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PSYCHO/011: ... und tief ist sein Schein (11) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Viola hatte beim Frühstück mit ihrer Mutter die Zeit verplaudert und hastete nun den Flur der Station entlang zum Labor. Schon von weitem sah sie die beiden hünenhaften Pfleger von Station E, die sich wie professionelle Türsteher vor dem Labor aufgebaut hatten.

"Ihr Versuchskaninchen ist schon drin", deutete der eine lässig mit dem Daumen hinter sich auf die Tür des Labors.

"Kaninchen ist gut", ereiferte sich der andere, "ich würde eher Giftschlange sagen."

"Das kannst du ihm ja selbst erzählen, wenn wir ihn zurückbringen", schlug sein Kollege mit einem bedeutsamen Blick in Violas Richtung vor.

"Ich bin doch nicht total plemplem", tippte sich der so Provozierte mit dem Finger an die Stirn.

"Nee, aber total abergläubisch", wurde er von seinem Kollegen belehrt. "Was ungefähr auf's gleiche rauskommt."

"Entschuldigen Sie", unterbrach Viola das Geplänkel, "aber ich muß jetzt wirklich anfangen." Sie drängte sich an den beiden vorbei und betrat mit betont energischen Schritten das Labor.

"Warum stampfen Sie so auf, haben Sie Angst?" fragte Merle, den die Pfleger bereits gewissenhaft auf dem Untersuchungsstuhl festgeschnallt hatte, mit seiner tonlosen Stimme. Viola war noch nie jemandem begegnet, der so wenig menschliche Wärme ausstrahlte wie der hagere, dunkelhäutige Mann. Der Blick, mit dem er sie aus undurchdringlichen Onyxaugen musterte, war ihr äußerst unangenehm. Obwohl er keineswegs als häßlich bezeichnet werden konnte, wirkte er doch so fremdartig, daß Viola sich zusammennehmen mußte, um sich nicht unwillkürlich abzuwenden.

"Ich werde jetzt einige Elektroden an ihrem Kopf befestigen", sagte sie so sachlich wie möglich. "Ich denke, Sie kennen die Prozedur."

"Ein so starkes Parfum paßt gar nicht zu Ihnen", sagte Merle, als Viola sich bemühte, die Elektroden zu befestigen, ohne daß ihre Finger ihre Nervosität verrieten. "So ein Duft ist zumindest ein ungewöhnliches Versteck."

Viola ließ eine Elektrode fallen, woraufhin Merle leise lachte. "Sie gefallen mir", sagte er. "Sie haben etwas zu verbergen. Und wer etwas zu verbergen hat, gehört nicht richtig dazu. Ein wenig so wie Merle, der gehört überhaupt nicht dazu."

"Lassen Sie mich einfach meine Arbeit machen, ich bin viel zu spät dran", erwiderte Viola verärgert darüber, daß sie sich von einem hilflos festgeschnallten Patienten hatte derart aus der Ruhe bringen lassen.

"Wie ich hörte, gefallen Sie auch Dr. Kalwin", fuhr Merle unbeirrt fort, als die Schreiber des Gerätes begannen, Kurven auf das Papier zu kritzeln.

"Was Sie so alles wissen", bemühte Viola sich um einen ironischen Tonfall. "Im übrigen sollten Sie nicht so viel sprechen, weil das die Aufzeichnungen beeinträchtigt."

"Was haben Sie gegen den guten Doktor?" fragte Merle unbeeindruckt weiter, als hätte sie ihm ihre Abneigung gegenüber Dr. Kalwin offenbart. "Er ist doch eine wirklich interessante Persönlichkeit. Und dabei so attraktiv." Beim letzten Satz verzog Merle das Gesicht zu einem furchterregenden Grinsen, das Viola glücklicherweise entging.

"Und was haben Sie gegen den Doktor?" fragte Viola zurück. "Ich habe gehört, daß Sie ihn verhexen wollten." Viola hoffte, auch bei ihm einen Punkt zu finden, an dem er angreifbar war, so daß die Auseinandersetzung etwas fairer wurde.

"Glauben Sie an Hexerei?" fragte Merle nun auch vollkommen ernst und Viola meinte schon, bei ihm den richtigen Nerv getroffen zu haben.

