von einem Moment zum nächsten wechselte Mike das Thema. Dankbar wandte Sergio sich ihm zu und nickte eifrig. "Ja, gerne", beeilte er sich, diesen Strohhalm zu ergreifen.


*


Wie gebannt saß Jack Clifton an einem kleinen Multifunktionstisch in einem der Wohnräume seiner 'Suite', wie er die allein ihm zur Verfügung stehende Etage im Brüsseler Sicherheitshauptamt spaßeshalber nannte. "Kein Wunder, daß ich schon ein wenig zum Eigenbrötler geworden bin", sagte er laut. Solche Selbstgespräche waren ihm längst zur Gewohnheit geworden, schließlich lebte er hier seit vielen, vielen Jahren ganz allein. Kaum eine Freude, die er mit anderen Menschen hätte teilen können - das war nicht immer einfach. Dieses freiwillige Opfer, diese Bürde hatte er damals bereitwillig auf sich genommen. Als ihm die hohe Verantwortung bewußt geworden war, die diese Aufgabe mit sich bringen würde, hatte er keinen Moment gezögert; auch dann nicht, als ihm klar wurde, daß es ein Privatleben für ihn nicht mehr geben würde.

Die Sicherheitsautomatik verfolgte jeden seiner Schritte, zeichnete jedes seiner Worte auf und war mit Sicherheit mit psychologischen sowie medizinischen Spezialprogrammen gefüttert, um etwaige Anomalien in seinem Verhalten oder sonstige sicherheitsrelevante Störungen sofort diagnostizieren und gegebenenfalls beheben zu können. Die Programmierer dieses Systems mußten auch gewußt haben, wie wichtig für einen Menschen das Gefühl ist, Herr im eigenen Haus zu sein, denn es hatte sich in all den Jahren nicht erdreistet, ihn in irgendeiner Weise zu bevormunden. Wenn, was selten genug vorkam, die wohlmodulierte Stimme des Zentralrechners ihn aus eigener Initiative ansprach, um ihm beispielsweise einen Spaziergang vorzuschlagen, wußte er, daß er sich von den Durchschnittswerten dessen, was Menschen normalerweise tun, über ein bestimmtes ihm zugestandenes Maß hinaus entfernt hatte.

In der Regel kam er den sanften Ermahnungen mit nur leichtem Widerwillen nach. Schließlich gab es keinen Grund, dem Sicherheitssystem zu grollen, dem es ja nur daran gelegen sein konnte, auf seine Gesundheit und sein Wohlbefinden zu achten. Die ständige Überwachung störte ihn nicht im mindesten, diente sie doch seinem persönlichen Schutz. Er wußte sich von einer waffenstarrenden Festung umgeben, auch wenn davon in diesen durchaus anheimelnden Räumen nichts zu spüren war. Er wollte sich allerdings lieber nicht ausmalen, was passierte, sollte sein nahezu unsichtbarer Begleiter eines Tages zu dem Ergebnis kommen, er sei seiner Aufgabe ernsthaft nicht mehr gewachsen.

Jack saß bequem an dem kleinen Tisch und strich sich ein paar Scheiben Surrogatbrot mit einer äußerst wohlschmeckenden Konzentratpaste. Innerlich war er weitaus angespannter, als dieses trauliche Bild vermuten lassen würde, denn das Ultimatum, das er Mike Rosefield gestellt hatte, lief in etwa zehn Minuten ab.

Die Sekunden tropften nur so dahin, dennoch rückte der Zeitpunkt X unaufhaltsam näher. "Was mach' ich bloß, wenn dieser Schlendrian sich nicht meldet?" grübelte der Koordinator, während er sich der kleinen Kaffeemaschine widmete, die durch lautes Pfeifen verkündete, ihr Werk vollendet zu haben.

