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PSYCHO/004: ... und tief ist sein Schein ( 4) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


In einem alten, halb verfallenen Schuppen eines längst aufgegebenen Schrebergartens direkt neben den Spülfeldern hatte Volker seine Ratten untergebracht. Wegen des penetranten Geruchs der Ablagerungen wurde das Gelände so gut wie nie von Fremden betreten und Volkers Geschwister respektierten ihn hier als uneingeschränkten Herrscher über mehrere Dutzend handzahmer Ratten.

Durch die kleine, halbblinde Glasscheibe neben der Tür drang fahles Tageslicht in den Raum, in dem dicke Rauschschwaden hingen. In der hintersten Ecke stand ein schiefer, mit geborstenen braunen Kacheln verkleideter Kohleherd, dessen offenkundig undichtes Abzugsrohr vor Hitze beinahe zu glühen schien.

Der widerwärtige Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte den kleinen Raum, doch viel unerträglicher als das waren die schrillen, nicht endenwollenden Todesschreie der Ratten. Volker hockte in seltsam starrer Haltung vor dem Ofen, auf dem ein großer schwarzer Topf stand, unter dessen Deckel sich immer wieder dicker grauer Qualm hervorzwängte.

Unerbittlich hob er die nächste Ratte aus ihrem Kasten, streichelte ihr noch einmal über das glänzende Fell, schaute in die besorgten, aber doch vertrauensvollen Knopfaugen, riß dann den Deckel vom Topf und warf das aufkreischende Tier hinein zu den anderen, unterdessen schwarz verkohlten Leibern ihrer Artgenossen. Ratten sind zäh und es erschien Volker jedesmal wie eine Ewigkeit, bis das herzzerreißende Schreien der gequälten Kreatur endlich verstummte. Dann wandte er sich um, holte den nächsten Kasten herbei und griff mit starren Fingern hinein. Er erlaubte sich nicht die geringste Unterbrechung bei seinem grauenvollen Werk, das mit jedem neuen Todeskampf die Grenze des Ertragbaren überschritt.

Als 34 Ratten auf diese Weise zu Tode gemartert worden waren, war schließlich nur noch die stummelschwänzige übrig. Mit zitternden Händen hob Volker sie aus ihrem Kasten, doch als er nach dem Topfdeckel griff, drehte sich ihm der Magen um und er stürzte aus der Tür, um sich zu übergeben. Diese Gelegenheit nutzte die letzte seiner Ratten zur Flucht. Er sah aus den Augenwinkeln, wie sie eilig im Dickicht verschwand.

Danach betrat Volker den Schuppen nicht mehr. Mit mechanischen Bewegungen riß er trockenes Schilfgras aus, schichtete es an der Wand des Holzschuppens auf und steckte ihn schließlich in Brand. Zusammen mit den Überresten seiner Tat verbrannte auch der gedemütigte, verletzbare und unverzeihlich schwache Volker Götting. Der Junge, der jetzt neben den hochschießenden Flammen stand, lächelte so unergründlich und heimtückisch wie die schwarzen Schlicklöcher auf den Spülfeldern und schlenderte, nachdem die Flammen nur noch verkohlte, qualmende Trümmer übriggelassen hatten, gleichmütig davon.

Am nächsten Tag erschien Volker wieder zum Unterricht. Als er in der Pause in einer Ecke des Schulhofs stand und düster vor sich hinstarrte, kam einer seiner größten Widersache mit seinem Gefolge spottlustig auf ihn zu.

"Na, hast du uns die frische Luft nicht länger gegönnt, Klobürste?" eröffnete dieser das vermeintliche Spiel. Seine Bewunderer standen grinsend neben ihm, flüsterten einander hämische Bemerkungen zu und stießen sich lachend in die Seiten. Statt wie ein in die Enge getriebenes Tier zurückzuweichen, blieb Volker diesmal völlig reglos stehen, was den anderen dazu bewog, breitbeinig und drohend auf den beinahe einen Kopf Kleineren zuzugehen. Doch Volker empfand keine Furcht mehr. In seinem Innern war nur noch ein eisiger, pechschwarzer Klumpen, der keine Farbe annahm. Als der andere Junge in Volkers flache, seltsam leblose schwarze Augen sah, wurde er unsicher. Doch weil er meinte, seinen Bewunderern den Spaß schuldig zu sein, wollte er die Sache zuende führen.

"Los, verzieh dich aufs Pissoir, wo du hingehörst, Zigeunerfurz", versetzte er mit leicht schwankender Stimme. Doch Volker rührte sich immer noch nicht. Da packte der Junge Volker mit beiden Händen an den schmalen Schultern, um ihn rücklings in eine Pfütze zu stoßen. Im selben Augenblick löste sich Volker aus seiner Erstarrung und zog blitzschnell seine Hand aus der Tasche. Er hatte auf den rechten Zeigefinger das spitze Plastikhütchen eines "Fang-den-Hut"-Spiels gesteckt. Mit unheimlicher Zielsicherheit stach er es dem anderen ins Auge.


*


Nichts von dem, was nun folgte, vermochte Volker in irgendeiner Weise zu berühren oder zu beunruhigen. Nach langem Hin und Her wurde er schließlich in ein Heim für verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche eingewiesen. Dort machte er bald nähere Bekanntschaft mit dem Hausmeister, den die Kinder wegen seiner abgrundtiefen Häßlichkeit nur Dämonenschmidt nannten.

Als Dämonenschmidt ihn zu seinem Lehrling machte, gab er ihm den Namen Merle.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 15. Januar 1997

18. Dezember 2006