"Nein", erwiderte sie knapp.

"Ich auch nicht", lachte Merle meckernd.

"Und warum zeichnen Sie dann Pentagramme auf den Fußboden?" versuchte Viola, die von dem Vorfall gehört hatte, ihn in die Enge zu treiben.

"Wenn ich male, kann ich meinen Geist aus der Enge befreien. Und ich male Pentagramme für all die Leute, die an Magie glauben - und das sind tatsächlich die meisten -, damit sie mit etwas beschäftigt sind. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich Micky Mäuse male oder ägyptische Hieroglyphen. Dr. Kalwin krepiert auf jeden Fall. Aber ich will, daß alle wissen, Merle hat ihn getötet, wenn es soweit ist. Hätte ich Micky Mäuse gemalt, würde mir das keiner glauben. So ein dämliches Pentagramm ist da schon was anderes."

Viola hatte Schwarze Magie und ähnliche Praktiken stets als irrationale Äußerungen menschlicher Machtgier angesehen. Verbarg sich hinter dem Hokuspokus mit Zaubersprüchen und umgekehrten Kreuzen doch ein Wissen, das man tatsächlich fürchten mußte? Ihre Neugier war größer als ihre Vernunft, die ihr riet, zu diesem Patienten größtmögliche Distanz zu wahren.

"Wenn es ganz gleich ist, was Sie malen, wie können Sie dann sicher sein, daß ausgerechnet Dr. Kalwin davon betroffen sein wird?"

Merle sah sie eindringlich an, und sein Blick war Viola so unheimlich, daß sie ihre Neugier sofort bereute. Dann aber sagte er so sachlich, als wäre es eine nüchterne Wissenschaft, über die er sprach:

"Sie haben nur gelernt, kausal zu denken. Man betätigt hier einen Schalter, und dort blinkt ein Lämpchen auf. Nur die wenigsten begreifen, daß das Leben keine Schaltkonsole ist. Macht bedeutet nicht zwangsläufig, daß man Kräfte wie Supermann entfaltet, sondern möglicherweise auch, daß sich einem nichts in den Weg stellt bei der Verfolgung der eigenen Absichten."

Viola war nicht nur über den Inhalt dieser Aussage erstaunt, sondern auch über sich selbst. Wie kam sie dazu, mit einem Patienten, der ihr nicht nur fremd, sondern auch noch zutiefst unsympathisch war, über derart grundsätzlich Dinge zu sprechen? Wahrscheinlich, weil sonst niemand mit ihr über solche Dinge sprach. Sie wußte, daß es nicht nur in Dr. Kalwins Augen ein Fehler war, aber sie mußte Merle trotzdem fragen:

"Weshalb können Sie mir dies alles erzählen. Haben Sie nicht so eine Art Ehrenkodex, der Ihnen verbietet, Geheimnisse auszuplaudern?"

Merle lachte amüsiert. "Ich haben keine Geheimnisse. Von mir aus können Sie bis auf den Grund meiner Seele blicken, wenn ich denn eine hätte. Die Frage ist nur, ob Sie das ertragen."

Viola kannte die Antwort bereits, ohne darüber nachzudenken. Um Zeit zu gewinnen, markierte sie auf dem Papier des Kurvenschreibers die Stellen, an denen Merle gesprochen hatte.

"Vielleicht sollten Sie lieber darauf achten, daß niemand hinter Ihr Geheimnis kommt", fuhr Merle nach kurzem Schweigen fort."

"Welches Geheimnis?" entfuhr es Viola heftiger, als beabsichtigt.

"Daß Sie nicht richtig dazugehören", erklärte Merle. "Sie gehören nirgends richtig dazu. Das ist gefährlicher, als auf einer Seite zu stehen. Für mich allerdings sind Sie ein Glücksfall, denn gerade weil Sie so sind, können Sie mir helfen.

"Ich wüßte wirklich nicht, wobei", tat Viola, die sich von seiner Warnung irgendwie betroffen fühlte, scheinbar gleichmütig ab.

Dr. Kalwin zu töten, dachte Merle und grinste Viola diesmal unverhohlen an, so daß sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 3. Mai 1997

15. Januar 2007