"Es geht doch nichts über einen echten Gebrannten", murmelte er zufrieden und goß sich eine Tasse ein. Wenn er schon zum Wohle aller allein leben mußte, war es doch nur recht und billig, daß er sich auch 'mal etwas gönnte ... Er hätte sich rühmen zu können, einer der letzten Menschen auf dem sterbenden Planeten Erde zu sein, der noch über echte Kaffeebohnen verfügte. Wer hätte sie ihm in seiner selbstgewählten Isolation schon streitig machen wollen? In diesem Punkt erhob sein ansonsten gut funktionierendes Gewissen keine Einwände, auch wenn er damals, als die große Dürre in der Erzeugerländern das pflanzliche Leben nahezu auslöschte, die letzten Säcke, die nach Brüssel eingeflogen werden konnten, kurzerhand hatte beschlagnahmen lassen. Man gönnt sich ja sonst nichts!

Kaum daß ihm der erste Schluck des 'heißen Goldes' die Kehle herunterrann, riß ihn das laute Piepsen seines Armband-Funkgeräts aus dem Genuß. Verärgert über diese Störung, stellte er die Tasse beiseite, war er doch pflichtbewußt genug, um sich ohne Verzögerung der nächsten Anforderung zu stellen.


*


Mit gemischten Gefühlen stieg Sergio Lampurtini aus dem Wagen, streckte seine steifgewordenen Glieder und sah sich um. Der kleine Bungalow, auf den der geheimnisvolle Unbekannte gemächlichen Schrittes zustrebte, unterschied sich kaum von den übrigen Häusern in dieser eher stillen Wohngegend. Der Italiener nahm die Sonnenbrille ab, blinzelte ob des ungewohnt grellen Lichts mit den Augen und nahm die Umgebung in sich auf. Nichts deutete auf die Brandkatastrophe hin, die hier vor Jahren stattgefunden hatte und nichts anderes als kaltblütiger Mord gewesen war - wenn er denn den Aussagen dieses Mannes Glauben schenken wollte.

Manches, was der Headhunter ihm unterwegs erläutert hatte, war ihm mehr oder minder vertraut gewesen, doch es gab auch einiges, bei dem er noch immer das kalte Grausen bekam. Was für ein Motiv hätte dieser Mensch haben können, um ihm einen Bären aufzubinden? Wollte er ihm Angst machen? Doch wozu? Der Fremde hatte keinen Hehl daraus gemacht, daß er, Sergio, für ihn den Lockvogel spielen sollte. Dabei ging es, soviel hatte er inzwischen verstanden, um diesen Koordinator in Brüssel.

Nein, eigentlich gab es keinen Grund, an den Worten dieses Mannes über Gebühr zu zweifeln - schließlich sprachen die Ereignisse der letzten Tage für sich. Sergio Lampurtini fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, die Erinnerung an Clarissas halb ausgenommene Leiche war unwillkürlich vor seinem inneren Auge aufgetaucht und drohte, ihn aus seiner so mühsam aufgebauten Fassung zu bringen. Jetzt bloß nicht daran denken, nahm Sergio sich vor, doch die Bilder gehorchten ihm nicht ...

"Hey, wollen Sie da Wurzeln schlagen?" Die ungeduldige Stimme des Headhunters riß ihn aus seinen selbstquälerischen Erinnerungen. Mike Rosefield stand, mit einigen Taschen beladen, schon seit geraumer Zeit in der offenen Haustür und hatte sich nach seinem Begleiter umgedreht.

"Äh", stammelte Sergio verlegen, "ich hab' mich nur ein wenig umgesehen." Und wie um seinen Worten Taten folgen zu lassen, widmete er sich angelegentlich den wenigen Büschen, die dem Ansturm der sengenden Frühlingssonne bislang getrotzt hatten. 'Wieso hab' ich nur immer das Gefühl, daß dieser Kerl mich von vorn bis hinten durchschaut', sinnierte der Italiener, während er nun ebenfalls auf das Haus zuschritt. 'Wie wohl die Bude eines Killers aussieht?' fragte er sich beklommen und gab sich alle Mühe, eine desinteressierte oder zumindest gleichgültige Miene aufzusetzen.

"Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß Sie von mir nichts zu befürchten haben?" Mit diesen Worten empfing ihn der Headhunter an der Haustür und ließ ihm den Vortritt. "Hinein in die Höhle des Löwen", grinste er.

"Sind Sie eigentlich so etwas wie ein Telepath?" fragte Sergio und gab es auf, seine Verlegenheit überspielen zu wollen. "Ich dachte eigentlich, sowas hätte es nur in den Science-fiction- Romanen des vorigen Jahrhunderts gegeben."

"Ob ich ein Telepath bin?" echote Mike, nun offensichtlich amüsiert. "Nein, das wäre mir viel zu umständlich. Sie sollten Ihr Gesicht mal sehen ..." Ohne weiter auf seinen Gast zu achten - oder sein nächstes Opfer, wie Sergio wohl noch immer zu befürchten schien -, ging der Headhunter weiter, ließ seine Taschen fallen und machte sich in einer Ecke des geräumigen Vorraums zu schaffen. Die Fensterläden öffneten sich, wohlgefiltertes Sonnenlicht strömte durch die leicht abgedunkelten Scheiben und verbreitete eine angenehme Atmosphäre.

"Tun Sie Ihrer Neugierde keinen Abbruch", ertönte die Stimme des Headhunters nun aus einem der hinteren Räume, es mochte die Küche sein. "Vielleicht finden Sie ja ein modernes Äquivalent zu den Trophäen früherer Scalpjäger im antiken Nordamerika oder wenigstens ein paar Folterwerkzeuge."

"Ich glaube nicht, daß Sie so dumm sind, hier irgendwelche Spuren zu hinterlassen", bemerkte Sergio und gab sich alle Mühe, vor dem anderen den in ihm aufsteigenden Ärger zu verbergen. 'Wenn dieser Kerl etwas von mir will - und immerhin hat er mich um Hilfe gefragt und nicht umgekehrt -', empörte sich der Italiener innerlich, 'warum kann er es dann nicht lassen, mich immer wieder zu provozieren?'

Doch dann tat Sergio, wie ihm geheißen, und musterte ungeniert die kleine, gar nicht einmal ungemütliche Wohnung eines Handelsvertreters. Luxuriös war sie gerade nicht zu nennen; es war aber auch unverkennbar, daß der Eigentümer keine materielle Not zu leiden brauchte - und das besagte in diesen Zeiten schon sehr viel. Es fehlten nicht einmal persönliche Gegenstände. Auf einer Anrichte im angrenzenden Wohnzimmer, in das Sergio ohne zu zögern geschlendert war, entdeckte er ein paar sorgfältig eingerahmte Fotos. "Ihre Legende ist wirklich perfekt", rief er in Richtung Küche, wo er seinen mysteriösen Gefährten vermutete. "Das ist hier alles gestylt, oder?"

Mike Rosefields Gestalt erschien lautlos im Türrahmen. Sein Blick blieb an den Fotos haften, die Sergio schon aufgefallen waren. Unwillkürlich tat der Italiener es ihm nach. Auf allen drei Bildern war eine Frau zu sehen im Alter von etwa 25, 30 Jahren. Sie lächelte kaum und war von einer nach Sergios Empfinden etwas herben Schönheit.

"Ihre Frau?" fragte er leise.

"Ja. Meine Frau. Meine tote Frau. Darja. Die Fotos sind über zehn Jahre alt", erwiderte der Headhunter langsam, und diesmal fehlte seiner Stimme die beißende Schärfe seiner sonstigen Bemerkungen.

"Wenn Sie Ihren Kaffee heiß trinken wollen", fuhr er unvermittelt fort, "sollten Sie 'mal mitkommen." Und mit einer einladenden Geste geleitete er seinen Gast in die Küche, aus der zudem ein verführerischer Essensgeruch strömte. "Außerdem haben wir, so leid es mir tut, etwas Wichtiges zu besprechen", fügte er noch hinzu.

Schlagartig wurde Sergio sich seines kneifenden Hungers bewußt. In der kleinen Küche, die nicht mehr als eine Kochnische sowie einen Tisch mit zwei Stühlen enthielt, stand eine große Schüssel Spaghetti. Und nicht nur das, eine Tomaten-Hack-Soße nach italienischer Art machte das Mahl perfekt! Sergio schossen Tränen in die Augen, wie oft hatte er mit Clarissa damals in Corina an einem ähnlichen Tisch gesessen! Wortlos schob der Headhunter Sergio zu einem der Stühle, gebot ihm, sich zu setzen und füllte ihm auf. Ebenso schweigend nahmen die beiden so ungleichen Männer diese Mahlzeit ein, während im Hintergrund eine Espresso-Maschine blubberte und Köstliches erahnen ließ.

In diesem Moment gab der Italiener sein Mißtrauen Mike gegenüber auf. 'Mag sein', dachte er, 'daß er dies alles nur arrangiert hat, um mich einzuwickeln.' Schließlich hatte er selbst gesagt, daß er immer bis ins haarkleinste Detail über seine Opfer informiert war. 'Und wenn schon', beschloß Sergio, dem dieser Moment der Erinnerung an Clarissa, an seine sorglose Vergangenheit in Corina alles wert war, was noch auf ihn zukommen mochte.


*


"Zentrale 25-DX." Mit diesen Worten nahm der Koordinator das Funkgespräch von der den Headhuntern vorbehaltenen Hyper-Frequenz entgegen. Er ließ seinen Blick über die kleine Wanduhr streifen und stellte mit Genugtuung fest, daß es fünf Minuten vor zwölf war. Sicherlich wollte Mike Rosefield ihm mitteilen, daß er den Doppelgänger aufgebracht habe. Es geht doch nichts über Leute, auf die unter allen Umständen Verlaß ist!

"HY-C05." 'Aha, also tatsächlich der Headhunter', nahm Jack Clifton dessen Meldung befriedigt zur Kenntnis.

"Und wie steht's?" fragte er jovial.

"Ich habe diesen Doppelgänger ausfindig gemacht. Allem Anschein nach ist er mit der ursprünglichen Zielperson identisch. Ich habe bereits einen Gewebetest gemacht, er stimmt sogar biologisch mit dem Original überein."

Hinter Jack Cliftons Stirn arbeitete es fieberhaft, diese Informationen mußten schnellsten verarbeitet werden. Doch was war zu tun? Wenn seine Vermutung zutraf, war er hier auf ein wirklich heißes Eisen gestoßen. Die Idee, daß außerhalb seines Wissensbereichs - und das bedeutete auch, ohne Wissen des zentralen Sicherheitssystems! - hochbrisante Forschungen betrieben wurden, noch dazu mit solch spektakulären Ergebnissen, war wirklich haarsträubend. Oder sollte es möglich sein, daß er in seiner Funktion als Koordinator von bestimmten Informationen ausgeschlossen wurde! Eine ebenfalls beängstigende Vorstellung!

"Und wo? Wo haben Sie ihn gefunden?" Er mußte unbedingt mehr wissen, bevor er die nächsten Schritte einleiten konnte.

"Das war gar nicht so schwierig. Ich bekam ihn recht bald in die Ortung. Ungefähr 100 Kilometer westlich der Stelle in der Grenzregion, an der ich zum ersten Mal auf seine Impulse aufmerksam geworden bin. Er hatte in einer kleinen Scheune geschlafen und machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck."

"Und wenn es doch das Original ist?" sinnierte der Koordinator.

"Hören Sie, guter Mann, ich habe ihn eigenhändig ...", brauste der Headhunter auf.

"Schon gut, schon gut", lenkte der Beamte ein. "Ich wollte ja nur mal gefragt haben, ob Sie sich Ihrer Sache ganz sicher sind."

"Wollen Sie Einzelheiten hören? Wie er aussah, vorher und hinterher?" hakte der Kopfgeldjäger gereizt nach.

Innerlich seufzte der Koordinator. Warum mußten diese Typen immer alles so eng sehen? "Nun beruhigen Sie sich", sagte er beschwichtigend, "und erzählen mir lieber mal, was dieser Mensch denkt, wer er sei. Und, vor allem, wo steckt er jetzt?"

"Zwei Fragen auf einmal", kommentierte der Headhunter. "Es ist schon wirklich erstaunlich: Dieser Mensch ist fest davon überzeugt, Sergio Lampurtini zu sein. Und soweit ich es beurteilen kann, verfügt er auch über dessen Persönlichkeit und Erfahrungsschatz. Nur ..."

"Was nur? Sprechen Sie weiter!" Ganz offensichtlich war der Koordinator Feuer und Flamme.

"Ja, wie soll ich sagen", zögerte sein Gesprächspartner. "Er ist so ein bißchen durch'n Wind, wenn Sie verstehen, was ich meine. Mir kommt es so vor, als wäre ihm die Identität der Zielperson eingetrichtert worden, nur eben nicht hundertprozentig. Aber das sind natürlich wüste Spekulationen ..."

Längst hatte der Koordinator den Köder geschluckt, den der Headhunter für ihn präpariert hatte. "Macht nichts, macht nichts, das können Sie ja auch nicht wissen", sagte er begütigend. "Jetzt zählt vor allem eins: Wo steckt dieser Mensch? Können Sie ihn auf schnellstem Wege hierher bringen?"

"Er ist bei mir in der Wohnung und hat sich gerade aufs Ohr gelegt. Es war schon nicht einfach, ihn überhaupt dazu zu bewegen, mit mir nach Gent zu fahren. Schließlich konnte ich nicht auf meine bewährten Mittel zurückgreifen, und als Diplomat bin ich etwas ungeübt", erläuterte der Headhunter bereitwillig. "Von einer Fahrt nach Brüssel wollte er partout nichts wissen. Er hat keinerlei Interesse, dem Sicherheitshauptamt einen Besuch abzustatten. Und um ihn nicht gänzlich vor den Kopf zu stoßen, konnte ich da auch nicht länger drauf herumreiten. Wenn Sie wollen, mache ich kurzen Prozeß mit ihm. Dann allerdings kann ich auch nicht garantieren ..."

"Nein, nein, nein. Auf gar keinen Fall", unterbrach der Koordinator ihn eilig. "Ich will ihn nicht nur lebend und unverletzt, sondern am besten auch völlig arglos. Er darf auf keinen Fall wissen, daß er ein Doppelgänger ist, ein lebendes Experiment. Wir müssen sehr behutsam vorgehen, wenn wir herausfinden wollen, was es mit ihm auf sich hat."

"Wenn das so ist", Mikes Stimme klang zerknirscht, "werde ich diesen Auftrag nicht vollständig erfüllen können. Was ist dann mit der Prämie? Diese Geschichte hat mich schon reichlich Nerven gekostet!"

'Daß es diesem Typen aber auch immer nur ums Geld geht!', dachte der Koordinator und war fast ein bißchen enttäuscht, hatte er doch schon geglaubt, in ihm einen Gesprächspartner gefunden zu haben. "Das ist kein Problem. Ich entbinde Sie von dem Auftrag, Mr. Unbekannt nach Brüssel zu bringen. Statt dessen behalten Sie ihn in Ihrer Wohnung, als Gast wohlbemerkt, und Sie erhalten die volle Prämie. Wird das zu machen sein?"

"Und für wie lange? Wissen Sie, ich bin auf Dauer nicht gut auf Menschen zu sprechen. Den freundlichen Nachbarn zu mimen, fällt mir gar nicht so leicht. Ein, zwei Tage können eine verdammt lange Zeit sein. Würden Sie allerdings die Prämie verdoppeln - das würde mir helfen, meine innerste Natur im Zaum zu halten."

"Also gut", lenkte der Koordinator nach kurzem Sträuben ein. Es war ja schließlich nicht sein Geld, das er in diese Sache investierte, an deren Sicherheitsrelevanz es nichts zu deuteln gab. "Dafür haften Sie mir mit Ihrem Leben, daß dem Doppelgänger kein Leid widerfährt, bis er abgeholt wird."

"Und wem soll ich ihn übergeben? Wie kann ich sicher sein, daß es nicht gerade die Häscher der Leute sind, die ihn aus der Retorte gezogen haben?"

Dieser Einwand war berechtigt. Der Koordinator dachte kurz nach und sagte dann: "Ein Mann wird zu Ihnen in die Wohnung kommen. Das Codewort lautet 'Zwilling'. Alles klar?"

"Ich erwarte die volle Prämie noch heute", entgegnete der Headhunter statt einer Antwort und unterbrach ohne ein weiteres Wort die Verbindung.

Der Koordinator war dennoch mit dem Gesprächsverlauf vollauf zufrieden. Er eilte in seine Büroräume und begann mit den Vorbereitungen. Seit Jahren war es nicht mehr vorgekommen, daß er eine Angelegenheit selbst erledigen mußte. Zunächst einmal wollte er sich vergewissern, ob sich der rätselhafte Unbekannte tatsächlich in der Genter Wohnung dieses Killers aufhielt. Als reine Vorsichtsmaßnahme hatte er schon vor Jahren eine Spezialanlage installieren lassen, die imstande war, die Individualimpulse aller Menschen zu erfassen, die sich dort aufhielten.

Jack Clifton setzte sich an seine Konsole, machte ein paar Eingaben, und in Nullzeit hatte er das Ergebnis vor Augen: Mike Rosefields und Sergio Lampurtinis Individualimpulse wurden angemessen - wie nicht anders zu erwarten war. Nicht, daß der Koordinator dem Headhunter mißtraut hätte, aber er ging doch lieber auf 'Nummer Sicher'. Auf welch hochentwickelte Technologie mochte er hier gestoßen sein!

In Gent nahm Mike Rosefield diese Abfrage mit letzter Befriedigung zur Kenntnis. Er hatte die installierte Anlage längst entdeckt und so modifziert, daß er alle Vorgänge und Abfragen kontrollieren konnte. Nun wußte er, daß sein Intimfeind den Köder vollständig geschluckt hatte. Sergio Lampurtini, der Lockvogel, hatte in diesem Moment, ohne es zu ahnen, seine wesentlichste Aufgabe bereits erfüllt.


*


Todmüde streckte Sergio sich aus. Die Strapazen der vergangenen Tage und Nächte forderten ihren Tribut; er fühlte sich so zerschlagen, als könne er vierzig Stunden nonstop schlafen. Das nahezu opulente Mal, das sein geheimnisvoller Gefährte ihm bereitet hatte, hinterließ eine wohlige Wärme und ein seit langem entbehrtes Gefühl der Sattheit - eine Sattheit, die seine Müdigkeit noch zu verstärken schien. Er hatte den Ausführungen des Headhunters, der ihm geduldig auseinanderzusetzen versuchte, worum es denn nun eigentlich ging, nur noch mit halbem Ohr zugehört. Ihm schwirrte der Kopf voller Fakten, Namen und Details, von denen er am liebsten niemals Kenntnis erlangt hätte.

"Ein Menschenleben ist wirklich nichts wert", murmelte er noch, bevor er endgültig hinüberglitt ins gelobte Land der Träume.

Unterdessen saß Mike Rosefield am Küchentisch, reglos, den Blick starr in die vor ihm stehende Kerze gerichtet. So mochten schon zehn Minuten oder eine halbe Stunde vergangen sein; in diesem Dämmerzustand zwischen Diesseits und Jenseits löste sich jegliches Zeitempfinden in Luft auf. Eine Zigarette lag halb geraucht im Aschenbecher, die kalte Glut fiel herunter, doch der Headhunter nahm nichts davon wahr.

Er glitt ganz allmählich in eine seine Visionen hinüber, so jedenfalls nannte er mangels präziserer Begriffe diese lichten Momente, in denen die Bilder, die ihm vor Augen erschienen, weitaus präziser waren als die sogenannte Wirklichkeit. Oft überfielen ihn diese Zustände in mehr oder minder ungünstigen Momenten; diesmal jedoch hatte er es geradezu darauf angelegt und sich voll und ganz auf den Mann konzentriert, dem seit Jahren sein ganzes Trachten galt. Lange Zeit hatte er nicht einmal gewußt, wer Darjas Tod damals befohlen hatte - erst vor kurzem war er dem Koordinator, also dem Mann, für den er seit langem gearbeitet hatte, auf die Spur gekommen.

Die Erinnerung an dessen Gesicht - er hatte ihn bei seiner 'Amtseinführung' als Headhunter einmal gesehen und danach nie wieder - mochte etwas verblaßt sein und vielleicht auch verfälscht. In all den Jahren hatte er sich immer und immer wieder ausgemalt, was er jenen antun würde, die für Darjas Tod verantwortlich waren. Bislang hatte er nichts gefunden, was seinen Durst nach Rache zu stillen in der Lage gewesen wäre - und er kannte beileibe viele Möglichkeiten, Menschen Schmerzen zuzufügen und sie qualvoll zu Tode zu bringen.

Der Headhunter meinte seinen Widersacher vor sich zu sehen, beobachtete ihn, wie er geschäftig in einem Bürozimmer hin und her ging, Papiere sortierte, dann wieder an einer Konsole saß, ein paar Tasten betätigte, wieder aufstand, und so weiter. 'Er arbeitet', sinnierte Mike in seinem Twilight-Zustand, und ohne jede persönliche Regung verfolgte er sein Opfer weiter. Sobald er jedoch den Blick schärfen und herausfinden wollte, was der Beamte wirklich tat, wurden die Bilder undeutlicher - und so gab er es auf, ihm genauer auf die Finger sehen zu wollen. Plötzlich blieb der Koordinator stehen, hielt in seiner Bewegung inne und sah sich um, ratlos, suchend.

'Was mag ihn gestört haben? Ein Geräusch, ein Anruf vielleicht?' überlegte Mike, ohne die Reaktion des Koordinators im mindestens auf sich zu beziehen. Jack Clifton drehte sich langsam um und blickte in alle Richtungen der ihn umgebenden Räume. In seinem Gesicht stand ein deutlicher Ausdruck von Angst. 'Angst?' rätselte der Headhunter. 'Wovor hat dieser Kerl Angst? Sollte mir etwa jemand zuvorkommen, so kurz vorm Ziel?' Mit Mikes Ruhe war es nun vorbei, er intensivierte seine Bemühungen und verstärkte das 'mentale Band' zu seinem nächsten Opfer um ein Vielfaches.

Der Koordinator blieb stehen. Wie in Zeitlupe wandte er den Kopf, bis sein Gesicht direkt in Mikes Richtung wies, so als hätte er ihn als klammheimlichen Beobachter ausgemacht. Die Augen vor Entsetzen geweitet, starrte dieser Mensch zu ihm hinüber! 'Das ist doch völlig unmöglich', fluchte Mike und riß sich gewaltsam los. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn, sein Atem ging völlig unregelmäßig. 'Jetzt fang' ich endgültig an zu spinnen', stieß er hervor und stand auf. Er ließ den Stuhl achtlos hinter sich fallen und rannte ins Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel bestätigte seine geheimsten Befürchtungen: Ein Tropfen Blut lief aus seinem rechten Augenwinkel, und zwar an genau derselben Stelle, wie er es eben gerade auch beim Koordinator gesehen hatte!

"Jetzt brauch' ich aber wirklich 'nen Schnaps", erklärte Mike seinem Spiegelbild und wischte sich den Tropfen aus dem Augenwinkel.


*


Wie von ferne drangen Geräusche in das Bewußtsein des wie tot Schlafenden, dem es nicht gelang, diese unliebsamen Störungen gänzlich zu ignorieren. "Ich will nicht, ich will nicht", murmelte Sergio im Halbschlaf und vergrub den Kopf noch tiefer in die Kissen des überaus bequemen Bettes, das ihm nach den Torturen der jüngsten Vergangenheit wie der Himmel auf Erden erschien. Doch unbarmherzig und gnadenlos drangen die Schreie aus einem der Nebenzimmer an sein Ohr. Schreie? Was waren das für Schreie? Nach der Geräuschkulisse eines Gruselfilms oder Psycho-Schockers hörte sich das beileibe nicht an - nein, kein Zweifel, die Schreie waren echt. Und es waren menschliche Schreie.

Mit einem Ruck setzte Sergio Lampurtini sich auf und konnte im Halbdunkel des anbrechenden Morgens die Umrisse des kleinen Gästezimmers ausmachen. "Wo bin ich?" fragte er in die Dunkelheit hinein, ohne eine Antwort zu erwarten. Dann fiel ihm mit einem Schlag alles wieder ein: sein letztes Gespräch mit dem Headhunter, der ihm die Zusammenhänge und Details der bevorstehenden Aktion bis ins kleinste Detail auseinandergesetzt hatte - die Risiken hatte er nicht verschwiegen -, dann die weltmännische Art, mit der er Sergio, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, in diese Kammer verfrachtet hatte. Wie ein Stein war der Italiener in die Federn gefallen, und das 'in voller Montur'. Deshalb konnte er nun auch um so schneller zur Stelle sein, um seinem Gastgeber beizustehen.

Gesagt, getan. Sergio ging, noch etwas wackelig in den Knien, auf die Tür zu. Im Vorbeigehen fischte er noch die Pistole aus seiner Jackentasche. Ganz offensichtlich würde er die Waffe, die der Headhunter ihm gestern abend noch überlassen hatte, nun schon gebrauchen können. Langsam ging er auf die Tür zu. Was mochte ihn dahinter erwarten? Nach wie vor drangen Schreie in mehr oder minder regelmäßigen Abständen durch die dünne Holztür. Es waren Schmerzensschreie, gemischt mit Verzweiflung und nackter Todesangst. Zwischendurch, das konnte er jetzt deutlich heraushören, fand noch so etwas wie ein Dialog zwischen den beiden Kontrahenten statt. An einen Einbrecher vermochte Sergio mittlerweile nicht mehr so recht zu glauben, das Ganze erinnerte eher an die Geräuschkulisse bei einer Hinrichtung in einem dieser alten Mafia-Filme, wie sie im vorigen Jahrhundert gang und gäbe gewesen waren.

Mit der entsicherten Waffe in der Hand ging Sergio dicht an die Tür heran. "Was bin ich doch für ein Feigling", murmelte er und lehnte sich noch weiter vor, um besser verstehen zu können, was sich im Nebenzimmer abspielte.

"... flehe ich Sie an", war eine gebrochene Stimme zu hören, offensichtlich die desjenigen, der die vielen Schreie ausgestoßen hatte, "verschonen Sie mich!" Nein, das war nicht der Headhunter. Auch in der größten Not hätte dessen Stimme nicht so erbärmlich geklungen, da war sich Sergio jetzt ganz sicher. 'Nun, dann brauch' ich mich auch nicht einzumischen', sagte er sich und verharrte weiterhin auf seinem Horchposten.

Statt einer Antwort war ein dumpfes Plopp zu hören, unmittelbar gefolgt von einem weiteren gellenden Schrei. Jetzt erst wurde dem Lauschenden bewußt, daß er schon eine ganze Reihe solcher 'Plopps' gehört hatte, ohne allerdings auf sie zu achten. Was um Himmels willen stellte der Kopfgeldjäger mit diesem armen Menschen bloß an? Sollte es sich bei diesen so harmlos klingenden Geräuschen um schallgedämpfte Schüsse handeln?

Kaum daß die Schreie verebbt waren, setzten die flehenden Beschwörungen wieder ein. "Sie können alles von mir haben, ich kann Ihnen alles besorgen, was Sie haben wollen. Nennen Sie mir doch endlich Ihren Preis!"

Sergio Lampurtini verstand überhaupt nichts mehr. Um was wurde denn hier gefeilscht? Und wer war der Unbekannte, dem, wie er annahm, der Headhunter so sehr zusetzte? Jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Mit der Pistole in der rechten Hand öffnete er die Tür mit der linken, und was er nun sah, überstieg seine wüstesten Vorstellungen.

(Ende des 10. Teils)


*


Es sieht ganz so aus, als würde Mike Rosefield seine langgehegten Rachepläne gegen seinen Intimfeind nun endlich verwirklichen können - wenn ihm nicht einer der Beteiligten noch einen Strich durch die Rechnung macht. Und was wird aus Sergio Lampurtini, dem Quasi-Toten, für den es in dieser Welt längst keinen Platz mehr gibt?

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 11: Finale Schüsse


Erstveröffentlichung am 7. Februar 1997

12. Januar 2007